Ein theoretischer Integrationsversuch
(29 Dezember 1996)
DRITTES KAPITEL:
"SINNLICHE WAHRNEHMUNG" ALS
MEDIUM SYSTEMISCHER AUSDIFFERENZIERUNG UND INTEGRATION
3.4 Aktualer Kontextbezug und kommunikative
Einbettung allen individuellen Handelns
Als räumlich isoliertes, unbeobachtetes Individuum kann ich mein
Handeln autonomer bestimmen, weil ich keine Rücksicht darauf nehmen muss,
wie meine Verhaltensweisen von (bestimmten oder unbestimmten) Anderen
wahrgenommen und gedeutet werden, und welchen persönlichen Eindruck
(hinsichtlich meiner Charaktermerkmale, Motivationen, Qualifikationen
u.a.) ich dadurch bei ihnen evoziere.
Der einsame Briefeschreiber kann stundenlang über denselben Sätzen
brüten, ohne dem Adressaten oder jemand anderem seine Unsicherheiten und
Ausdruckshemmungen zu verraten; der selbständige Handwerker kann seinen
ganz partikulären Arbeitsstil kultivieren, ohne von tayloristischen
Vorgesetzten nach Normen der Effizienz und Speditivität beurteilt und
sanktioniert zu werden; und die weltweite wissenschaftliche
Öffentlichkeit fragt nicht danach, auf welchen verschlungenen Umwegen der
Forscher schliesslich zu seiner beeindruckenden Entdeckung gelangte.
Weil sie nicht gleichzeitig auch noch unter dem Gesichtspunkt ihrer
symbolischen Ausdruckskonnotationen und kommunikativen Aussenwirkungen
spezifiziert werden müssen, lassen sich unbeobachtete Handlungen umso
stringenter nach verschiedenen anderen Kriterien organisieren. z.B. im
Hinblick darauf, dass sie zweckrationale Teilschritte in einem grösseren
Handlungsentwurf bilden, logische Konsistenz aufweisen, gewissen
Präzedenzen und Traditionen entsprechen, oder dass sie die Fähigkeiten
und Motivationen des handelnden Subjekts möglichst
"authentisch" zum Ausdruck bringen.
Vor allem werden in der Zuordnung von Mitteln zu Zwecken zusätzliche,
für Zwecke der Exploration und Innovation nutzbare Freiheitsräume
eröffnet: weil man ohne Sanktionsdrohungen auch völlig neuartige,
ungewohnte Vorgehensweisen wählen kann und fatale Irrwege höchstens das
Selbstwertgefühl, nicht aber die Art, wie man von anderen beurteilt wird,
affizieren.
Neben Einzelindividuen können auch soziale Mikrosysteme von diesen
gesteigerten Ausdifferenzierungsmöglichkeiten des Handelns profitieren:
ganz besonders in der modernen bürgerlichen Gesellschaft, wo die
Privatisierung intimer Verhaltensweisen z.B. eine in traditionellen
Kontexten undenkbare Variabilität von intrafamiliären
Verhaltenssubkulturen, Sexualpraktiken u.a. ermöglicht.
Der Wegfall sozialer Regelkreise (durch die Wahrnehmung und Reaktion
unmittelbar ko-präsenter Partner oder Beobachter) bringt generell die
Gefahr einer "Unterdeterminierung" des Verhaltens mit sich, die
durch verstärkte Heranziehung alternativer Orientierungshilfen beseitigt
werden muss. Dabei kommen in Frage
- selbstreferentielle Steuerungen: indem der Akteur durch
Intensivierung seiner Selbstwahrnehmungen und Selbstbeurteilungen
sowie durch verstärkte Orientierung an verinnerlichten normativen
Massstäben einen grösseren Anteil der Selektivität in Eigenregie
übernimmt (vgl. Geser 1983: 43f.).
- kulturelle Steuerungen: indem der Akteur sich kompromissloser auf
jene Regelsysteme, Werte und Zielsetzungen ausrichtet, die (wie z.B.
Logik, Zweckrationalität, Universalismus, Humanität u.a.)
unabhängig von partikulären Sozialkontexten Geltung haben.
- mikrosoziale Steuerungen: indem ein kleineres (häufig nur
dyadisches) soziales Interaktionsverhältnis die
Verhaltensspezifikationen generiert und stabilisiert, die sonst von
umfassenderen Kollokalsystemen getragen werden müssten.
Zudem trägt das Fehlen gegenwärtiger vom augenblicklichen
Handlungskontext erzeugter Steuerungen dazu bei, dass einerseits
Orientierungen an Vergangenem (Erinnerungen, Präzedenzen u.a.) und
andererseits an Zukünftigem (z.B. an angestrebten Zielen, antizipierten
Reaktionen anderer u.a.) Bedeutung gewinnen.
Vor allem aber können Akteuren in räumlich isolierten
Handlungssituationen stärker disponiert sein, ihr Verhalten in
translokale und alokale Sozialreferenzen einzubetten: z.B. indem sie sich
beim Verfassen eines Briefes ausschliesslich vom Gedanken an den ihn
lesenden Adressaten leiten lassen, sich beim Kochen völlig auf die
schriftlich explizierten Anweisungen des Rezeptbuches verwiesen sehen oder
nur in dem Masse, wie sie an die Legitimität der formalrechtlichen Regeln
glauben, auf verbotene Handlungen verzichten.
Als methodologische Implikation ergibt sich, dass
"positivistische", an objektiven Verhaltensabläufen
festmachende Analysestrategien bei alokalen und translokalen
Sozialverhältnissen auf besonders enge Grenzen stossen. weil sich die
bewegenden Ursachen und situativen Randbedingungen einer Handlung
praktisch nie auf derselben Beobachtungsebene wie diese Handlung selbst
befinden. Man sieht dem einsamen Waldläufer nicht an, ob er sich für
seinen anstrengenden Beruf, seine Stürmerrolle im lokalen Fussballklub,
aus präventivmedizinischen Erwägungen oder "einfach so" fit
halten möchte; und wer in seinem Büro Dokumente unterschreibt, kann
mittels derselben Fingerbewegungen ebensogut Kaufverträge wie
Stellenentlassungen oder Todesurteile besiegeln.
Und unerlässlich ist in allen Fällen die genaue Kenntnis sinnlich
nicht wahrnehmbarer, aus zeitlicher oder räumlicher Distanz in die
aktuelle Situation hineinwirkender Bestimmungsfaktoren sowie des
"subjektiv gemeinten Sinns", über den uns der Handelnde in
eigenem Ermessen (verbale) Auskunft geben muss. In jedem Fall gibt es
Entfaltungsspielraum für einen vom Akteur autonom konzipierten
"Sinnhorizont", mittels dem er sein konkretes Handeln auf
eigenselektive Weise auf einen spezifischen Situationskontext bezieht.
Auch im kollokalen Verhältnis ist es häufig so, dass sich jeder
Handelnde an selbstgewählten, vom zeitlich-räumlichen Nahfeld
unabhängigen, Situationsdefinitionen und Referenzkriterien orientiert:
z.B. wenn mehrere Sachbearbeiter im selben Büro ihre getrennte Arbeit
tun, stumm nebeneinandersitzende Eisenbahnpassagiere in Gedanken ihren je
eigenen geographischen Zielen zustreben oder Verhandlungspartner am
grünen Tisch die Interessenstandpunkte des sie mandatierenden Verbandes
artikulieren.
Aber all diese Handlungen sind immer auch noch in ein quer dazu
verlaufendes, durch aktuelle kollokale Wechselwirkungen konstituiertes
Referenzfeld einbezogen, dessen Eigenständigkeit sich darin zeigt, dass
es den Charakter fast völliger Unausweichlichkeit besitzt und imstande
ist, alle übrigen Strukturierungskriterien zu überlagern und teilweise
zu neutralisieren.
Dieses immer auf das Hier und Jetzt bezogene soziale Einflussfeld
gewinnt seine Dauer und Breitenwirkung aus der Tatsache, dass die
Beteiligten ununterbrochen in der Lage und meist auch disponiert sind, die
äusseren Verhaltensmanifestationen der jeweils anderen wahrzunehmen, sie
als Ausdruckskundgaben zu deuten und Schlussfolgerungen über die sich in
ihnen manifestierenden subjektiven Absichten und Gefühlsstimmungen oder
persönlichen Charaktereigenschaften, und Fähigkeiten anzuknüpfen. So
sehen sich kollokale Akteuren häufig einer Konstellation
überdeterminierter, miteinander konfliktiv konkurrierender
Orientierungskriterien und Erwartungen gegenüber. weil sie zusätzlich
immer auch die kommunikativen Konnotationen ihres Verhaltens für Andere
in Rechnung ziehen müssen. Und je heterogener diese "Anderen"
sind und je weniger man ihr Urteil kennt, desto höher das Risiko, bei
irgendeinem Verhalten unintendierte und ungewünschte Kundgaben über sich
selbst auszustreuen.
Kann der einsame Handwerker ungestört nur seine Regeln der Kunst und
seinen persönlichen Rhythmus des Tätigseins und Pausierens zur Geltung
bringen, so muss der Fabrikarbeiter immer auch noch Betracht ziehen, dass
der momentan gezeigte Arbeitseifer dem soeben eingetroffenen Vorgesetzten
zu minimalistisch oder den neidvoll mitbeobachtenden Kollegen übertrieben
erscheinen könnte; und wenn sich an geheimen Urnenabstimmungen ungestört
die subjektiven Präferenzen jedes einzelnen Bürgers ausdrücken können,
so werden namentliche Abstimmungen an Versammlungen unweigerlich durch
mannigfache soziale Einflüsse bestimmt. Kein Teilnehmer am grünen
Verhandlungstisch wird in der Lage sein, ausschliesslich nur vorgängig
konzipierte Standpunkte in fixierter verbaler Formulierung vorzutragen:
weil er immer auch mitberücksichtigen muss, wer vorher was gesagt hat,
welche Reaktionen anderer angesichts der Zusammensetzung des Gremiums
sowie der "herrschenden Stimmung" zu erwarten sind und wie sich
bestimmte implikationenreiche Selbstdarstellungen auf zukünftige
Partizipations- und Einflusschancen auswirken könnten.
Zusätzliche Überdeterminationen und Orientierungskonflikte treten
auf, wenn auch noch beobachtende Dritte mitanwesend sind, die unter
Umständen eine völlig andere Perspektive als die Handlungsadressaten
selbst einnehmen können. So können zufällige Augenzeugen einem
Ertrinkenden allein deshalb nicht zu Hilfe eilen, weil sie nicht Gefahr
laufen wollen, sich mit ihrer Ungeschicklichkeit vor andern "bystanders"
zu blamieren (vgl. z.B. Sheleff, 1978; Latané/Darley, 1970); und das
Zwiegespräch in der Cafeteria bleibt stärker am rein Konventionellen und
Unverbindlichen haften, wenn "zufällige Mithörer" in Betracht
gezogen werden müssen.
Die vielfältigen Erosionseinflüsse und Entdifferenzierungs-Wirkungen
kollokaler Referenzen werden nun aber allerdings durch die Tatsache
begrenzt, dass Handlungen nur in dem Masse zum Gegenstand intersubjektiver
Wahrnehmung und Deutung durch Mitanwesende werden können, als sie in
objektiven Verhaltensäusserungen (d.h. sinnlich identifizierbaren
Ereignissen wie z.B. Körperbewegungen) zum Ausdruck kommen.
Dies bedeutet beispielsweise, dass reine Unterlassenshandlungen
ausserhalb der kollokalen Einflusssphäre bleiben: sofern die
Mitanwesenden nicht dieselben Sinnhorizonte übernehmen, die der Akteur
selbst zum Zeitpunkt seines absichtlichen Nichthandelns besitzt (vgl.
Geser 1986b: 651ff).
Besonders folgenreich ist das Faktum, dass die sinnliche Wahrnehmung
vorwiegend kurze, prägnante, aus dem Kontext "gestalthafte"
herausgehobene "Molekularhandlungen" erfasst, während
übergreifende "Molarhandlungen" wegen ihrer Komplexität und
zeitlichen Ausdehnung nicht in den Blick geraten: vor allem dann nicht,
wenn die Partner wegen der Seltenheit oder Kurzfristigkeit ihrer
Zusammenkünfte darauf angewiesen sind, aus einem äusserst limitierten
Beobachtungsmaterial persönliche Attributionen und Typifikationen
anzufertigen.
So kann ich in den feinen Einzelheiten taktvollen, höflichen und
korrekten Auftretens jederzeit härtesten sozialen
Konformitäts-Erwartungen und Sanktionseinflüssen unterliegen, während
ich auf der Ebene meiner grösseren Handlungsstrategien frei bleibe, meine
autonomen - vielleicht asozialen und subversiven - Ziele zu verfolgen.
Vortragsreferenten müssen beispielsweise mit Bestürzung erleben, dass
einzelne ihrer Randbemerkungen, ja partikuläre Besonderheiten ihrer
Stimmführung und Begleitgesten beim Publikum besser als die sorgfältig
erarbeitete Gesamtkonzeption der Rede zur Wirkung gelangen, und mancher
subordinierte Beamte lernt sich darauf einzustellen, dass sich Vorgesetzte
eher durch regelmässige Büroanwesenheit und gut vorgespielte "rege
Geschäftigkeit" als durch die Qualität der langfristigen
Arbeitsergebnisse beeindrucken lassen.
Im kollokalen Sozialmilieu ist es generell schwierig, komplexe
Handlungsabläufe nach rein funktionalen, zweckrationalen Gesichtspunkten
zu gestalten, weil die einzelnen Teilhandlungen immer auch unter dem
Gesichtspunkt ihrer kommunikativen Bedeutung für Mitanwesende ausgewählt
und ausgestaltet werden müssen. Unter Umständen müssen dann einzelne
Teilschritte derart modifiziert, überbetont oder abgeschwächt werden,
dass die entworfene Makrohandlung nicht mehr ausführbar ist oder zu einem
völlig ungeplanten Ergebnis führt:
- Verhandlungspartner können unter momentanen Zwängen des Taktes und
der Höflichkeit zu einlenkenden Aussagen getrieben werden, durch die
sie ihre eigenen ursprünglichen Zielstrategien unterminieren;
- Beamte unterlassen den "Augenschein vor Ort", weil sie die
dafür erforderliche Büroabwesenheit vor dem Vorgesetzten nicht
legitimieren können;
- Militärmanöver werden nicht im dichtbesiedelten urbanen Raume
durchgeführt, um die Öffentlichkeit nicht durch plötzliche
unerwartete Bewegungen (von Truppen, Fahrzeugen, Waffen u.a.) zu
erschrecken.
Und hat man zur Erreichung eines Handlungszwecks mehrere alternative Wege
zur Verfügung, so nimmt die Wahlfreiheit zwischen ihnen im kollokalen
Milieu meistens ab: weil man jetzt jene Alternative präferieren muss, die
die erforderlichen kommunikativen Ausdrucksfunktionen am besten erfüllt.
Zum bekannten Phänomen der "Ritualisierung" kommt es dann in
jenen extremen Fällen, wo Molekularhandlungen allein dank ihrer
kommunikativen Funktion im Kollokalfeld festgehalten werden: völlig
abgekoppelt von den mit ihrer Hilfe ursprünglich verfolgten Zwecke, die
sich langsam und endgültig aus dem Bewusstsein verlieren (vgl. z.B.
Goffman 1974: 97ff.; Eibl-Eibesfeldt 1975).
Völlig andersartige Folgeprobleme entstehen insofern, als zwischen
Molarhandlungen und den sie konstituierenden Teilhandlungen gerade keine
deterministischen Funktions- und Kausalbeziehungen bestehen. In diesem
Falle zeigen sich die funktionalen Schwächen der Kollokalität darin,
dass man mit ihrer Hilfe zwar einzelne Verhaltensabläufe, mittels dieser
aber nicht auch die umfassenderen Gesamthandlungen unter soziale Steuerung
bringen kann.
So kann es in sozialen Besserungsanstalten zwar leicht gelingen,
verwahrlosten und delinquenten Jugendlichen eine Verhaltensoberfläche
"guter Manieren" und eine für den alltäglichen Umgang durchaus
brauchbare moralische Haltung beizubringen, ohne ihre devianten
Grundhaltungen und langfristigen Lebenspläne dadurch im mindesten
mitbeeinflussen zu können. Im Gegenteil kann die Beherrschung
kultivierter, höflicher und moralischer Verhaltensweisen für Delinquente
eine taktische Ressource sein, um sich zusätzliche
"Wirkungsfelder" zu erschliessen: weil vertrauenerweckende
korrekt aussehende Buchhaltertypen ja schliesslich viel eher als
unrasierte "Hobos" Zugang zu Rollen und Informationen gewinnen,
die günstige Gelegenheiten zu Unterschlagungen oder anderen Betrügereien
vermitteln.
So gelangt man zur theoretisch äusserst wichtigen Folgerung dass
komplexere Molar- und Makrohandlungen normalerweise nicht über sinnliche
Wahrnehmungen in kollokalen Feldern "sozialisierbar" sind: so
dass es von den translokalen und alokalen Sozialbindungen abhängt,
inwiefern sie z.B. normenkonform sind und auf anerkannte Werte und Ziele
hin ausgerichtet werden.
Darin liegt eine Hauptfunktion der "generalisierten
Übertragungsmedien" (Geld, Macht, Wahrheit u.a.), die auf
institutioneller Ebene funktionale Äquivalente für sinnliche Wahrnehmung
darstellen, und deren Bedeutung in dem Masse steigt, als die Menschen dank
hoher Handlungskompetenz in der Lage sind, komplexe und langfristige
Strategien zielstrebig zu verfolgen (vgl. 4.3).
Besteht die sachliche Entdifferenzierungswirkung von kollokalen Feldern
darin, dass die Akteuren ihren Orientierungsschwerpunkt von der komplexen
Gesamthandlung auf einfachere molekulare Handlungen verschieben, so tragen
sie in der zeitlichen Dimension dazu bei, relativ komplexe Vergangenheits-
und Zukunftsorientierungen durch einfachere Bezüge an der Gegenwart (bzw.
an unmittelbar abgelaufenen und direkt bevorstehenden Zeitpunkten) zu
überlagern.
Sowohl für retrospektive Orientierungen (an Erinnerungen,
Präzedenzfällen, kollektiven Traditionen u.a.) bleibt weniger Spielraum,
wenn die Aufmerksamkeit vom gerade jetzt wahrnehmbaren Verhalten der
Mitanwesenden gefesselt ist, soeben gestellte Fragen nach einer
unmittelbaren Antwort verlangen, erkannte Missverständnisse unverzüglich
ausgeräumt, kooperative Angebote sofort aufgenommen und unbedachte
Beleidigungen augenblicklich entschuldigt werden müssen.
Strukturelle Vorgaben in Form von Themenstellungen, Sitzungsprogrammen,
Status- und Rollenverteilungen zwischen Anwesenden u.a.m. können so
explizit und verbindlich sein wir nur möglich: immer werden sie
überlagert und teilweise neutralisiert durch eine Dynamik, deren
Determinationskraft sich im Medium aktueller Verhaltens- und
Wahrnehmungsprozesse entfaltet: in einem Fliessgleichgewicht unablässig
voranschreitender Gegenwartspunkte mit ihren je eigenen retentionalen und
protentionalen Sinnhorizonten, durch die sie in einem kontinuierlichen,
bruchlos erlebten Zeitstrom zusammengehalten werden (vgl. Schütz 1973:
62ff.).
Kollokale Interaktionsfelder dienen der "Verdichtung von
Gegenwärtigkeit" in einem Masse, wie dies auch einem, singulären
Individuum mit seinem "Bewusstseinsstrom" nicht unbedingt
zugänglich ist: weil die Anwesenden in der Lage sind, die
Verhaltensweisen der jeweils anderen besser als ihre eigenen in ihrem
aktuellen Ablauf wahrzunehmen und einander ihre Reaktionen darauf
unverzüglich mitzuteilen:
"Weil jedem der Augenblicke seiner Dauer auch ein Augenblick der
Dauer des ALTER EGO entspricht, auf den es hinzusehen vermag, gewinnt das
Ich in einer ungleich grösseren Fülle Zugangsprinzipien zu den
Bewusstseinserlebnissen des Du als zu seinen eigenen Erlebnissen. Das Ich
"weiss" seine ganze Vergangenheit, soweit es sie überhaupt
phänomenal in wohlunterschiedene Erlebnisse eingefangen werden kann. Aber
es hat sich niemals selbst in leibhaftiger Gegenwart und in der Fülle des
Jetzt und So "gegeben", und zwar deshalb nicht, weil es in der
Fülle seines Jetzt und So leibhaftig lebt und sich nur abgelaufenen
eigenen Erlebnissen rückschauend zuwenden kann. Hingegen ist das
umweltliche Du dem Ich, auch wenn dieses von der fremden Vergangenheit
nichts weiss, in der Fülle seines Jetzt und So leibhaftig
gegenwärtig." (Schütz, 1974:144).
Weil das einsame Subjekt zu seinem (nicht-verbalen) Verhalten im
allgemeinen keinen direkten Beobachtungszugang hat, kann es sich ja nicht
durch laufende Selbstbeobachtung steuern, sondern ist auf die
retrospektive Identifikation und Beurteilung eines jeweils abgeschlossenen
Handelns ("modo plusquamperfecti") einerseits und auf die
prospektive Vorwegnahme der intendierten Handlung und ihrer Ergebnisse
andererseits ("modo futuri exacti") verwiesen (vgl. Schütz
1974: 74ff.).
Im kollokalen Interaktionsverhältnis erst gewinnt es gesteigerte
Möglichkeiten, sich auch mit seinem jeweils gegenwärtigen Verhalten in
einen (wenigstens indirekten) kognitiven Bezug zu setzen: indem es seine
Interaktionspartner als Spiegel benutzt, die ihm durch ihre Reaktionen
unverzügliche Mitteilungen über Interpretation und Wirkung seines
wahrgenommenen Verhaltens zukommen lassen.
Die Fremdwahrnehmung wird der Selbstwahrnehmung aber immer etwas
vorauslaufen und vollständigere Information als diese enthalten: so dass
ALTER unter anderem deshalb andauernd interessant bleibt, weil er über
EGO einiges mehr weiss als EGO selbst, und weil es in seinem Ermessen
liegt, inwiefern und wann er EGO dieses Mehrwissen vermittelt.
Alle Kollokalsysteme enthalten das Potential, Interaktionsprozesse von
vorgängigen Strukturfixierungen auf sozialer Ebene (z.B.
Statusdifferenzierungen, formale Regeln, Traditionalität) wie auch auf
personeller Ebene (z.B. Charaktertypifikationen, Selbstbilder u.a.)
loszukoppeln und das entstehende Orientierungsvakuum durch die "Autopoiesis"
laufender Kommunikationsprozesse zu ersetzen.
In ihrem fluiden, permanent respezifizierbaren Zustand sind sie in der
Lage, aber auch dazu gezwungen, gegenüber ständig wechselnden
Ereignissen aus der Umwelt oder Inputs ihrer Mitglieder sensibel zu
bleiben, um ihren sich andauernd reproduzierenden Zustand innerer
Unterdeterminiertheit zu reduzieren (vgl. Luhmann 1984). Ständig neue
verbale Beiträge und Themenstellungen sind beispielsweise erforderlich,
um eine Konversation in Gang zu halten, und zusammenlebende Partner
müssen für einen andauernden Zufluss variabler
"Gemeinschaftserlebnisse" sorgen, um genügend Rohmaterial für
kommunikative Verständigung, Konsensbezeugung u.a. zur Verfügung zu
haben.
Viele Institutionen schaffen kollokale Subsysteme mit der expliziten
Absicht, dadurch nicht nur passive Rezeptionsorgane, sondern aktive
"Ansaugstellen" für beliebig variierende Umweltinformationen,
neuartige Aufgabendefinitionen oder selbsttätig ausgeweitete
Themenstellungen zu gewinnen: z.B. wenn der Staat den Gemeinden die
pauschale Kompetenz überlässt, subsidiär für alle nicht explizit den
höheren Ebenen zugewiesenen öffentlichen Aufgaben zu sorgen; oder wenn
"Brain storming-Gruppen" eingerichtet werden mit dem Zweck,
über die Fülle aktueller Probleme und Lösungsmöglichkeiten eine
bessere Übersicht zu gewinnen.
Andererseits wird jede Institution dazu neigen, ihre kollokalen
Subeinheiten an der allzu weitgehenden Verselbständigung einer rein
gegenwartsbezogenen Perspektive zu hindern: indem sie dazu genötigt
werden, vielfältige strukturelle oder kulturelle Parameter zu
respektieren oder sich gar - wie z.B. beim eucharistischen Ritus der
katholischen Kirche - sich auf den reinen Vollzug institutioneller
Zeremonien zu beschränken.
Wahrscheinlich nimmt aber im Laufe der evolutionären
Gesellschaftsentwicklung die Tendenz zu, mittels einer stärkeren
Ausdifferenzierung zwischen Organisations- und Interaktionsebene (vgl.
Luhmann, 1975) aus den spezifischen Leistungseigenschaften kollokaler
Systeme grösseren Nutzen zu ziehen und für die damit einhergehenden
Reintegrationsprobleme angemessene Lösungen zu finden. So haben viele
gesellschaftlichen Institutionen im Zuge der "Human
Relations-Bewegung" sowie des kulturellen Wandels der 60er und 70er
Jahre ihre "innere Vegetation" an informellen und relativ
autonomen Kollokalgruppen stark erweitert, offensichtlich ohne in ihrer
Makrostabilität grossen Schaden zu nehmen (vgl. Martin 1981: passim).
Praktisch alle gesellschaftlichen Institutionen benutzen kollokale
Subsysteme, um sich an ihrer Peripherie gegenüber unvorhergesehenen
lokalen Umweltereignissen und -entwicklungen zu sensibilisieren und fähig
zu sein, mit kurzfristigen flexiblen Massnahmen adaptiv auf sie zu
reagieren.
Gerade dadurch aber wirken sie als absorbierende Filterstrukturen, die
Anpassungsprobleme von den überlokalen institutionellen Kernstrukturen
fernhalten und es diesen ermöglichen, umso ungestörter und
kompromissloser an ihren rigiden Vergangenheitsbindungen (Traditionen,
Regeln u.a.) oder starren Zukunftsorientierungen (Zielsetzungen, Planungen
etc.) festzuhalten.
Schliesslich ist mit dem Vorrang wahrnehmungsgesteuerter
Situationsorientierung auch eine schwerwiegende Entdifferenzierungswirkung
in sozialer Hinsicht verbunden: weil die allgemein zugängliche,
unkontrollierbare Wahrnehmbarkeit emittierter Kundgaben zur Folge hat,
dass es in einer Gruppe gemeinsam anwesender Individuen nur schwer
gelingt, stabile interne Subsystemdifferenzierungen aufrechtzuerhalten.
Bei jedem kommunikativen Akt muss beispielsweise in Rechnung gestellt
werden, dass er von nichtgemeinten Dritten ebenso gut wie von den
intendierten Adressaten wahrgenommen werden kann: ja dass es im Medium der
Kommunikation oft nicht hinreichend gelingt, den engeren Kreis der
Adressaten gegenüber dem weiteren Bereich von "Mitbeteiligten"
und dem noch grösseren Feld zufälliger Mitanwesender hinreichend klar zu
differenzieren (Goffman 1981: 131ff.).
Sonst so eindeutige Ausdruckkundgaben wie "Blicke werfen",
"Händchen halten", "Arm einhängen" u.a. werden ihrem
gemeinten Sinn nach aequivok: weil immer damit gerechnet werden muss, dass
derjenige, der sie vollzieht, nicht nur dem Partner seine Zuneigung
ausdrücken will, sondern auch Dritten gegenüber das Bestehen einer
intimen Partnerbeziehung vordemonstrieren (bzw. gar vortäuschen) möchte
(Goffman 1974: 264).
Und wenn ich mich mit meiner neuen Freundin im Restaurant verabrede,
kann ich nie ganz sicher sein, dass sie sich nur wegen mir so
geschmackvoll frisiert und angezogen hat: weil ich ihr immer auch das
Interesse unterstellen muss, aus selbstreferentiell-narzistischen Motiven
gut auszusehen oder gegenüber ganz anderen Personen einen positiven
Eindruck zu erwecken.
So wirkt die Tatsache, dass die im Kollokalsystem emittierten Kundgaben
objektive Äusserungen darstellen und deshalb für Beteiligte und
Aussenstehende in gleicher voraussetzungslosen Weise wahrnehmbar sind, als
entdifferenzierende Kraft. Vorher stabilisierte Sozialbeziehungen
verlieren zumindest teilweise ihre Abschirmung und autonome
Selbststeuerung, da sie sich dem umfassenderen Einflussfeld und
Konformitätsdruck, der von anderen Mitanwesenden ausgeht, unterwerfen
müssen..
Solche Einbindungen sind besonders unausweichlich und drückend, wenn
es sich bei den relevanten Mitanwesenden um heterogene oder anonyme
"Andere" handelt, die das Handeln völlig unbehindert beobachten
können, ohne sich andererseits im mindesten in den
Interaktionszusammenhang integrieren zu lassen. Ein modernes Beispiel für
disziplinierende und entdifferenzierende Wirkung einer
"anonymisierten Öffentlichkeit" bilden Grossraumbüros, die den
partikulären Beziehungsverhältnissen und mikroskopischen
"Subkulturen", die sich im traditionellen Kleinbüro ungestört
entfalten konnten, jegliche Entfaltungsbasis entziehen (vgl. Fritz 1982).
Im extremen Grenzfall kann die weitere Aufrechterhaltung der
Sozialbeziehung überhaupt nur noch den Zweck haben, auf mitanwesende
Dritte einen bestimmten Eindruck zu machen: z.B. wenn ein junger Mann sich
trotz fehlender Zuneigung weiterhin mit "seinem" Mädchen
trifft, um gegenüber Freunden und Bekannten nicht als jemand zu
erscheinen, der unfreiwillig einsam ist (Goffman 1974: 267). Die völlig
heteronome Konstitutionsweise einer derartigen Beziehung wird dann
sichtbar, dass sie sofort beendet wird, wenn der stützende Rahmen
"relevanter Mitanwesender" nicht mehr existiert.
Mit ihren beschränkten Differenzierungsmöglichkeiten in sachlicher,
zeitlicher und sozialer Hinsicht hängt es zusammen, dass Kollokalsysteme
sich der sozialwissenschaftlichen Beschreibung und Analyse als relativ
leicht zugängliche Untersuchungsgegenstände anbieten, die der Anwendung
objektivierender, an der Positivität des Faktischen orientierter Methoden
weniger Widerstand als andere soziale Gebilde entgegensetzen.
Erfolgreicher als etwa im Falle formaler Organisationen, sozialer
Bewegungen, Klassen, Stände, ethnischer Gruppen oder ganzer
institutioneller Ordnungen kann man unterstellen, dass auslösende
Ursachen wie auch zahlreiche Konsequenzen beobachteter Verhaltensweisen
oder Interaktionsabläufe auf derselben Beobachtungsebene liegen, und dass
sie angemessen verständlich und erklärbar werden, wenn man die
unmittelbar vorangehenden oder nachfolgenden Ereignisse einbezieht und
sich bei der Suche nach determinierenden Partnern auf den anschaulichen
Kreis der simultan Mitanwesenden beschränkt.
Beispielsweise kommt man recht weit mit der Arbeitshypothese, dass
verbale Äusserungen unter Anwesenden als Reaktionen auf soeben
vorhergegangene Äusserungen begriffen werden können: nicht nur weil und
insofern sie vom Sprecher selbst so gemeint sind, sondern aufgrund der
noch viel verlässlicheren Tatsache, dass die Zuhörer sie in dieser Weise
auffassen und ihnen deshalb via Attribution diesen Realitätscharakter
verleihen (vgl. Goffman 1981: 12).
Überhaupt ist es bei der Analyse kollokaler Kommunikation weniger
notwendig und hinreichend, das Verstehen einer Äusserung
- am "subjektiv gemeinten Sinn" des individuellen Akteurs
einerseits
- am "objektiven", durch soziale Konvention oder institutionelle
Oktroyation über subjektiv in Geltung gesetzten Sinn andererseits
festzumachen: weil eher der vom symbolischen Interaktionismus oder im Werk
Merleau-Pontys so hervorgehobene Zustand vorherrscht, dass sich der Sinn
von Äusserungen (verbaler oder gestischer Art) im aktualen Zusammenwirken
mehrerer Subjektivitäten überhaupt erst konstituiert:
"Gebe ich einem Freund ein Zeichen, zu mir herüberzukommen, ist
meine Intention nicht ein Gedanke, den ich in meinem Inneren hege, noch
nehme ich das Zeichen in meinem Körper wahr. Ich mache das Zeichen durch
die Welt hindruch, ich mache es dort, wo mein Freund sich befindet, der
Abstand, der micht von ihm trennt, seine Zustimmung oder Ablehnung,
spiegeln sich unmittelbar in meiner Bewegung; es liegt keine Wahrnehmung
vor, der eine Bewegung folgt. Wahrnehmung und Bewegung bilden nur ein
System, das als Ganzes sich modifiziert." (Merleau-Ponty 1965:
136/137).
Kollokale Interaktionsfelder bewähren sich hier als genetische
Ausgangssubstrate für intersubjektiv konstituierten Sinn, der sich
nachher als vom Persönlichkeitssystem getragener "subjektiver
Sinn" einerseits oder als auf kultureller Ebene stabilisierter
"objektiver Sinn" andererseits sekundär verselbständigen kann,
indem er sich von den partikulären Kommunikationsfeldern die für seine
Konstituierung verantwortlich waren, emanzipiert (vgl. auch Kap. 4).
Dort wo ein soziologischer Beobachter also ein auf Kollokalität
beruhendes Feld interindividueller Wechselwirkungen vor sich hat, bleibt
ihm also zumindest teilweise die Mühe erspart, zu den geheimnisvollen
Urgründen subjektiver Intentionalität herabzusteigen oder sich
umfassende Kenntnis über kulturell verankerte symbolische Codes und
semantische Konventionen anzueignen. Stattdessen darf er damit rechnen,
dass einiges an Sinn im aktualen Kommunikationszusammenhang selbst erst
erzeugt wird, und vor allem auch: dass die beteiligten Akteuren sich an
denselben sinnlich wahrnehmbaren (und deshalb: objektiven) Äusserungen
orientieren, die auch ihm als Beobachter kognitiv zugänglich sind..
Selbstverständlich sind mit der Tatsache, dass dieselben
Handlungsabläufe in der doppelten Funktion
- als Ursachen physischer Bewirkungen einerseits
- als kommunikative Ausdruckskundgaben andererseits
das interpersonale Feld mitkonstituieren, ausserordentlich grosse
Ersparnismöglichkeiten und Leistungsvorteile verbunden, es erklärlich
machen, warum kollokale Interaktionssysteme in weitesten Bereichen
kooperativen Handelns völlig unverzichtbar sind.
So vermag der Handwerksmeister durch eine leichte Akzentuierung seiner
Bewegungen den Arbeitsablauf so zu gestalten, dass er nicht nur zum
gewünschten Produktionsergebnis führt, sondern gleichzeitig auch dazu
dient, dem Lehrling modellhaft gewisse Verfahrensweisen vorzuführen, die
er nachher selbständig ausführen kann. Und die - für alle Teilnehmer
überlebenswichtigen - Koordinationsleistungen im Strassenverkehr können
nur deshalb mit einer derart erstaunlichen Schnelligkeit und
Verstehenssicherheit erfolgen, weil physische Bewirkungs- und symbolische
Kommunikationshandlungen praktisch vollständig miteinander koinzidieren.
Wer z.B. konsequent geradeaus fährt, realisiert erstens seine subjektive
Fortbewegungsintention und teilt zweitens den andern Verkehrsteilnehmern
mit, dass er genau diese Intention unbeirrt verfolgt.
Im besonderen eignen sich alle im kollokalen Feld vollzogenen
Handlungen auch dazu, um Metainformationen darüber zu transportieren, wie
der Akteur diese seine Handlung genau interpretiert, und wie er sein
Rollenhandeln auf seine Person bezieht. So kann der "Stil" des
Verhaltens unmissverständlich verraten, dass man das zu lösende Problem
für eine repetitive Routineaufgabe hält, dass der höflich empfangene
Besucher im Grunde unwillkommen sei, oder dass man Wert darauf legt, sich
gegenüber den auszuführenden Pflichten in ein Verhältnis
kritisch-ablehnender "Rollendistanz" zu setzen (Goffman 1961:
75ff.).
Auf diese Weise lassen sich Verhandlungsprozesse gleichzeitig als
Trägermedium für äusserst bedeutsame Begleitinformationen über dieses
Verhalten nutzen, die sonst zusätzlich in verbaler Form (und damit:
zeitverzögert und selektiv) bereitgestellt werden müssten.
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