UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 


 

 

DRITTES KAPITEL:

"SINNLICHE WAHRNEHMUNG" ALS MEDIUM SYSTEMISCHER AUSDIFFERENZIERUNG UND INTEGRATION

 

3.2 Die soziogene Faktizität der "gemeinsamen Anwesenheit"

Wenn zwei oder mehr Menschen sich im selben, durch keine physischen Hindernisse (wie z.B. Wände, Türen u.a.) unterbrochenen Raumabschnitt aufhalten, stellt dies ein unübertrefflich leicht zu verifzierendes objektives Faktum dar, das sich dem Bewusstsein der Beteiligten wie auch allfälliger Beobachter gebieterisch aufdrängt und deshalb überaus gern - vor allem wenn subtilere Indikatoren fehlen - als ein Indikator dafür in Anspruch genommen wird, dass entweder eine soziale Zusammengehörigkeit bereits existiert, oder dass eine Situation gegeben ist, die das Initiieren sozialer Interaktionen nahelegt, legitimiert, bzw. gar erzwingt.
 
 

Dies ist wahrscheinlich vor allem dann der Fall, wenn die Beteiligten

  1. sich als Personenaggregat besonders auffällig profilieren, weil sie in einem relativ dünn besetzten Territorium einander körperlich sehr nahe sind;
  2. eine durch physische Mittel insulierte Raumeinheit ("box") besetzen, die - wie z.B. ein Zimmer, ein Gasthaustisch oder eine Theaterloge - dafür vorgesehen ist, von einer Gruppe zusammengehöriger Personen exklusiv in Beschlag genommen zu werden;
  3. sich simultan (bzw. in sehr kurzen Abständen) gemeinsam von Ort zu Ort bewegen und dadurch z.B. im amorphen Strom von Strassenpassanten, Museumbesuchern oder Strandtouristen eine prägnant herausgehobene Gruppeneinheit bilden.
"Wenn zwei Menschen schweigend nebeneinander die Strasse entlang gehen oder am Strand nebeneinander dösen, behandeln andere sie meist als "zusammengehörig" Es wird ihnen das Recht zugestanden, ziemlich abrupt in gesprochene oder Gesten sich darstellende Kommunikation zu fallen, obwohl man kaum sagen kann, sie pflegten kontinuierliche wechselseitige Aktivität. Dieses Gefühl von Zusammensein stellt eine Art von nichtrealisierter verbaler Begegnung dar, es fungiert eher als Mittel, Nichtdazugehörige auszuschliessen, denn als Stütze zentrierter Interaktion zwischen den Beteiligten." (Goffman 1969: 103).
 
 

Es ist deshalb keineswegs gerechtfertigt, den hohen kausalen Einfluss räumlicher Proximität auf die Genese sozialer Interaktionen und Beziehungen (vgl. z.B. Priest/Sawyer 1967: 63ff.) allein auf physisch-technische Wirkungsfaktoren zu reduzieren.

Natürlich ist es - im wörtlichsten Sinne - besonders naheliegend, meinem nächsten Zimmernachbarn zufällig über den Weg zu laufen, mit meinem unmittelbaren Tischnachbarn eine Konversation zu führen oder den in derselben Reihe sitzenden Flugpassagier um Feuer zu bitten (vgl. Backmann 1981: 240).

Aber unabhängig davon können auch die folgenden, mit der Wahrnehmung und Deutung des räumlichen Beisammenseins verknüpften Faktoren die Initiierung von Interaktion begünstigen:

  1. Die Tatsache, dass umstehende Dritte eine derartige Interaktion zumindest nicht überraschend, sondern völlig erwartbar oder sogar normativ geboten finden;
  2. Die Chance, dass der Adressat diese Einstellung Dritter teilt und deshalb ebenfalls der Meinung ist, dass er sich eher mit der Verweigerung anstatt mit der Akzeptierung der Interaktionsofferte auffällig und nicht-konform darstellen würde;
  3. Die Möglichkeit, dass mit der Wahl entfernterer Partner für den Initiator der Interaktion gleich zwei schwierige Rechtfertigungsprobleme entstehen:
  4. gegenüber dem nicht-gewählten Nächsten, der sein Übergangenwerden als Indikator für Missachtung, Antipathie, u.a. auslegen könnte;
  5. gegenüber dem gewählten Fernpartner, der mit Recht fragen kann, warum EGO gerade ihn (anstatt zahlreiche andere Personen in ähnlicher Distanz) ausgesucht hat, und allenfalls gar physische Mühen in Kauf nimmt, um mit ihm in Beziehung zu treten.
Positiv gewendet: räumliche Nähe kann als äusserst konsensfähige Legitimationsbasis für die Initiierung von Interaktion fungieren: ganz besonders für Individuen, die keinerlei andere Orientierungskriterien für die Partnerwahl zur Verfügung haben: z.B. weil sie alle in Frage kommenden Interaktionspartner nur oberflächlich kennen und/oder sie bezüglich selektionsrelevanter Statusmerkmale (wie Alter, Geschlecht, Ethnizität, Klassenlage u.a.) als homogen perzipieren.
 
 

So kann nicht überraschen, dass neu zugezogene Insassen von Studentenwohnheimen in den ersten Phasen ihres Aufenthalts sehr stark räumlich konditionierte Bekanntschafts- und Freundschaftsbeziehungen bilden, bevor dann Statusattribute und andere evaluative Präferenzen bestimmend werden (Priest/Sawyer 1967: 633ff.).

Vielleicht ist jede menschliche Gesellschaft in gewissem Masse auf "zufällige räumliche Nähe" als aleatorisches Assoziierungsprinzip angewiesen: als ein Mechanismus, der - vergleichbar den Mutationen in der Biologie - einen ständig unkontrollierbar-fluktuierenden "variety pool" strukturell nicht vorgesehener, ja den statusmässigen Präferenzkriterien oft gar zuwiderlaufender Sozialbeziehungen erzeugt. Indem Personen, die sich sonst nie begegnen oder einander gar absichtlich meiden würden, in punktuelle zeit-räumliche Verbindung zueinander treten, werden mit geringstem Aufwand zahllose probehafte Minimalkontakte geschaffen, von denen die meisten spurlos wieder verschwinden, während einige wenige sich als innovationsträchtig erweisen, indem sie zu neuartigen Bekanntschafts-, Freundschafts- oder Geschäftsbeziehungen u.a. führen.
 
 

In modernen Gesellschaften wird diesen Mechanismen zufälligen Begegnens besonders viel Spielraum gelassen, insofern urbane Verkehrsverhältnisse für vielerlei Situationen sorgen, in denen sich völlig fremde Menschen in nächster räumlicher Nähe befinden.
 
 

Eine wichtige - vor allem von kontaktsuchenden Neuimmigranten rege benutzte - Funktion moderner Städte (und ihrer öffentlichen Begegnungstätten) besteht darin, als Katalysator für die Erzeugung völlig ungeplanter, aber dennoch entwicklungsfähiger interpersoneller Beziehungen zu dienen. So bilden sich in grossstädtischen Kernzonen häufig Zweierbeziehungen, die bereits nach wenigen Wochen aus den öffentlichen Lokalen der Stadt emigrieren und sich einige Jahre später vielleicht als "Familie im Grünen" wiederfinden (vgl. Palen 1975: 126ff.).

Aus analogen Gründen sehen sich vorwiegend jene Individuen auf ihre Wohnnachbarschaft als Kontaktfeld verwiesen, die (wie z.B. Kinder, Greise, nicht berufstätige Hausfrauen u.a.) nur wenig oder überhaupt nicht an institutionell vermittelten Beziehungen partizipieren, und/oder die mangels Handlungskompetenz gar nicht in der Lage sind, die Selektion ihrer Partner nach anderen (z.B. statusmässigen) Kriterien zu steuern (vgl. z.B. Dunckelmann 1975: 135ff; Hahn/Schubert/Siewert, 1979: 115).

Wenig erforscht, aber von brennendem Interesse ist die Frage, inwiefern Sozialsysteme von zufallsgenerierten raum-zeitlichen Begegnungen systematischen Gebrauch machen, um ihre Binnenverhältnisse fluktuierend-variabel zu erhalten und sich dadurch für Strukturwandel und flexible Umweltadaptationen offen zu halten.

Abgesehen von der Familieninstitution, wo aleatorische Mechanismen der Partnerwahl fast selbstverständlich geworden sind, mögen vor allem in der Wissenschaft vielerlei Tagungs- und Kongressveranstaltungen die Funktion haben, überraschend-neuartige Rekombinationen von Personen, Ideen, Gesichtspunkten, Wissensbeständen u.a. wahrscheinlicher zu machen.
 
 

Die voraussetzungslose, zweifelsfreie Sichtbarkeit räumlichen Beisammenseins scheint nicht nur die Initiierung neuer, sondern auch die Ausdifferenzierung und Konsolidierung bestehender Sozialbeziehungen stark zu begünstigen. Charakteristisch dafür ist eine - wiederum von Erving Goffman brillant beschriebene - Erscheinung, die man als "Hypostasierung des Miteinander" bezeichnen könnte (Goffman 1974: 43ff.). Wo immer ko-präsente Individuen in offensichtlicher Interaktion miteinander angetroffen werden, neigen beobachtende Dritte dazu, sie als Mitglieder einer selbständigen, zeitlich stabilen, in sich geschlossenen Gruppe zu identifizieren.

Als überindividuelles Sozialgebilde "sui generis" erhält ein solches Miteinander und respektvoll akzeptierte Autonomiespielräume zuerkannt, und man neigt dazu, in seinen Mitgliedern - selbst wenn sie nur in höchst oberflächlich-akzidentiellen Beziehungen zueinander stehen - in erster Linie Exponenten des Kollektivs anstatt autonome Einzelpersonen zu sehen:

  1. "Miteinanders" können relativ rücksichtslos gewisse Rechte (z.B. den Gehsteig zu versperren, Restauranttische oder Eisenbahnabteils zu monopolisieren) geltend machen: während Einzelne zu höherer Normenkonformität und Submissivität verpflichtet sind und insbesondere bei der Begegnung mit "Miteinanders" regelmässig gezwungen sind, "den Kürzeren zu ziehen" (Goffman 1974: 45).
  2. Von den Angehörigen eines "Miteinanders" wird in pauschaler, generalisierter Weise angenommen, ihr Aufmerksamkeitsfeld und ihr Verhalten sei einzig von ihrer Teilnahme am kollektiven Interaktionsfeld her determiniert.
Daraus ziehen sie beispielsweise den Vorteil
  1. gegenüber unverhofften und unerwünschten Übergriffen und Kontaktaufforderungen Dritter abgeschirmt zu sein: weil man annimmt, dass sie keine freien Valenzen für zusätzliche Interaktion besitzen und sie im Falle von Belästigungen jederzeit auf den Schutz ihrer Gruppengenossen zurückgreifen könnten;
  2. ungestrafter als Einzelne possenhaftes oder sonstwie ungewohntes Verhalten an den Tag legen dürfen: weil externe Beobachter es der Eigenlogik des Interaktionsablaufs zurechnen und deshalb nicht daran denken, es als Ausdruck einer (abnormen) innerpsychischen Befindlichkeit zu interpretieren (Goffman 1974:45) (vgl. auch 4.4).
Möglicherweise gehen viele Menschen deshalb nicht gern allein auf Reisen, weil sie die höheren Exponiertheiten und Disziplinierungszwänge unangenehm finden, die Einzelne im Vergleich zu "Miteinanders" in der Öffentlichkeit hinnehmen müssen.
 
 

So können externe Fremdzurechnungen dazu beitragen, die Ausdifferenzierung kollokaler Sozialsysteme gegenüber der sozialen Umwelt einerseits und gegenüber dem Persönlichkeitssystem ihrer Mitglieder andererseits zu verstärken: besonders natürlich dann, wenn die Beteiligten diese äusseren Zuschreibungen selbst übernehmen und bereit sind, von den damit verknüpften zusätzlichen Aktionsspielräumen Gebrauch zu machen.

Entsprechend kann räumliches Beisammensein von den Beteiligten selbst taktisch benutzt werden, um nach aussen hin einen gezielten Eindruck vom Bestehen einer sozialen Beziehung zu vermitteln, bzw. um eine systematische Überschätzung des faktisch Grades interpersoneller Kohäsion zu evozieren.

So können zerstrittene Staatschefs ebenso wie zerrüttete Ehepaare oder verfeindete Sippenchefs öffentlich sichtbares und von freundschaftlichen Gesten begleitetes Zusammensein demonstrieren, um skeptische Dritte von ihrem Willen zur Verständigung und ihrer Fähigkeit zum harmonischen Umgang miteinander zu "überzeugen". Und bei sozialen Bewegungen ohne formal-organisatorische Rahmenstrukturen sind massenhafte Menschenansammlungen (z.B. Protestkundgebungen, Blockadeaktionen, Schweigemärsche u.a.) oft das einzige verlässliche Anzeichen dafür, dass und in welchem Umfange ein derartiges Kollektiv existiert.

Für die Beteiligten selbst trägt das Faktum gemeinsamer Anwesenheit dank seiner zwingenden intersubjektiven Evidenz stark dazu bei, bereits bestehende soziale Interaktionsverhältnisse zu festigen und zu generalisieren: weil sie normalerweise berechtigt sind, völlig unzeremoniell jederzeit miteinander in Kommunikation zu treten und dementsprechend auch verpflichtet sind, gegenüber ihren Gruppengenossen einen Zustand dauernder Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft (einen sogenannten "Interaktionstonus") aufrechtzuerhalten.
 
 Ähnlich wie formale Organisationen profilieren sich auch Kollokalsysteme gegenüber ihrer Umwelt als relativ scharf umgrenzte Inseln höherer interpersoneller Zugänglichkeit und handlungsmässiger Interdependenz: mit dem charakteristischen Unterschied allerdings, dass Organisationen

  • meist nur für spezifische, im voraus umgrenzte Formen und Sachinhalte der Interaktion benutzbar sind, während Kollokalität eine völlig generalisierte soziogene Situationsbedingung darstellt, die sich bei beliebiger Variabilität und Unvorhersehbarkeit von Strukturformen, Sachthemen oder Aufgabenstellungen invariant erhält;

  • auf zeitliche Dauer eingestellt und gegenüber dem Einfluss einzelner Personen relativ unempfindlich sind: während kollokale Systeme meist mit der bedrohlichen Perspektive zurechtkommen müssen, dass sie durch blosses Weggehen einzelner Mitglieder in Grösse und Zusammensetzung verändert oder gänzlich aufgelöst werden können.


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