Ein theoretischer Integrationsversuch
(29 Dezember 1996)
Einleitung
Das Gemeinsame an Dorfsiedlungen,
Cocktail-Parties, Parteiversammlungen, Massendemonstrationen,
Militärgarnisonen, Familienhaushalten, Erziehungsheimen,
Betriebsorganisationen, Verwandtschaftstreffen und wissenschaftlichen
Kongressen besteht darin, dass mehrere Individuen für kürzere oder längere
Zeit im selben Raumabschnitt zusammenrücken, so dass sie in der Lage sind,
als Quellen physischer Bewirkungen, als Objekte sinnlicher Wahrnehmung sowie
als Kommunikations- und Interaktionspartner miteinander in (objektiv-kausale
und symbolisch-sinnhafte) Beziehungen zu treten.
Unter "kollokaler
Sozialität" kann die Gesamtheit aller - offensichtlich weit über das
Feld elementarer Interaktion oder primärer Gruppenkontakte hinausreichenden
- sozialen Verhältnisse verstanden werden, die auf der objektiven
Randbedingung einer simultanen körperlichen Anwesenheit mehrerer
menschlicher Personen am selben Ort beruhen: wobei unter "Ort" ein
homogener Ausschnitt aus dem Raumkontinuum verstanden werden kann, der dank
geringer Ausdehnung und dank des Fehlens physischer Hindernisse (Wände,
allzu hoher Lärmpegel u. a.) für eine wechselseitige Wahrnehmung dieser
Ko-Präsenz sowie für verschiedenste Prozesse interpersonellen Beobachtens,
Einwirkens, Kooperierens und Kommunizierens keine Widerstände bietet.
Ähnlich wie mit
dem Konzept der "Mitgliederzahl" (vgl. Geser 1980) oder des
"Entstehungszeitpunkts" ist mit dem Begriff der "Kollokalität" eine zwar
einerseits äusserst objektive, in ihrer kausalen Wirkung aber vielfältige
und diffus-unbestimmte infrastrukturelle Randbedingung sozialer
Interaktionsprozesse und sozialer Systembildung angesprochen. Denn es ist
leicht einzusehen, dass gerade in modernen, urbanen Gesellschaften engste
räumliche Nähe mit immenser sozialer Distanz (bzw. psychologischer
Indifferenz) einhergehen kann, während intensivste persönliche Beziehungen
über weiteste Entfernungen hin aufrechterhalten werden (vgl. Simmel 1908:
480).
So kann eine
angezielte "Theorie kollokaler Sozialbeziehungen und Systembildungen"
nur auf jener überaus hohen Abstraktionslage angesiedelt werden, von der aus
es ihr gelingt, den vielfältigen Formen und Zwecken der auf dieser
gemeinsamen Basis errichteten Sozialverhältnisse Rechnung zu tragen und das
gemeinsame Allgemeine zu formulieren, das beispielsweise eine Begegnung im
Eisenbahnabteil mit der Sitzung eines Regierungskabinetts oder ein
Forschungskolloquium mit einer Massendemonstration verbindet.
Dieses
Gemeinsame mag am besten bei einer Gegenüberstellung mit zwei andern
Ausprägungen menschlicher Sozialität sichtbar werden:
1) "Alokale Sozialität" umfasst den grossen Bereich
völlig unräumlicher Sozialverhältnisse, die dank ihrer Fundierung in der
psychischen und/oder kulturellen Sphäre unabhängig von Interaktionsprozessen
bestehen und deshalb auch gegenüber räumlichen Distanzen der Teilnehmer (und
der zeitlichen Variabilität solcher Distanzen) völlig unempfindlich sind.
Kirchen und Verwandtschaftsnetze, ethnische Gruppen und Berufsprofessionen,
Sozialbewegungen und politische Parteien haben miteinander gemeinsam, dass
sie mit einer beliebigen räumlichen Dispersion ihrer Teilnehmer kompatibel
sind: auch wenn es in den meisten dieser Gebilde (zumindest temporäre)
kollokale Kernstrukturen (z.B. Führungsgremien, gesellige Zusammenkünfte,
Mitgliederversammlungen, Verwaltungsbetriebe u. a.) gibt, die dem Kollektiv
einerseits zu organisierter Handlungsfähigkeit und andererseits zu einer
sinnlich wahrnehmbaren Selbstdarstellung verhelfen. Hier stellt sich
insbesondere die Frage nach den Integrationsmedien, die als funktionale
Äquivalente für interpersonelle Interaktion derartigen sozialen
Verhältnissen Zusammenhalt und Dauer verleihen, sowie die Frage nach den
Entstehungsbedingungen, Funktionen und Konsequenzen sozialer Systembildungen,
die ihren Teilnehmern weder räumliche Anwesenheits- noch zeitliche
Akkordierungszwänge auferlegen.
2) "Translokale Sozialität" umfasst die in traditionalen
Gesellschaften relativ geringe, dank modernerer Kommunikationstechnologien
und den zunehmenden Fernwirkungen menschlichen Handelns aber neuerdings
stark angewachsene Sphäre von Interaktionen, die sich zwischen räumlich
entfernten Individuen vollziehen. Dazu gehören einerseits kommunikative
Beziehungen, die mittels Briefpost, Telephon, Computernetzwerken oder
irgendwelchen andern technischen Medien ermöglicht werden; und andererseits
raumübergreifende Wechselwirkungen physischer Art, die aus dem Transport von
Gütern, Fernlenkwaffen, Luftschadstoffen u. a. m. entstehen. Im
Unterschied zu alokalen Verhältnissen konstituieren sie sich durchaus als
Prozesse, die ihre Teilnehmer zumindest noch in der Zeitdimension an gewisse
(allerdings meist gelockerte) Synchronisations- und Koordinationszwänge
binden. Im Vergleich zu kollokalen Verhältnissen hingegen
fällt auf, dass für die Übermittlung von Informationen meist nur ein
einziger Transmissionskanal mit begrenzter "Bandbreite" und hoher
Selektivität (z.B. nur Schrift, nur akustische Wahrnehmung etc.) zur
Verfügung steht, und dass zwischen den Teilnehmern höchstens stark verdünnte
(im Falle von konventionellen Massenmedien sogar überhaupt keine)
Rückkoppelungen bestehen.
Während eine
Theorie alokaler und translokaler Sozialität beim aktuellen Stand der
Forschung nicht einmal in groben Umrissen erkennbar ist, können für ein
vertieftes Verständnis von Kollokalität mannigfache theoretische
Argumentationen und empirische Befunde herangezogen werden, die sich über
ein erstaunliches Spektrum historischer Zeitepochen und methodologischer
Provenzienz erstrecken. Georg Simmels pionierhafte Tiefblicke in die
Wirkungen räumlicher Nähe und die Gesetzlichkeiten sinnlicher
interpersoneller Wahrnehmung (Simmel 1908: 479ff.)), G.H. Meads
genetische Theorie symbolischer Bedeutungen aus "vokalen Gesten" (Mead
1934), die theoretisch zentrale Differenzierung zwischen "umweltlichen" und
"mitweltlichen" intersubjektiven Verhältnissen im Werke Alfred Schützs
(Schütz 1974: 227ff.), Merleau-Pontys innovative Weiterungen
phänomenologischer Analyse auf die Sphäre der "Zwischenleiblichkeit" ( vgl.
Merleau-Ponty 1976); und schliesslich Erving Goffmans tiefdringende
Beobachtungen über elementares Sozialverhalten (z.B. Goffman, 1971: passim)
oder Luhmanns ambitiöser Theorieversuch über einfachste
Sozialsysteme (Luhmann, 1972: 51ff.) - damit sind nur einige wenige Beiträge
angesprochen, die - ungeachtet ihrer höchst unterschiedlichen
epistemologischen und methodologischen Einbettung - als komplementäre
Bausteine zu einem einheitlichen Theorieprojekt verstanden werden können.
Sicher müssen
auch zahllose Beiträge aus der sozialpsychologischen Experimentalforschung
hinzugerechnet werden, in denen irgendwelche Effekte physischer Anwesenheit
oder räumlicher Nähe zu den manipulierten Untersuchungsbedingungen oder den
ermittelten Wirkungen gehören (vgl. z.B. Latané/Darley 1970; Sheleff 1978;
Milgram 1974; Argyle/Dean 1965 usw.).
Im folgenden
wird versucht, von der soliden Sprungbasis bisheriger Vorarbeiten aus einen
grösseren Schritt in Richtung auf eine derart generalisierte Theorie
kollokaler Sozialität zu wagen und daraus (ex negativo) auch korrelative
Einsichten in die Natur raumübergreifender (=translokaler) oder
raumunabhängiger (=alokaler) Sozialbeziehungen zu gewinnen. Es soll im Laufe
der Ausführungen plausibel werden, dass soziale Phänomene auf allen
Aggregationsebenen und in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern und
Institutionen nutzbringend unter der Perspektive analysiert werden können,
wie (und warum) sich bei ihnen kollokale, alokale und translokale
Komponenten der Sozialität unterschiedlich (und im Zeitablauf variierend)
miteinander verbinden.
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