UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 



FÜNFTES KAPITEL:

PRINZIPIEN DER STRUKTURBILDUNG UND SOZIALEN GESAMTORDNUNG KOLLOKALER SYSTEME


5.3 Soziofugale Strategien

Grundsätzlich können kollokale Interaktionspartner drei konzentrische Sphären von Regelungsmechanismen aufbauen, um sich gegen wechselseitige Störeinwirkungen zu sichern:

  1. An der "äussersten Front" können präventive Mechanismen dafür sorgen, dass derartige Ereignisse überhaupt nicht entstehen: indem es den Partnern durch Aufrechterhaltung maximaler Raumdistanzen, durch Aufbau physischer Wahrnehmungsschranken oder Restringierung ihrer Verhaltenskundgaben gelingt, die Interdependenzdichte ihres Sozialfeldes zu reduzieren.
  2. Haben diese peripheren Vermeidungsmechanismen versagt, so können in einer mittleren Sphäre reaktive Schutzmechanismen aktiviert werden, um den angerichteten Schaden zu begrenzen: z.B. indem ALTER den unabsichtlichen schmerzhaften Ellbogenstoss EGO's taktvoll ignoriert oder auf seine im Zorn hingeworfenen Beleidigungen lieber in einer späteren brieflichen Stellungnahme antwortet, als durch eine momentane Wutreaktion zur Konflikteskalation beizutragen.
  3. Wenn weder präventive noch reaktive Absorptionsfilter wirksam sind, fällt den korrektiven Mechanismen die Aufgabe zu, das Gleichgewicht zu restituieren. Während für die Reparatur alltäglicher kleinerer Schadensfälle standardisierte zeremonielle Verhaltensroutinen (z.B. Entschuldigungsrituale) zur Verfügung stehen (vgl. Goffman 1974: 138ff.), so müssen sich die Partner in komplexeren, singuläreren Fällen zu langwierigen und risikoreichen Verhandlungs- und Versöhnungsprozessen bereitfinden, die oft sogar eine Intervention Dritter (als Vermittler, Schlichter, Richter u.a.) notwendig machen.
Die unter dem von Osmond (1957) geprägten Begriff der "Soziofugalität" zusammengefassten Mechanismen haben nun die Eigenart, dass sie an der äussersten Peripherie des ersten, präventiven Absorptionsgürtels angesiedelt sind, weil ihre Funktion darin besteht, das Problem kollokaler Interdependenzen an seiner Wurzel zu erfassen, an der Verteilung physischer Körper im physikalischen Raum.

Dabei geht es darum, die wechselseitigen Einwirkungs-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsmöglichkeiten räumlich benachbarter Personen zu reduzieren, indem sie auf maximal mögliche Weise auseinanderrücken, diszipliniert innerhalb der ihr zur exklusiven Nutzung überlassenen "Nische" verbleiben und sich durch allerhand Körpermanipulationen (z.B. Abwendung der Blickrichtung) und physische Vorrichtungen (Türen, Wände u.a.) vor unerwünschten Emissionen und Immissionen schützen.

Dadurch soll das doppelte Ziel erreicht werden

  1. Jedem Individuum einen Spielraum zur unbehelligten Verfolgung seiner eigenen Intentionen und Verhaltensstrategien zuzugestehen, ohne einerseits eine soziale Koordination derartiger Strategien notwendig zu machen und ohne andererseits den Zustand der Kollokalität aufgeben zu müssen;
  2. den Einsatz anspruchsvollerer Verarbeitungsmechanismen reaktiver oder gar korrektiver Art überflüssig zu machen, die im Vergleich zu präventiven Strategien einen höheren Umfang an Verhaltensdisziplin, Kommunikation, Konsensfindung und normativer Integration erfordern.
Im diametralen Gegensatz etwa zu produktiven Arbeitsgruppen oder Betriebsorganisationen können soziofugale Ordnungen als Sozialsysteme beschrieben werden, die der laufenden Erzeugung von Nichtereignissen dienen, die sich von der rein physikalischen Nichtkollision (z.B. im Strassenverkehr) über Unterbleibungen sensorischer Art (Nichtwahrnehmung) bis zu sozialen Unterlassungshandlungen (z.B. Nichtkommunikationen in Lesesälen) oder sozialen Beziehungsvermeidungen (z.B. bei Bewohnern moderner Wohnblocks) erstrecken.

Während positive Ereignisse normalerweise nur erfolgen, wenn mehrere Konstitutionsfaktoren in geordneter Komplementarität zusammenwirken, so ist es für Nichtereignisse charakteristisch, dass sie sich durch eine Vielzahl funktional äquivalenter Strategien auf identische Weise erzeugen lassen (vgl. Geser 1986b: 656ff.). Es gibt verschiedenste Richtungen, um der Kollision mit ALTER auszuweichen oder den Blick von ihm abzuwenden: aber nur eine bestimmte Richtung, um auf ihn aufzutreffen oder seinen Blick zu erhaschen.

Aus diesem Grunde vermögen soziofugale Ordnungen mit einem sehr geringen Einsatz an Kommunikation, Koordination, Führung, Organisation (und andern Mechanismen der Verhaltenssteuerung) auszukommen. Diese Voraussetzungslosigkeit - in struktureller und prozessualer Hinsicht - macht sie dazu geeignet, unter verschiedensten Bedingungen ökologischer und sozio-kultureller Art zu entstehen und zu überleben und die fundamentalste, universellste und resistenteste Ebene interpersoneller Systembildung zu sein, von der vielleicht alle anspruchsvolleren Sozialordnungen ihren Ausgang nehmen.

Ihre konstituierenden Wurzeln liegen in äusserst verlässlichen individuellen Verhaltensdispositionen, die möglicherweise genetisch mitgestützt sind, mindestens aber innerhalb spezifischer kultureller Traditionen derart rigoros habitualisiert sind, dass sie sich der bewussten Reflexion und intentionalen Modifikation der Akteuren weitgehend entziehen.

Dazu gehört insbesondere die Neigung menschlicher Individuen, als Hülle um ihren Körper einen zwar sehr elastischen, aber sich immer wieder neu regenerierenden "persönlichen Raum" mit sich herumzutragen.

Seine Funktion besteht darin, im kollokalen Interaktionsfeld

  • gewisse Minimaldistanzen zu wahren, um bei privaten Aktivitäten unbeobachtet und ungestört zu bleiben;
  • durch geeignete Körperstellung und Blickrichtung sich einen maximalen Überblick zu wahren, sich vor "Überraschungsangriffen" zu schützen und Möglichkeiten der Verteidigung oder der Flucht offenzuhalten (vgl. Goffman 1974: 318ff.).
Aus den reichhaltigen Experimental- und Naturalstudien über "proxemic behavior" darf man den Schluss ziehen, dass die an zuverlässigen Invarianzen nicht eben reich gesegnete Sozialwissenschaft sich hier an einige gesetzmässige Regularitäten halten kann, die zumindest innerhalb spezifischer Geschlechts- oder Kulturgruppen recht universelle Geltung haben.

Dazu gehört beispielsweise die Beobachtung, dass Männer sich einer sie überholenden Person eher frontal zuwenden, Frauen hingegen eher dorsal abzuwenden pflegen: völlig unabhängig davon, welcher Geschlechts- oder Alterskategorie diese zweite Person angehört (Collet/Marsh 1981).

Man muss annehmen, dass derartige Rückgriffe auf atavistische geschlechtsspezifische Verhaltensreflexe vor allem in jenen Situationen erfolgen, wo es - wie z.B. bei Ausweichmanövern auf der Strasse - notwendig ist, jederzeit eine routinehafte Vermeidungsreaktion abrufbereit zu haben, die unabhängig von aktuellen Stimmungslagen und Situationsbedingungen widerstandslos aktualisiert werden kann, ohne den dominanten Fluss bewussten Erlebens und Handelns zu unterbrechen.

Die kulturelle Mitformung soziofugalen Elementarverhaltens wird beispielsweise in der Vergleichsuntersuchung von Watson/Graves über das unterschiedliche Gesprächsverhalten amerikanischer und arabischer Studenten deutlich, wo sich zeigt, dass die Amerikaner

  • einander weniger häufig fazial gegenüberstehen
  • grössere Körperdistanzen einhalten,
  • Körperberührungen, direkte Blicke und laute Stimmführung in höherem Masse vermeiden (Watson/Graves 1966).
Dieser Befund ist mit der geläufigen theoretischen Vorstellung kompatibel, dass Individuen des okzidentalen Kulturraums generell (und also auch in allen kollokalen Interaktionen) höhere Ansprüche auf personale Autonomie verteidigen und reziprok auch ihren Partnern umfangreichere persönliche Entfaltungsspielräume zugestehen.

Möglicherweise sind Individuen moderner Gesellschaften auch aus folgenden Gründen immer weniger dazu disponiert, sich dem diffusen, unkontrollierbaren Einflussfeld kollokaler Interaktion zu unterwerfen:

  1. weil sie sich sowohl in der urbanen Öffentlichkeit wie auch innerhalb der Institutionen permanent mit wechselnden, ihnen unbekannten Kollokalpartnern konfrontiert sehen: so dass sie selbst ein Minimum an Handlungsautonomie nur dadurch aufrechterhalten können, wenn sie sich gegenüber solchen Kontaktchancen äusserst selektiv verhalten und in jedem Interaktionskreis für "freie Valenzen" und reversible Rückzugsmöglichkeiten sorgen;
  2. weil sie in ihren häufigen Interaktionen translokaler Art (z.B. via Telephon) daraufhin sozialisiert werden, nur mit einem selektiven, abgespaltenen, gut kontrollierbaren Teil ihrer Gesamtpersönlichkeit ins soziale Kommunikationsverhältnis einzutreten, ohne dabei permanent in jeder Hinsicht beobachtet und beurteilt zu werden.
Umgekehrt eröffnet eine derartige Stabilisierung relativ umfangreicher "Normaldistanzen" gerade die Möglichkeit, ihr Unterschreiten mit ausgeprägtem symbolischen Bedeutungsinhalt zu belegen: z.B. Körperkontakte zu Ausdruckskundgaben der Intimität oder sexuellen Begehrens zu stilisieren, oder aggressive Drohungen in die vergleichsweise harmlose Form fazialer Blickkonfrontationen zu kleiden.

Weil soziofugale Vehaltensrelationen offensichtlich fast voraussetzungslos überall und jederzeit praktizierbar sind, ist zum vornherein nicht damit zu rechnen, dass die Beteiligten auf besonders differenzierte oder sogar individualisierte Weise aufeinander Bezug zu nehmen pflegen.

Tatsächlich stellt man fest, dass sie einander primär nicht als Personen mit spezifischen Körperattributen, Motiven und Fähigkeiten, sondern als anonyme, auswechselbare "non-persons" (Sommer 1967) thematisch werden: als auswechselbare Exponenten ihrer Spezies, die auf jeden Fall (selbst im Zustand der Ohnmacht oder des Todes) über einen physikalischen Körper, zumeist aber auch über ein identisches Normalrepertoire physiologischer Funktionsabläufe und senso-motorischer Reaktionsfähigkeiten verfügen.

Und schliesslich trägt die soziofugale Bezugnahme ja gerade dazu bei, die Referenzbeziehung auf solch generalisierter Ebene zu stabilisieren: weil sie zum Unterlassen jener spezifischeren Wahrnehmungen und Kommunikationen führt, die zur Differenzierung und Personalisierung des Sozialverhältnisses notwendig wären.

So lässt sich in idealtypischen Soziofugalordnungen eine primordiale Indifferenz gegenüber personellen Differenzierungen jeglicher Art (selbst solchen der Rasse, des Alters und Geschlechts) konstatieren, die jener Nivellierung eigenartig nahe kommt, wie man sie umgekehrt in völlig soziopetalen Ordnungen (z.B. totalen Institutionen oder totalitären Herrschaftssystemen) findet (vgl. Goffman 1973 passim, Geser 1983: 90ff.). Diese aus entgegengesetzten Ursachen entstehende Egalisierung kann leicht als Folge jener Desensibilisierungs- und Disziplinierungszwänge verstanden werden, die sich bei unausweichlichem, kontinuierlichem Zusammensein in gemeinsamen öffentlichen Räumen unweigerlich ergeben (vgl. 5.4/5.5).

Nur innerhalb des - allerdings sehr weitgespannten - Spektrums mittlerer interpersoneller Distanzen scheinen die Entfaltungsbedingungen für hoch individualisierte Sozialbeziehungen optimal: etwa für jene Freundschaften, die nach Simmel zumeist "in ihre Nähe irgendeine Distanzierung verflechten" (Simmel 1908a:483).

Charakteristisch für all diese mittleren Verhältnisse ist nun aber, dass generalisierend/anonymisierende Soziofugalkräfte und spezifizierend/individualisierende Soziopetalkräfte auf komplexe, oft spannungsvolle Weise interferieren und ständig zu einem Ausgleich gebracht werden müssen.

Annäherung an einen Menschen kann das Doppelte heissen: ihm in seiner generellen Eigenschaft als Person sein Recht auf "persönlichen Raum" und autonome Selbstentfaltung zu versagen, und: ihm als meinem speziellen Interaktionsadressaten Kommunikationsabsichten, Sympathie, Hilfsbereitschaft u.a. auszudrücken.

Und analog dazu hat Distanznahme die ambivalente Funktion: die unter beliebigen Anwesenden geltenden Regeln der Unaufdringlichkeit, Zurückhaltung und Nichtinterferenz zu praktizieren und: genau dieser partikulären Person mitzuteilen, dass ich nichts von ihr will.

Dies ist der Grund, warum soziale Kompressionsprozesse, wie sie sich z.B. zwischen Unbekannten in sich füllenden öffentlichen Verkehrsmitteln vollziehen, durchaus spannungsfrei und kontinuierlich ablaufen können, während in sich leerenden Verkehrsmitteln keine dazu symmetrischen "Expansionsprozesse" erfolgen, weil Distanznahmen mit der eben genannten Doppelkonnotation belastet sind, da die benachbarten Passagiere bereits spezifische Eindrücke und Urteile übereinander gebildet haben:

"...in dem Masse, in dem sich der Fahrstuhl leert, stellt sich deshalb ein Gefühl des Unbehagens bei den Mitfahrenden ein, da sie von zwei einander widerstrebenden Neigungen erfasst sind - nämlich maximale Entfernung von anderen einzuhalten und gleichzeitig sich nicht wie jemand zu verhalten, der andere meidet, was Anstoss erregen könnte." (Goffman 1971: 59).

Der anonyme, undifferenzierte Charakter soziofugaler Verhaltensweisen wird dort überdeutlich, wo sie sich gar nicht auf einzelne Personen, sondern auf soziale Gruppen beziehen.

Generell zeigen Individuen grosse Hemmungen, physisch in ein bereits etabliertes kollokales Sozialsystem einzudringen, und messbare physiologisch-psychische Erregungen sowie verschiedenste agonistische Verhaltensweisen (Senken des Kopfs, Schliessen der Augen, Verkrampfung der Mundregion) sind die Folge, wenn sie gezwungen werden, das Blickfeld interagierender Drittpersonen zu durchkreuzen (Efran/Cheyne 1973;1974; Cheyne/Efran 1972).

Analoge Erscheinungen bei verschiedenen Säugetiergesellschaften (insb. Primaten) legen es nahe, auch in diesem Fall an eine biologisch mitfundierte Reflexreaktion zu denken (vgl. z.B. Andrew 1963, Christian 1963; Vine 1970).

Beim Menschen hat sie offensichtlich die Funktion, kollokale Interaktionssysteme durch räumliche Insulierung stärker aus ihrem Umfeld auszudifferenzieren und ihnen zu einem höheren Autonomiespielraum zu verhelfen, den sie nicht mit eigenen Mitteln herzustellen und zu verteidigen brauchen. Kollokale Partner können einander ungeteilter ihre Aufmerksamkeit zuwenden und sich kompromissloser den endogenen Einfluss- und Kommunikationsprozessen ihres gemeinsamen Feldes überlassen, wenn sie nicht andauernd mit externen Penetrationen zu rechnen haben.

Im Unterschied zu allen Tiergesellschaften ist für die Sozialsphäre des Menschen aber charakteristisch, dass die soziofugalen Ordnungen die Reichweite biologisch fundierten und selbst traditionell-habitualisierten Distanzierungs- und Vermeidungsverhaltens weit transzendieren. Sie umfassen nämlich auch Systembildungen, die auf expliziten, konventionell definierten und intentional modifizierbaren Erwartungen und Normen gegründet sind und die deshalb sowohl im Zeitablauf wie auch über verschiedenste soziale Gruppen und Institutionen hinweg auf einem breiten Formenspektrum variieren.

Wenn sich Eisenbahnpassagiere, Restaurantgäste, Vorlesungshörer, Kinozuschauer oder Museumsbesucher unter Wahrung maximal möglicher Distanzen im verfügbaren Raum verteilen (vgl. z.B. Sommer 1967), so ist die daraus entstehende Sozialordnung auf zwei durchaus "kontingente", der expliziten Festlegung und Umgestaltung zugängliche, Strukturierungselemente gegründet:

1) Auf die physische Strukturierung des Raumes in Tische, Sitzplätze, Abteils, Logen etc., in der generalisierte Erwartungen festgefroren sind, dass die - unvorhersehbar wechselnden - Benutzer im Normalfall derart ausdifferenzierte Reservate für sich wünschen, wieviel Platz sie benötigen, welche Platzanordnungen (seitlich, frontal u.a.) bevorzugt werden und vor allem auch: wie häufig "Miteinanders" bestimmter Grösse vorkommen, die intern soziopetal interagieren, nach aussen hin aber umso deutlichere Distanzierungsbedürfnisse artikulieren.

Dazu gehört auch die Normerwartung, dass Personen höherer gesellschaftlicher Statusränge umfangreichere Reservate zu beanspruchen pflegen, bzw. bereit sind, grössere (bzw. ungestörtere) Nutzungsterritorien finanziell höher zu honorieren (Goffman 1974: 70f.).

2) Auf generalisierte internale Erwartungshaltungen und Verhaltensnormen der beteiligten Akteuren, zu denen einerseits selbstreferentielle Attributionen ("ich möchte meine Ruhe haben") und andererseits fremdreferentielle Zuschreibungen ("jeder möchte im allgemeinen ungestört sein") gehören.

Soziofugale Ordnungen sind insofern selbststabilisierend, als auch völlig verfehlte Fremderwartungen hinreichend sein können, um sie nicht nur entstehen, sondern auch ad infinitum andauern zu lassen. Denn wenn jeder liebend gern interagieren möchte, aber fälschlicherweise davon ausgeht, dass alle andern ungestört sein möchten, werden jene Minimalkommunikationen nie stattfinden, die zur Aufklärung solcher Missverständnisse unerlässlich wären.

Die immense Bedeutung materialisierter Nutzungsreservate ("boxes") wie z.B. Strandkörbe, Theaterlogen, Hotelzimmer, Privatwohnungen liegt eben darin, dass in ihrer Anzahl, Grösse und Form die Ergebnisse jener Kommunikationsprozesse vorweggenommen sind, die unter soziofugalen Bedingungen derart schlecht geleistet werden können.

Und häufig genug stabilisieren sie jenen Zustand der Vereinzelung, der es verunmöglicht, sich in gemeinsamer Kommunikation sich über die Adäquanz oder Verfehltheit genau dieser Boxstrukturen klarzuwerden und mit kollektivem Handeln auf deren Modifikation hinzuwirken.

Ebenso setzen die "Boxes" jedem Versuch, ad hoc eine den aktuellen Bedürfnissen entsprechende Neuallokation von Nutzungsräumen festzulegen, die unerbittliche, oft nur durch Baggermaschinen oder Sprengstoff überwindbare Resistenz ihrer physischen Bausubstanz entgegen; und sie zwingen alle Beteiligten, sich den in ihre Konstruktion eingeflossenen Standarderwartungen zu unterwerfen und vielleicht längst überwundene, in Form von "Königslogen", "Fürstensuiten" oder feudalen Villen immer noch in die Gegenwart hineinragende Statusdifferenzierungen zu reproduzieren.

Diesen Restriktionen stehen andererseits die unschätzbaren Vorteile gegenüber, dass es mit Hilfe physischer "Boxes" möglich wird, räumliche Nutzungsrechte

  1. in präzis bemessbaren Quanten
  2. mit minimalen Investitionen an Kommunikation- und Aushandlungsprozessen
  3. praktisch ohne Risiken von Dissens und Konflikt
unter (beliebig wechselnden) Individuen zu verteilen, und dass es durch geeignete Markierungen (z.B. das Liegenlassen persönlicher Gegenstände) leicht möglich ist, Nutzungsansprüche auch über Perioden der Abwesenheit oder Phasen zeitweiliger Fremdbenutzung hinweg zu stabilisieren (vgl. Goffman 1974: 54ff.)
 

So kommt den Boxen die Funktion von "Katalysatoren" zu, die zu beliebigen Zeitpunkten, und unter verschiedensten Situationsbedingungen wirksam sind, um Einzelpersonen oder kleinere Kollokalgruppen relativ scharf aus ihrem sozialen Umfeld auszudifferenzieren (ohne sich selbst dabei in geringster Weise zu verändern).

Würde man sich all diese physisch fundierten Raumstrukturierungen wegdenken, könnten soziofugale Systeme - vor allem natürlich bei überhängender Nutzungsnachfrage - praktisch nur auf dem Umweg über höherstufige, soziopetale Interaktions- und Kommunikationsprozesse entstehen: wie z.B. im Falle von Staaten, die oft genug nur über verlustreiche Kriege zum friedlichen territorialen Modus Vivendi gelangen: oder bei Stehplatzpassagieren überfüllter öffentlicher Verkehrsmittel, die mit einschüchternden Gebärden und unter Einsatz von Ellbogen und Handtaschen um einen minimalen Bewegungsspielraum ringen.

Die wohl konsequenteste Entfaltung soziofugaler Regulationsmechanismen lässt sich bei den sog. "Verkehrsordnungen" finden, die einerseits - z.B. beim gewöhnlichen Fussgängerverkehr - ebenfalls auf äusserst habitualisierten und unmanipulierbaren Verhaltensroutinen beruhen, andererseits aber auch - wie z.B. im Rahmen von Strassen- oder Flugverkehrsgesetzen - ein unüberbietbares Maximum an normativer Explizität und intentionaler Gestaltbarkeit erreichen.

Zu den urtümlichsten und ausweichlichsten Umweltbedingungen aller mit der Fähigkeit zur Lokomotion begabter Lebewesen gehört es, dass sie in ihrer räumlichen Fortbewegung durch andere, in Ruhe oder eigener Bewegung befindliche Organismen sehr wohl behindert, kaum je aber gefördert werden können: eine Asymmetrie, die wie keine andere dazu anleitet, das soziale Umfeld einseitig negativ als Quelle von Beschränkungen und Risiken (anstatt positiv als ein Raum von Entfaltungschancen) zu erfahren.

Der daraus entstehende "Sozialisierungsdruck" ist im doppelten Sinne äusserst universal:

1) Das gemeinsame Ziel aller Individuen, ihre Fortbewegung mit einem Minimum an Restriktionen und Kollisionsrisiken vollziehen zu können, stellt eine Aufgabe dar, für die es - angesichts der Härte und Invarianz geometrisch-physikalischer Gesetzmässigkeiten - nur eine begrenzte Zahl erfolgreicher Lösungsmöglichkeiten geben kann.

Völlig ungeachtet der geographischen Zielpunkte und der inhaltlichen Motive und Zwecke ihrer eigenen Reiseabsichten sind alle "Verkehrseinheiten" einerseits selber daran interessiert, unbehelligt ihren Weg zu verfolgen und setzen andererseits ohne weiteres voraus, dass andere Teilnehmer dasselbe Interesse haben.

Angesichts der Zweifelsfreiheit attribuierter Selbsterwartungen, Fremderwartungen und reziproker Erwartungserwartungen bestehen günstige Voraussetzungen dafür, dass sich Verkehrsteilnehmer selbst ohne externe, autoritative Regeloktroyationen den Hobbes'schen Urzustand des "homo homini lupus" überwinden und sich auf ein System von Verhaltensnormen einigen, das den rein physikalisch bedingten Risiken der Zeitverzögerung, Kollision, Körperverletzung u.a. genügend Rechnung trägt.

So haben sich über verschiedenste menschliche Gruppen, Gesellschaften und Kulturkreise hinweg äusserst ähnliche verkehrsordnende Normensysteme ausgebildet, in denen sich die universellen Regelungbedürfnisse widerspiegeln, die sich aus Dichte, Geschwindigkeit, und technischen Fortbewegungsart der Verkehrsteilnehmer ergeben (vgl. Goffman 1974: 28).

2) Verkehrsordnungen sind zum vornherein nur als völlig "inklusiv" konzipierte Sozialsysteme überlebensfähig, weil buchstäblich jedes beliebige Handlungssubjekt allein deshalb voll darin integriert werden muss, weil es (mit seinem biologischen Körper oder a fortiori mit seinem Fahrzeug) Masse und kinetische Energie mit sich führt und deshalb eine potentielle Quelle physischer Fremdgefährdungen bildet.

Dies allein ist ein hinreichender Grund dafür, dass es auf allseitigen Respekt zählen kann und seitens anderer Teilnehmer andauernd Aufmerksamkeit, Normzumutungen, Warnungen, Drohungen, Kontroll- und Sanktionshandlungen auf sich zieht.

Verkehrsordnungen weisen generell drei Merkmale auf, die es erforderlich machen, die soziale Systembildung weitgehend oder gar ausschliesslich auf soziofugale Regulationsmechanismen abzustützen: Merkmale, die je nach Art der Fortbewegungsmittel, Zusammensetzung der Verkehrsteilnehmer, Höhe der Reisegeschwindigkeit u.a. eine höchst unterschiedliche Ausprägung erfahren:

1) Man muss sich auf die präventive Wirkung soziofugaler Vermeidungshandlungen verlassen können, weil bei ihrem Versagen irreversible Schädigungen auftreten, die durch keine reaktiven oder gar korrektiven Massnahmen mehr wettgemacht werden können. Im harmlosesten Falle verlieren hastende Passanten mindestens ein Stück unwiderbringliche Zeit, wenn sie nach erfolgter Kollision Entschuldigungsrituale auszuführen oder sich gar über Schadenersatzleistungen für zerbrochene Brillengläser abzusprechen haben. Und in schlimmeren Fällen kann eine Totalkollision oder ernsthafte Körperverletzung zum Abbruch der Reisepläne nötigen oder der Unfalltod die Beendigung aller lokomotiven Absichten und Fähigkeiten mit sich bringen.

Im Fussgängerverkehr bleiben sicher noch die besten Möglichkeiten gewahrt, um einen Teil der Ordnungsleistungen auf reaktive und korrektive Mechanismen abzuwälzen, vor allem wenn die Teilnehmer (wie z.B. als Wanderer) keine besondere Eile haben und deshalb

  1. einander wegen ihrer geringen Gehgeschwindigkeit nur minimale "Kollisionsschäden" zufügen können
  2. genügend Zeit finden, um sich mit Kollisionsfolgen auseinanderzusetzen.
Umgekehrt müssen soziofugale Mechanismen im Falle des Auto-, Schiffs- und Flugverkehrs die volle Last der Verhinderung von Katastrophen tragen: so dass derartige Verkehrseinheiten ausschliesslich unter dem Aspekt hinreichender Distanzwahrung miteinander in Beziehung treten.
 

2)  Verkehrsteilnehmer sind aus verschiedenen Gründen meist gar nicht in der Lage, die für reaktive und korrektive Verhaltensweisen notwendigen Kommunikationsprozesse zu vollziehen, denn

  • die dafür verfügbaren Zeitspannen sind (sofern keine translokalen Kommunikationsmittel wie Funk u.a. eingesetzt werden) normalerweise äusserst kurz, und sinken mit wachsender Geschwindigkeit bald auf Werte, bei denen nur noch hochstandardisierte nonverbale Ausdruckskundgaben (vor allem Blickkontakte) in Frage kommen;
  • ihre Aufmerksamkeit wird primär durch die Fortbewegungshandlung selbst in Anspruch genommen: ganz besonders dann, wenn vielerlei physische Inhomogenitäten (Kurven, Steigungen, Unebenheiten) oder gar völlig unerwartete situationsbedingte Störfaktoren (Steinschlag, Wellengang, Öllachen, Windböen u.a.) zur Umsicht und Sorgfalt nötigen;

  •  
  • ihr Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten (auch nichtverbaler Art) ist selbst bei Individuen, die kein artifizielles Fahrzeug benutzen, normalerweise äusserst reduziert, weil sie
  • ihren motorischen Apparat momentan in den Dienst der instrumentalen Fortbewegungshandlung gestellt haben: so dass all ihre Verhaltensäusserungen primär als Korrelate dieser Instrumentalhandlung (anstatt z.B. als rein symbolische Kundgaben) gedeutet werden;

  • häufig auch aus Gründen physischen Schutzes relativ steife Kleidungsstücke tragen, die - wie z.B. Mäntel, Überzüge, Pelerinen etc. - die Umsetzung von Körperbewegungen in spezifische Ausdruckskundgaben stark erschweren.
Bei allen Fahrzeugbenutzern kommt hinzu, dass sie eine äusserst inexpressive materielle Hülle um sich tragen, die ihnen nur eine ganz kleine Auswahl meist digitaler Zeichen (Hupe, Lichtsignal u.a.) an die Hand gibt, um sich andern Verkehrsteilnehmern verständlich zu machen.

All diese Restriktionen machen es verständlich, warum in Verkehrsordnungen derselbe Akt physischer Fortbewegung, der im kausalen Sinne der Realisierung eines Lokomotionsprozesses dient, gleichzeitig auch noch im symbolischen Sinne als "Intentionskundgabe" in Anspruch genommen muss, durch die sich diese selbe Handlung äusserlich darstellt und die andern Teilnehmer zu entsprechend koordinierten Gegenhandlungen nötigt.

Oder anders formuliert: es bleibt nichts anderes übrig, als den faktischen Lokomotionsvorgang selber als Kommunikationsmedium zu benutzen um - auf eine höchst objektive, voraussetzungslos wahrnehmbare Weise - Informationen über Form und Absicht der in Gang befindlichen Handlung öffentlich mitzuteilen und die andern Verkehrsteilnehmer in die Lage zu versetzen, mittels induktiver Extrapolation auf den weiteren Handlungsverlauf zu schliessen:

"So bewegt, sei es nun beim Fahren oder Gehen, das Individuum sich - oder vielmehr sein Fortbewegungsgehäuse - in einer solchen Weise, dass Richtung, Geschwindigkeit und Entschlossenheit zum Einhalten des eingeschlagenen Kurses erkennbar werden " (Goffman 1974: 32/33).

So sehr z.B. Schiffe oder Flugzeuge allein aus physischen Gründen der Zeit- und Energieersparnis dahin gebracht werden, auf dem Weg von A nach B einen möglichst geradlinigen Kurs einzuhalten, so wird diese Geradlinigkeit zusätzlich mitstabilisiert dadurch, dass sie sich in einer soziofugalen Verkehrsordnung befinden: weil dies die einzige - gleichermassen notwendige und hinreichende - Weise ist, um sich als konsistente, berechenbare Verkehrsteilnehmer darzustellen.

3) Nur auf der Basis der höchst anspruchslosen soziofugalen Regelungsmechanismen lässt sich jene maximale Extensität und Intensität der Geltung verwirklichen, wie sie für Verkehrsordnungen (besonders bei hohen Geschwindigkeiten und/oder beim Gebrauch motorisierter Fahrzeuge) unerlässlich ist.

Extensität der Geltung bedeutet, dass Verkehrsordnungen im Prinzip die offensten Sozialordnungen sind, zu denen beliebige Individuen ungeachtet irgendwelcher Statusmerkmale oder Persönlichkeitsmerkmale (allenfalls nach gewissen Zulassungsprüfungen) unkontrollierten Zugang haben.

Und die Intensität der Geltung manifestiert sich drastisch in der Bereitschaft fast aller Individuen, ihr physisches Wohlbefinden, ja Überleben jeden Tag vom zuverlässigen Funktionieren solcher Ordnungen abhängig zu machen. Auch wer vielleicht nicht darauf vertraut, mittels soziopetaler Kooperation positive Handlungsfolgen erreichen zu können, scheint meistens noch hinreichend daran zu glauben, dass soziofugale Koordinationen geeignet sind, negative Handlungsfolgen (Kollisionen, Verletzungen u.a.) zu vermeiden.

Eine Umorientierung von präventiven zu reaktiven oder korrektiven Regulationsmechanismen hätte die doppelte Folge, dass Verkehrsordnungen in ihren Zulassungsbedingungen restriktiver und in ihrer Funktionsweise unzuverlässiger würden: weil die dazu notwendigen Kommunikationsprozesse relativ anspruchsvolle, kultur- und sozialisationsabhängige Dispositionen und Qualifikationen erfordern würden und hinsichtlich Verlauf und Ergebnis mit verschiedensten Risiken behaftet wären (vgl. 5.5).

Verkehrsordnungen haben den Menschen bereits seit Urzeiten zur Generierung und Habitualisierung äusserst generalisierter, alle Schranken der Lebensgemeinschaft, Verwandtschaft, Gruppenabstammung, Rasse etc. transzendierenden Sozialorientierungen gezwungen, und ihm - all seinen partikularistischen Identifikationen zum Trotz - jenen Universalismus "anerzogen", auf den die kosmopolitischen Wertsysteme und Strukturen der modernen Gesellschaft (Christentum, bürgerliche Rechtsordnung, liberale Marktwirtschaft u.a.) aufbauen können.

In modernen Gesellschaften haben insbesondere

  1. zunehmende Verkehrsdichten (z.B. in urbanen Ballungsräumen)
  2. wachsende Fortbewegungsgeschwindigkeiten (Automobil, Flugzeug etc.)
  3. erhöhte Verletzungs- und Tötungsrisiken (z.B. im Strassenverkehr)
  4. erhöhte Variabilitäten (und deshalb: Unvorhersehbarkeit) individueller Fortbewegungspläne
  5. zunehmende "Rationalisierung" (und ergo: Störungsempfindlichkeit) von Fortbewegungshandlungen (z.B. in hoch belasteten Lufträumen oder auf dicht befahrenen Schienennetzen)
gemeinsam dazu beigetragen, die Normierungsdichte, Kontrollintensität und Sozialisationswirkung soziofugaler Verkehrsordnungen zu verstärken.

In Myriaden mikroskopischer Alltagssituationen müssen kollokal verdichtete und in Lokomotion befindliche Menschen sich täglich in der Praxis üben, einander auf einer Ebene wahrhaft unnegierbarer Gleichheit zu begegnen: als "Verkehrseinheiten", die äusserst komplexe physische Körper (ihren eigenen biologischen Organismus sowie komplizierte technische Apparaturen wie Fahrzeuge, Navigationsinstrumente u.a.) mit sich führen: Gegenstände, die wegen ihrer überdurchschnittlichen Verletzlichkeit einerseits permanent von Ausseneinwirkungen abgeschirmt werden müssen und andererseits wie beliebige physikalische Gegenstände als Träger widerständlicher Masse und energetischer Wirkungspotentiale in Betracht gezogen werden müssen.

Vor allem der vielverleumdete individuelle Strassenverkehr mag die latente Funktion erfüllen, das soziale Verhalten der ganzen Bevölkerung mit einem "kulturfrei reproduzierten Basisuniversalismus" zu durchdringen, auf den sich die universalistischen institutionellen Wertsysteme abstützen können, und weltweit eine zwar wenig integrierende, dafür aber umso überlebensfähigere Fundamentalebene gemeinsamer Erwartungen, Normorientierungen und Verhaltenshabitualisierungen zu reproduzieren.


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