Ein theoretischer Integrationsversuch
(29 Dezember 1996)
VIERTES KAPITEL:
EIGENDETERMINIERTHEIT DER INTERAKTIONSPROZESSE ALS
SUBSTITUT FÜR SUBJEKTIVATIONEN UND OBJEKTIVATIONEN
4.3 Kollokale Interaktion im Spannungs- und
Substitutionsverhältnis zur Ebene kultureller Objektivationen
I
Kollokale Individuen sehen sich - weitgehend ohne eigenes Zutun - einem
dichtgewobenen und über verschiedenste Sinnesorgane vermittelten Feld
aktualer Wechselwirkungen ausgeliefert. Dieses Netzwerk horizontaler
Wahrnehmungs- und Einflussprozesse vermag eine derart hohe
Eigendetermination zu entfalten, dass externalisierte Symbolmuster mit
überindividueller, kultureller Geltung entweder nicht ausdifferenziert
und verselbständigt werden, keine Verwendung finden, mit dem
interreferentiellen Feld der Sinnorientierung in ein konfliktives
Verhältnis treten oder unter dessen Einfluss derart modifiziert werden,
dass sie mit der Aktualität des Erlebens und Erkennens besser im Einklang
stehen.
Diese relative Irrelevanz veräusserlichter, objektivierter
Symbolmuster ist dann besonders ausgeprägt, wen
- gleichzeitig sehr verschiedene Kanäle sinnlicher
Wahrnehmung (z.B. Riechen, Berühren, Hören, Sehen u.a.) zur
Verfügung stehen, die sich komplementär ergänzen;
- die Partner einander nahe genug sind, um einander in den Feinheiten
ihrer unverwechselbaren individuellen Eigenheiten wahrnehmen können;
- interpersonelle Wahrnehmungsakte den oben beschriebenen diffusen
Gesamtcharakter wahren: so dass sie gleichzeitig unter dem Aspekt
subjektiven Erlebens und objektiven Erkennens aufgefasst werden und
dadurch einen doppelten Orientierungswert entfalten.
So müssen kollokale Interaktionspartner zum Beispiel weniger auf den
"objektiven Sinn" ihrer Rede achten, solange aus dem Kontext der
aktuellen Gesamtsituation und aus den nichtverbalen Begleitäusserungen
hinreichend ersichtlich ist, wie der Redner es meint, wenn er genau jetzt
genau dies sagt.
Und sie brauchen ihre wechselseitigen Erwartungen kaum an ihren
objektiven Status- oder Rollenmerkmalen (Geschlecht, Alter, Bildung,
Beruf, ethnische Herkunft u.a.) festzumachen, solange die
Rückkoppelungsdichte gross genug ist, um dem kollokalen Feld Merkmale
einer autarken, sich mit eigenen Bordmitteln spezifizierenden und
stabilisierenden Insel sozialer Interaktion und Verständigung zu
verleihen.
Wenn sich zwei in sinnlicher Wahrnehmung aufeinander bezogene Partner
räumlich voneinander entfernen, findet eine stufenweise qualitative
Verarmung und quantitative Ausdünnung ihres Interdependenzfeldes statt,
die einerseits durch eine verstärkte Mobilisierung internaler subjektiver
Vorstellungen und Erlebnisgehalte (vgl. 5.4), andererseits aber auch durch
einen vermehrten Einsatz überindividueller Konventionen oder materieller
Trägersubstrate wettgemacht werden kann (Schütz 1974: 246).
Soll beispielsweise der vorher im "zwanglosen Gespräch unter vier
Augen" geführte Kommunikationsprozess auch über noch wachsende
räumliche Distanzen hinweg aufrechterhalten werden, sehen sich die
Partner zu folgenden Anpassungen gezwungen:
- Sie müssen gut und akzentuiert deutlich rufen; und damit eine Form
der Stimmführung wählen, bei der verschiedene Modalitäten der
Intonation, die den Sinn mündlicher Rede normalerweise
mitkonstituieren, kaum mehr zum Ausdruck gelangen können.
- Elaborierte Ausführungen werden durch verkürzte und prägnante,
mit der Sprech- und Hörphysiologie noch vereinbare Äusserungen
ersetzt: so dass die erfolgreiche Verständigung (wie bei jeder
Verwendung eines "restringierten Codes") davon abhängt,
dass die Sprechenden ein umfangreiches Repertoires konventioneller
Vorverständigung miteinander teilen.
- Nichverbale Begleitäusserungen mimischer und gestischer Art, die
das Verständnis der kollokalen Rede so erleichtern, fallen immer mehr
weg, weil der Sprecher eine anstrengende, eher von generellen
physiologischen Zwängen statt individualisiertem Ausdruck diktierte
Körperhaltung und Gesichtsmimik einnehmen muss, und weil das visuelle
Auflösungsvermögen des Hörers zu gering ist, um subtile
Verhaltenskundgaben zu registrieren. Dementsprechend muss der gesamte
Sinngehalt einer verbalen Äusserung immer ausschliesslicher vom
"objektiven Sinn" der gesprochenen Worte her erschlossen
werden, oder es werden äusserst deindividualisierte Gesten (z.B.
Winkbewegungen) verwendet, die mit einem völlig standardisierten
Bedeutungsgehalt ausgestattet sind und in forcierter, übertriebener
ritualisierter Weise ausgeführt werden müssen, um ihren Signalwert
zu behalten.
Bei ständig wachsender Entfernung wird sich das Ausdrucksrepertoire
schliesslich auf elementare Lautäusserungen oder visuelle Kundgaben
digitaler Art (Hand-, Licht- oder Rauchzeichen) beschränken, deren
kommunikativer Gehalt völlig davon abhängig ist, dass sie im Rahmen
eines streng konventionalisierten Codes (z.B. eines Morse- oder
Flaggenalphabets) präzise definiert sind.
Immer ist mit dem Überwechseln von kollokaler zu translokaler
Interaktion eine erhöhte Tendenz
- zur konservativen Anlehnung an bestehende, möglichst gut
verankerte und standardisierte Symbolsysteme
- zur konformen Einbindung in semantische Strukturen mit möglichst
extensiver gesellschaftlicher Geltung
verbunden.
Und immer stärker wird die Kommunikation auf das niedrige
Komplexitätsniveau jener simplifizierten Codes heruntertransformiert,
deren Kenntnis und Beherrschung jedem Partner zugemutet werden darf:. Nur
so kann man sicher sein, richtig gesendet zu haben und/oder richtig
verstanden zu werden, auch wenn bestätigende oder korrigierende
Rückmeldungen erst viel später oder gar nicht erfolgen.
In der kollokalen Situation ist durch die intensive inter-individuelle
Wechselwirkung dafür gesorgt, dass die drei analytischen Bestandteile des
Kommunikationsprozesses
- Inhalt der Mitteilung
- Akt der Enkodierung und Transmission
- Akt der Rezeption und Decodierung
in einem gesicherten, sich ohne Anstrengungen und Zeitverluste
einstellenden Zusammenhang zueinander stehen. Die Inhalte des Gesagten
erhalten erst durch die reziprok zu verifizierenden Umstände, wer sie
wann wie ausdrückt und rezipiert, ihren spezifischen,
situationsunabhängigen Sinn.
Unter translokalen Bedingungen sind diese drei Komponenten viel
stärker voneinander dissoziiert: indem der Sender z.B. nicht nachprüfen
kann, ob und unter welchen Bedingungen der Empfänger die Botschaft
aufnimmt und wie er darauf reagiert; und der Empfänger auf den isolierten
Mitteilungsinhalt (z.B. in Form eines Schriftstückes) verwiesen ist, ohne
dass er zu deren Verständnis präzise Kenntnisse über die
Situationsbedingungen oder die Motivationen des Senders, die beim
Enkodierungszeitpunkt bestanden haben, beiziehen könnte.
Damit unter solch erschwerten Bedingungen Kommunikation gelingen (und
ihr Gelingen erfolgreich erwartet werden) kann, müssen zur Abstützung
kulturelle Konventionen und Objektivationen herangezogen werden, die eine
zweifache Aufgabe erfüllen.
- Sie müssen sicherstellen, dass der Empfänger unabhängig sowohl
von den Begleitumständen der Emission wie auch von den Inhalten des
Übermittelten motiviert ist, die Botschaft zu rezipieren. Diese
generalisierte Rezeptionsbereitschaft muss erwartbar sein: weil sonst
der Mitteilende nicht motiviert wäre, (weiter) zu senden. Diese
Funktion wird von den auf gesamtgesellschaflticher Ebene verankerten
(und gemeinsam mit der Gesellschaft koevoluierenden) generalisierten
Kommunikationsmedien erfüllt.
- Sie müssen sicherstellen, dass die Inhalte der Mitteilung
unabhängig von den Bedingungen ihrer Emission wie auch ihrer
Rezeption einen invarianten, festgelegten Sinn beibehalten. Die
Kommunikationspartner müssen sicher sein können, richtig verstanden
zu werden, obwohl sie sehr wenig voneinander wissen - und dies umso
mehr, weil Missverständnisse nur mühsam und mit Verzögerung
identifiziert und korrigiert werden können. Zu diesem Zweck ist die
Ausdifferenzierung formalisierter, kontextfrei verwendbarer Codes
notwendig, mit deren Hilfe "immanent verständliche
Symbolmuster" (z.B. schriftliche Texte) erzeugt werden können.
Auch von dieser Seite her kovariiert die Reichweite erfolgreicher
translokaler Interaktion unmittelbar mit dem Stadium der
sozio-kulturellen und technischen Evolution.
II
Ausserhalb kollokaler Interaktionsfelder hängt es weitgehend vom
gesamtgesellschaftlichen Institutionalisierungsgrad generalisierter
Kommunikationsmedien wie "Macht", "Geld",
"Liebe" oder "Wahrheit" ab, ob Kommunikationsprozesse
(a) faktisch gelingen und ob (b) ihr Gelingen dermassen erwartbar sind,
dass komplexe und dauerhafte Interaktionsstrukturen aufgebaut werden
können.
1) Macht:
Unter Anwesenden ist es normalerweise weder notwendig noch hinreichend,
soziale Beziehungen in Termini objektiver Machtdifferentiale zu kodieren,
um asymmetrische Einflussprozesse oder Führer-Gefolgschaftsverhältnisse
zu erzeugen und zu stabilisieren. Denn die Ubiquität interpersoneller
Ausstrahlungs-, Überzeugungs-, Kontroll- und Sanktionsmechanismen sorgt
dafür, dass im Interaktionsverlauf eine endogene Ungleichverteilung von
Partizipations- und Steuerungschancen aufgebaut werden kann, die von den
Wechselfällen der Interaktionsgeschichte sowie den Merkmalen der
konkreten physischen Einzelpersonen abhängig bleibt.
So kann man beobachten, dass sich an internationalen Konferenztischen
keineswegs die "objektiven Machtverhältnisse" zwischen
gigantischen Supermächten und marginalen Kleinstaaten getreulich
widerspiegeln: weil das faktische Gewicht der Delegierten immer auch davon
abhängig ist, welche Eigenschaften persönlicher Art (Charisma,
Überzeugungskraft, Engagement, taktische Kompetenz u.a.) sie in den
Verhandlungsprozess einbringen (vgl. Yung-mei 1979: 347ff.). Selbst der
dominierendste konnubiale Ehemann wird ohne Widerstreben für Frau und
Kinder die nötigen Subsistenzmittel zur Verfügung stellen: während er
nach der Scheidung oft genug nur durch gerichtlichen Zwang dazu bewegt
werden kann, auch nur die mindesten Alimente zu entrichten. Und ein
mächtiger Grossunternehmer kann relativ leicht in eine gesamtkommunale
Verantwortung eingebunden werden, solange er in der Standortgemeinde
seines Betriebes wohnt und den entsprechenden Mechanismen informeller
Kontrolle unterliegt, während abwesende Firmeneigentümer wenig Skrupel
verspüren, die ihnen formalrechtlich zustehenden Eigentumsrechte bis zur
letzten Rücksichtslosigkeit auszunützen (vgl. Warner/Low 1947: 180ff.).
Vor allem der moderne Staat ist natürlich darauf angewiesen,
";Macht" als ein zwar auf Einflussmittel abgestütztes, aber
weit darüber hinaus generalisiertes und kontextfrei allozierbares
Kommunikationsmedium in Anspruch zu nehmen, um im hintersten Winkel eines
beliebig weiten Territoriums dieselbe Intensität von
"Herrschaft" wie unmittelbar neben dem Regierungspalast
gewährleisten zu können. Die Bedeutung dieser evolutionären
Errungenschaft wird z.B. im Vergleich mit frühmittelalterlichen
Gesellschaftsordnungen deutlich, wo sich der Herrschaftsbereich des
Kaisers vorwiegend um den Ort seiner jeweiligen Anwesenheit konzentrierte:
so dass eine permanente Reisetätigkeit nötig war, um eine umfassendere
räumliche Reichweite seines Einflusses zu sichern.
2) Geld:
Mitglieder kollokaler Gruppen lassen sich leicht zu Leistungen aller
Art bewegen, für die sie anstelle von Geld Belohnungen diffuserer Art
akzeptieren, die (wie z.B. Respekt, Lob, Ehre, Dankbarkeit) nur im
partikulären Interaktionsfeld einen "Tauschwert" besitzen.
Solche Belohnungsmittel beziehen ihre unwiderstehliche Kraft daraus, dass
sie unmittelbar auf die Leistung folgen und schon deswegen akzeptiert
werden müssen, weil ihre Zurückweisung ganz generelle Zweifel an der
Teilnahmewilligkeit, Vertrauenswürdigkeit und Berechenbarkeit des Akteurs
nach sich ziehen würde.
So kann man beispielsweise feststellen, dass sich Individuen auf
kommunaler Ebene relativ leicht für unbezahlte öffentliche Ehrenämter
zur Verfügung stellen oder sich zu spontaner nachbarschaftlicher
Hilfeleistung bereitfinden können. Naheliegend, aber durchaus
unberechtigt ist die Vermutung, dass sich derartige Dispositionen nur
unter dauerhaft-gemeinschaftlich zusammenlebenden Personen einstellen
würden. Es fällt uns ehrlich schwer, einem uns um Rat fragenden
Stadttouristen (und erst recht einem bereits im Wagen sitzenden
Autostopper) selbst extravagante Bitten abzuschlagen, und die
sozialwissenschaftliche Surveytechnik geht wie selbstverständlich davon
aus, dass sich die von einem Interviewer zu Hause aufgesuchten Informanten
in der Regel zu einer völlig unbezahlten Befragungsteilnahme bewegen
lassen - während materielle Anreize bei fernschriftlicher Befragungen
durchaus ein hohes Gewicht erhalten können (vgl. z.B. Wieken 1974: 151).
3) Liebe
Meinem "Nächsten" gegenüber stelle ich in mir die
eigenartige Neigung fest, auf die ganze Fülle von Erkenntnissen und
Erlebnissen, die seine Gegenwart mir vermittelt, in einer integralen (z.B.
alle Impressionen zu einem Gesamteindruck von "Sympathie" oder
"Antipathie" zusammenfassenden) Weise zu reagieren. Gerade weil
die Komplexität des Wahrgenommenen im Falle menschlicher Personen viel zu
gross ist, um in rein kognitiven Modellvorstellungen abbildbar zu sein,
muss ich mich auf die holistische, spontan-unkontrollierbare
Synthesetätigkeit meiner Emotionen verlassen, um augenblicklich
Sicherheit darüber zu gewinnen, was mir die nahe Person bedeutet, wie ich
zu ihr Stellung beziehe und auf ihre Äusserungen reagieren möchte.
So finden sich kollokale Partner alsbald in spontan-unkontrolliert
erzeugten Bezogenheiten zueinander vor, bei denen vorerst höchst
undeutlich bleibt, in welcher Weise sich objektivierende Kognitionen und
subjektive Affektreaktionen miteinander verbinden. Die endogene
Eigendynamik derartiger Relationen wird besonders deutlich bei jenen
sexuellen Intimbeziehungen, die im okkasionellen räumlichen Beisammensein
der Partner (in Autos, Nachtzugabteilen, Zeltlagern u.a.) ihre praktisch
hinreichenden Ursachen haben und erst dann, wenn sie über diese eine
Kollokalphase hinaus andauern sollen, einer begrifflichen Etikettierung
(als "Bekanntschaft", Freundschaftsbeziehung" u.a.)
bedürfen.
Indem die Partner sich auf die semantische Konvention verständigen,
ein "Liebespaar" im gesellschaftlich üblichen Sinne zu sein,
können sie die exklusive Qualität ihrer Beziehung über beliebige
Verdünnungsphasen oder Unterbrüche ihrer faktischen Interaktionen hinweg
sicherstellen und können davon ausgehen, dass Blumengrüsse, sentimentale
Postkarten oder nächtliche Telefonanrufe als legitime, erwartbare
Symptome ihres "Verhältnisses" (anstatt als unmotivierte
Belästigungen) verstanden werden.
Und auch die expliziten Gebote der christlichen Liebesethik gewinnen
erst in dem Masse an Gewicht, als Solidaritäts- und Hilfebeziehungen
über jenen engen kollokalen Kreis hinaus ausgedehnt werden sollen, um
auch jene "Fernsten" mitzuumfassen, zu denen ich mich nur
vermittelst generalisierter kultureller Wertvorstellungen in "prosozialer"
Weise zuwenden kann (vgl. z.B. Luhmann 1973a).
4) Wahrheit
Im Gespräch unter Anwesenden fällt es im allgemeinen sehr schwer,
Behauptungen und Argumente nur "für sich selbst sprechen zu
lassen" und sicherzustellen, dass sie ausschliesslich auf Grund ihrer
immanenten Qualitäten (Evidenz, logische Stringenz, objektiver
Wahrscheinlichkeitsgrad u.a.) Anerkennung finden oder Widerspruch erregen.
Denn weil die Inhalte der Kommunikation sich nicht von den situativen
Randbedingungen (ihrer Enkodierung und Transmission einerseits und ihrer
Rezeption und Dekodierung andererseits) loslösen lassen, wird ihr
Sinngehalt (und damit auch: ihre Chancen, als wahr zu gelten) immer davon
mitbeeinflusst, von wem, zu welchem Zeitpunkt, in welcher Weise und in
Richtung auf welche Adressaten sie geäussert werden.
So kann ich nicht davon abstrahieren, ob jemand seine unwahrscheinlich
klingenden Reiseanekdoten mit ernsthaftem, vertrauenserweckendem
Gesichtsausdruck oder mit ironisch-relativierendem Augenzwinkern
begleitet; und der rhetorisch versierte Rheumadeckenverkäufer vermag
hinsichtlich der Vorzüge seiner Produkte handlungsmotivierende
Überzeugungen zu wecken, die zumindest bis zum erfolgreichen
Kaufvertragsabschluss überlebensfähig bleiben.
Möglicherweise verfügt jeder Mensch über ein gewisses (allerdings
irreversibel verspielbares) "generalisiertes
Glaubwürdigkeitskapital": in dem Sinne, dass er die Akzeptanzchancen
irgendeiner Aussage erhöhen kann, wenn er sich mit der Integrität seiner
ganzen Person dafür verbürgt. Und manche sind auf Grund eines
personengebundenen Charismas ("referent power") in der Lage, in
ihrem kollokalen Nahfeld Konsens (bzw. Nichtdissens) über ihre Meinungen
zu erzeugen: so dass sie unsanktioniert in die Irre gehen können, wenn
sie nicht aus ferneren Regionen, wo ihre Ausstrahlung unwirksam ist,
unvoreingenommene Kritik erfahren.
Um die Akzeptanz von Assertionen auch über räumliche Distanzen hinweg
sicherzustellen, ist es nämlich notwendig, den Inhalt der Mitteilung
selbst mit immanenter Glaubwürdigkeit auszustatten: weil man nicht mehr
auf unterstützende Wirkungen diffuser interpersoneller Beeindruckungen
zählen kann. So muss man für praktisch alle schriftlich vermittelten
Behauptungen "Wahrheit" in Anspruch nehmen, indem man darlegt,
dass sie strikt auf dem Wege gesellschaftlich anerkannter Verfahren der
Wahrheitsfindung (z.B. logische Deduktion, mathematische Kalkulation oder
empirische Beobachtung) gewonnen worden sind und eine von allen
zufälligen Partikulärbedingungen ihrer Kommunikation unabhängige
Geltung besitzen.
So ist es leicht verständlich, dass die mit der Schriftkultur
einhergehenden Explikationszwänge eine notwendige historische
Voraussetzung für die Entfaltung systematischerer Methoden des Denkens
und Erkennens darstellen, und dass im translokalen Kommunikationsfeld
zwischen den antiken griechischen Poleis besonders günstige Bedingungen
für die Entstehung einer autonom sich selbst begründenden Philosophie
bestanden haben (vgl. Havelock 1963, Luhmann 1984: 128).
Ebenso mag es der modernen Wissenschaft auf der Ebene weltweiter
translokaler Schriftinterkation (via Zeitschriften, Monographien u.a.)
besser als auf dem Niveau ihrer kollokalen Subsysteme (Kongresse oder
Institute) gelingen, ihre Massstäbe strikter Überprüfbarkeit aller
Wahrheitsansprüche unverfälscht zur Geltung zu bringen.
Während kollokale Systeme also in weitem Umfang in der Lage sind, die
für das Gelingen systeminterner Kommunikationen nötigen Bedingungen
"mit eigenen Bordmitteln" (allerdings ziemlich
unkontrollierbarer Natur) zu erzeugen, so sind translokale
Interaktionssysteme auf die Inanspruchnahme institutionell oder
gesamtgesellschaftlich verankerter Übertragungsmedien angewiesen und
bleiben deshalb sowohl hinsichtlich ihrer Reichweiten wie auch ihrer
Erfolgswahrscheinlichkeiten enger an historisch variable sozio-kulturelle
Voraussetzungen auf der gesellschaftlichen Makroebene gebunden.
Die Vorstellung, dass im Zuge der gesellschaftlichen Evolution die
Ausdifferenziertheit und Belastbarkeit generalisierter
Kommunikationsmedien ständig zunehmen (und eine dementsprechend eine
zunehmende Verlagerung von kollokaler zu translokaler Interaktion
ermöglichen) würde, ist auf Grund mancher spektakulärer historischer
Entwicklungen sehr naheliegend, vermag aber der Komplexität der
Verhältnisse nicht voll Rechnung zu tragen.
Zwar ist es im Vergleich zu mittelalterlichen Verhältnissen in mancher
Hinsicht ein Fortschritt, wenn der Kaiser nicht mehr zum Untertan
hinreisen, der Kaufleute ihre Ware nicht mehr bis zum Kunden begleiten,
Studenten nicht mehr ihrem Professor nachziehen, Gläubige nicht mehr an
die Reliquienstätte pilgern und Philanthropen sich nicht selbst an die
Orte des Elends begeben müssen, um ihre spezifische institutionelle
Rollenfunktion zu erfüllen.
Solange institutionelle Transaktionen nämlich der Vermittlung durch
kollokale Mikrointeraktionen bedürfen, sind sie nicht nur sehr aufwendig
und in ihrer Quantität und Reichweite äusserst beschränkt, sondern vor
allem auch wenig standardisierbar und unzuverlässig in ihrer Wirkung:
"....denn wo es sich bloss um sachliche Übermittlungen handelt,
ist das Reisen einer Person eine äusserste Unbehilflichkeit und
Undifferenziertheit: weil die Person eben all das Äussere und Innere
ihrer Persönlichkeit, das mit dem gerade vorliegenden Sachverhalt nichts
zu tun hat, als Tara mitschleppen muss. Und wenn hiermit auch das
Nebenprodukt mancher personalen und Gemütsbeziehung gewonnen wurde, so
diente doch gerade dies nicht dem jetzt fraglichen Zwecke: die Einheit der
Gruppe fühlbar und wirksam zu machen." (Simmel 1908a: 503).
"Physische Anwesenheit" ist deshalb gerade kein geeignetes
Medium, um institutionelle Werte, Normen und Verfahren in idealtypischer
Reinheit zu repräsentieren und zu stabilisieren: weil die gegenwärtige
Person sich immer integral mit all ihren psysischen und psychischen
Attributen ins Spiel bringt und die soziale Beziehung mit Idiosynkrasien
und Informalitäten "verunreinigt", die sich teilweise nicht nur
der äusseren institutionellen, sondern auch ihrer inneren individuellen
Selbstkontrolle völlig entziehen.
Mittels objektivierter Symbolisierungen hingegen wird es möglich,
institutionelle Kommunikationen von inhomogenen, unzuverlässigen
menschlichen Personen auf standardisierte Artefakte zu übertragen, die
überall und zu jedem Zeitpunkt dieselbe gleichmässige Wirkung entfalten:
"Um in einer räumlich ausgedehnten Gruppe die voneinander
entfernten Elemente dynamisch zusammenzuhalten, bilden hochentwickelte
Epochen ein System mannigfaltiger Mittel aus: vor allem alles
Gleichmässige der objektiven Kultur, das von dem Bewusstsein, es sei hier
eben dasselbe, was es an jedem Punkt des gleichen Kreises ist, begleitet
wird: die Gleichheit der Sprache und des Rechtes, der allgemeinen
Lebensweise, des Stiles von Gebäuden und Geräten ...." (Simmel
1908a: 503).
Dadurch werden menschliche Personen andererseits dadurch dafür
freigesetzt, ihren räumlichen Aufenthalt unabhängiger von den
institutionellen Bezügen, in denen sie drinstehen, festzulegen und zu
verändern: so dass sie ihr knappes, unvermehrbares Gut "physische
Anwesenheit" besser für den Aufbau kleinerer, informaler
Kollokalsysteme auf subinstitutioneller Ebene ausnutzen können.
In Termini von Niklas Luhmann bedeutet dies, dass die beiden Ebenen
- der durch "Anwesenheit" konstituierten Interaktionssysteme
einerseits
- der auf "Mitgliedschaft" basierenden Organisationssysteme
andererseits
sich wechselseitig stärker verselbständigen können: so dass es
einerseits mehr Spielräume gibt, in denen Kollokalgruppen sich
indifferent (bzw. gar: subversiv-unterminierend) gegenüber den
institutionellen Sphäre entfalten können, und die Organisationen
andererseits lernen, sich gegenüber An- und Abwesenheit ihrer Mitglieder
unempfindlicher zu machen (Luhmann 1975)
Diese Unempfindlichkeit wird wahrscheinlich in dem Masse stärker
beansprucht, als die Individuen einen diversifizierteren Rollenset
erwerben und ihre höchstens durch Schlafverzicht vermehrbare
Gesamtanwesenheitsdauer zwischen immer mehr verschiedenen Kollokalfeldern
(Vereinsversammlungen, Kommissionssitzungen, Stammtischrunden u.a.)
aufteilen müssen.
Andererseits kann man nun aber auch gegenläufige Entwicklungen
konstatieren, in deren Verlauf gerade sehr moderne Institutionen wieder
völlig vom Medium kollokaler Interaktion abhängig werden.
Sicherlich wird die Früherziehung des Kindes und grösstenteils auch
dessen Schulausbildung heute mehr denn je als ein Prozess interpretiert,
der nur im Kontext informeller Primärgruppen verlässlich stattfinden
kann: weil man sich auf die Fernmotivierung generalisierter Medien wie
Geld, Macht, Liebe oder Wahrheit (deren Semantik ja in der Sozialisation
zuerst erlernt werden muss) nicht verlassen kann, und weil andererseits im
Erziehungssystem auch kein eigenes institutionelles Übertragungsmedium
zur Verfügung steht (vgl. Luhmann/Schorr 1979).
Ebenso kann man im religiösen Bereich mindestens seit der Reformation
viele Anzeichen dafür finden, dass kollokale Systeme (z.B.
Bibellesegruppen) als Medium der Glaubensvermittlung erhöhte Bedeutung
gewinnen: ganz abgesehen von modernen, ostasiatisch inspirierten Sekten,
in denen die religiöse Erfahrung oft völlig mit
Gruppengemeinschaftserlebnissen oder dem "persönlichen Verhältnis
zum Guru" koinzidiert.
Und schliesslich wird an der Proliferation von Geschäfts- oder
Dienstreisen sichtbar, dass man Prozesse interaktiven Verhandelns und
Aushandelns nach wie vor nur informellen Gesprächen unter Anwesenden
überlassen möchte: was die Vermutung bestärkt, dass der
Generalisierungsgrad institutioneller Kommunikationsmedien nicht nur
evolutionär bedingten, sondern wohl auch absoluten, immanent gesetzten
Schranken unterliegt.
III
Generalisierte Kommunikationsmedien schaffen zwar die motivationalen,
noch nicht aber die kognitiven Voraussetzungen dafür, dass
Kommunikationen fern vom Ort und Zeitpunkt ihrer Enkodierung aufmerksam
wahrgenommen, entschlüsselt und in den Erlebnis- oder Handlungshorizont
des rezipierenden Subjekts übernommen werden.
Damit die Botschaft wirklich ankommt und auf zuverlässig vorhersehbare
Weise verstanden wird, muss gewährleistet sein, dass enkodierende und
dekodierende Akteuren über kongruente Wahrnehmungsfähigkeiten und
Interpretationsschemata verfügen.
In dem Masse nun, wie wegen der raum-zeitlichen Trennung der
Interaktionspartner
- nicht vorausgesehen werden kann, zu welchem Zeitpunkt und
unter welchen situativen Bedingungen (bzw. gar: durch wen) die
Dekodierung erfolgt;
- zu wenig Rückkoppelung besteht, um Fehler oder Unklarheiten in der
Übermittlung rasch identifizieren und korrigieren zu können,
bleibt die Spannweite erfolgreicher Kommunikation auf jene Inhalte
eingeschränkt, die einen gegenüber den variablen Bedingungen der
Emission und Rezeption unempfindlichen (d.h. sowohl übersubjektiv wie
übersituativ stabilisierten) semantischen Kerngehalt besitzen.
Zum Verständnis dieser zweiten, ebenfalls vom evolutionären Niveau
der Gesamtgesellschaft und ihrer institutionellen Ordnungen abhängigen,
Schranke ist es nötig, sich zuerst ganz prinzipiell über die
verschiedenen Modi sozialer Sinnkonstitution und ihr unterschiedliches
Verhältnis zu den physisch-räumlichen Bedingungen interindividueller
Kommunikation klarzuwerden.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Ereignisse und Dinge aller
Art, (und damit auch menschliche Handlungen und deren Ergebnisse) ihren
Sinn niemals in substanzialistischer Weise in sich selber tragen, sondern
ihn im Rahmen eines seligierbaren "Verweisungszusammenhanges"
erst zugewiesen bekommen. Dabei besteht die besondere Eigenart
menschlicher Handlungen und Handlungsergebnisse darin, dass sowohl
Emittenten wie Rezipienten unabhängig voneinander über die Selektion
dieses Rahmens autonom verfügen, und der soziologische Beobachter zudem
vor dem Problem steht, ebenfalls eine eigene, dritte
Auffassungsperspektive zu wählen und mit derjenigen der Akteure und ihrer
Partner in Beziehung zu setzen.
Je nachdem, ob man ein Handeln
- selbstreferentiell auf den erzeugenden Akteur (personelle
Ebene),
- suprareferentiell auf übersubjektiv geltende Symbolstrukturen
(institutionell-kulturelle Ebene)
- interreferentiell auf interaktive Beziehungen zwischen verschiedenen
Subjekten (soziale Ebene)
hin relationiert, erscheint es im Lichte verschiedenartiger, häufig
inkommensurabler Deutungshorizonte, von denen her auch die verschiedenen
humanwissenschaftlichen Disziplinen (Psychologie, Kulturwissenschaften,
Soziologie) ihre spezifische Prägung erhalten:
"Man wird die historischen Erscheinungen im ganzen auf drei
prinzipielle Standpunkte hin ansehen können: auf die individuellen
Existenzen hin, die die realen Träger dieser Zustände sind; auf die
formalen Wechselwirkungsformen, die sich freilich auch nur an
individuellen Existenzen vollziehen, aber jetzt nicht vom Standpunkt
dieser, sondern von dem ihres Zusammen, ihres Miteinander und Füreinander
betrachtet werden.; auf die begrifflich formulierbaren Inhalte von
Zuständen und Geschehnissen hin, bei denen jetzt nicht nach den Trägern
oder ihren Verhältnissen gefragt wird, sondern nach ihrer rein sachlichen
Bedeutung, nach der Wirtschaft und der Technik, nach der Kunst und der
Wissenschaft, nach den Rechtsnormen und den Produkten des
Gefühlslebens." (Simmel 1908d: 13.).
1) Selbstreferentielle Orientierung: "Subjektiver Sinn"
Der "subjektive Sinn" ergibt sich dadurch, dass man als
Referenzrahmen den erzeugenden Akteur wählt und die zu deutenden
Handlungen auf seine übrigen Verhaltensweisen, Erlebnisse, Motive,
Intentionen, Affekte, Qualifikationen u.a. hin relationiert. Normalerweise
ist es der Akteur selbst, der vorrangig diese selbstreferentielle
Perspektive wählt, weil er zu seinen internalen Zuständen und Prozessen
(zumindest, soweit sie in seinem Bewusstseinsfeld fassbar sind) einen
weitaus besseren Zugang als alle Aussenstehenden besitzt: Ich allein weiss
am besten, warum ich jetzt diese bestimmte Arbeit tue, genau in diesem
Moment auf ein bestimmtes Thema zu sprechen komme, und welche Absicht ich
mit dem Eintritt in eine Vereinigung oder der Aufkündigung einer
Freundschaft verbinde. Wahrscheinlich ist jeder Akteur unablässig
genötigt, seine eigenen Handlungen mit "subjektivem Sinn"
auszustatten: weil er anders als durch ständige Selbstattribution von
"Weil-Motiven" und "Um-zu-Motiven" wohl nicht in der
Lage wäre, seinem Erleben und Handeln Konsistenz zu verleihen und im
Wechsel der Bewusstseinsinhalte und Ereignisse seine Identität zu wahren.
Andererseits können auch beliebige Fremdbeobachter die
selbstreferentielle Perspektive des handelnden Akteurs usurpieren: sofern
sie sich in der Lage fühlen, sein Verhalten als Korrelat eines
"inneren Motivationszusammenhangs" nachzukonstruieren oder als
Ausdruck einer bestimmten Persönlichkeitskonstellation zu
"verstehen".
Fremdzugerechnete Selbstreferenzen können gegenüber den
Eigenzurechnungen des Akteurs oft sogar in Führung gehen, obwohl
Aussenstehenden der Zugang zum innerpsychischen Erleben des ALTER EGO
völlig fehlt: z.B. wenn EGO einen Psychotherapeuten braucht, um seine
eigenen, bisher unbewussten Motivationen in die Reflexion einzubeziehen,
oder wenn er die Beweggründe oder Ergebnisse seiner Handlungen äusseren
Gegebenheiten zurechnet ("situative Attribuierung"), während
ALTER sie als Ausdruck seiner Persönlichkeit ("dispositionale
Attribuierung") interpretiert (vgl. Jones/Nisbett 1971).
Charakteristisch für die Konstitution von "subjektivem Sinn"
ist in jedem Fall, dass das Handeln vorrangig weder unter dem
Gesichtspunkt seines aktuellen Verhaltensablaufs noch seiner
schliesslichen Ergebnisse ins Zentrum des Interesses rückt, sondern unter
dem Blickwinkel seiner intrasubjektiven Antezedenzbedingungen und
Begleitkorrelate, die der ganz andersartigen Ebene des Psychischen
angehören und häufig sogar dem Akteur selbst nur in der Form abstrakter
Konstrukte ("ich bin halt ehrgeizig", oder: "ich bin in
meinem Beruf im grossen und ganzen glücklich") zur Verfügung
stehen. Entsprechend dem strengen Nacheinander subjektiver Erlebnisse und
Handlungen können sich subjektive Sinnzusammenhänge meist nur im
Horizont umfänglicher diachroner Zeitperspektiven konstituieren: z.B.
wenn man eine Untat als Ergebnis langer jugendlicher Verwahrlosung oder
als Vergeltung eines früher erfahrenen Unrechts deutet, oder wenn man die
Vorstellung eines weit in die Zukunft reichenden
"Handlungsentwurfs" beizieht, um EGO`s aktuelles Engagement in
Schule, Beruf, Politik u.a. adäquat zu verstehen.
Auch wenn eine durch räumliche Nähe konstitutierte "umweltliche
Situation" entgegen der Meinung von Schütz mir keineswegs erlaubt,
unmittelbar "auf die Erlebnisse des Du hinzublicken" (vgl.
Schütz, 1974: 228), so ist Kollokalität in mancher Hinsicht eine
günstige Voraussetzung, um via Empathie und/oder kommunikative
Verständigung Zugang zur Innenperspektive eines ALTER EGO zu gewinnen:
sofern ich in der Lage bin, seine Verhaltensweisen als Ausdruckskundgaben
seiner Subjektivität zu deuten oder mittels reger verbaler Kommunikation
zumindest die seiner eigenen Propriozeption zugänglichen Gefühle,
Absichten u.a. zu ergründen.
Andererseits kann Kollokalität die Fremderfassung von subjektivem Sinn
aber auch drastisch behindern: weil die Erfassungsperspektive oft ganz
ungebührlich auf das aktual beobachtbare "Mikrohandeln"
zusammenschrumpft (vgl. 3.4), weil gleichläufig mit den
Ausdrucksmöglichkeiten auch die Chancen erfolgreicher Täuschung und
Camouflage wachsen, und vor allem: weil ein ganz andersartiger, von
Schütz unberücksichtigter Modus "interreferentieller
Sinnkonstitution" (vgl. unten) die Führung übernimmt.
2) Suprareferentielle Perspektive: "objektiver Sinn"
Die Welt des "objektiven Sinns" ist identisch mit der Welt
der Symbole, die ihre Bedeutung aus einem kulturell definierten
wechselseitigen Verhältnis zueinander beziehen und dank dieser
"horizontalen Einbettung" (in umfassendere Symbolsysteme) einen
von ihrer "vertikalen Einordnung (in subjektive Bewusstseins- und
soziale Interaktionssysteme) unabhängigen, d.h. kontextfreien,
semantischen Kerngehalt besitzen.
Konstitutiv für den sinnhaften "Verweisungshorizont"
objektiver Symbole sind also übersubjektiv wie auch
"überkommunikativ" verselbständigte symbolische Ordnungen,
deren Elemente durch Regeln der Logik, der Ähnlichkeit oder
Verschiedenheit, der gemeinsamen Herkunft, der kausalen Wirkungsgesetze
oder irgendwelche anderen Prinzipien in distinktiven und/oder
kontextuellen semantischen Relationen zueinander stehen.
Eine rein distinktive Bestimmungsrelation besteht, wenn sich der Sinn
des Symbols ausschliesslich aus seinem komparativen Bedeutungsverhältnis
zu anderen Symbolen ergibt: z.B. bei formalisierten Zeichenstrukturen, wo
jedes Element eine exakt festgelegte und in allen Beziehungen, in denen es
auftritt, identisch bleibende Bedeutung beibehält. So ist etwa die
semantische Invarianz der Zahl "5" oder des Operationszeichens
"+" nicht nur über alle individuellen und sozialen
Verwendungskontexte, sondern auch über alle mathematischen Gleichungs-
und Modellstrukturen hinweg gesichert.
Eine völlig kontextuelle Bestimmungsrelation besteht umgekehrt z.B.
bei rein "indexikalischen" Ausdrücken wie "hier",
"ich" oder "jetzt", die ausschliesslich im grösseren
Zusammenhang eines Sprachtextes (konnotativ) oder einer konkreten
Situation (denotativ) interpretierbar sind, oder bei einzelnen
Federstrichen, Farbtupfern oder Tönen, die je nach der übergeordneten
"Gestalt" (Gemälde, Zeichnung, Melodie u.a.) in die sie
eingebettet sind, eine ganz unterschiedliche Wahrnehmungswirkung erzeugen.
Häufig kann sich die Determinationskraft des "objektiven
Sinns" nur beim Zusammenwirken distinktiver und kontextueller
Relationierungen voll entfalten. So erhält der simple Satz "es
regnet" allein durch seine distinktiven Verweisungen (dass es nicht
schneit, nicht hagelt u.a.) einen minimalen, über alle
Verwendungszusammenhänge hinweg stabilisierten Kerngehalt an Sinn; aber
wenn das situative Umfeld zusätzlich dazu verhilft, ihn als "typisch
englischen Dauerregen", als seltenes Wunderereignis in der Sahara
oder als Begleiterscheinung eines Orkangewitters zu identifizieren,
gewinnt er doch beträchtlich an Konturen.
Rein distinktive intersymbolische Bestimmungen haben den Vorteil, dass
objektiver Sinn in beliebig kleiner Münze universell transportierbar ist,
und dass verlässliche "Bausteine" für die intentionale
Konstruktion höherrangiger Symbolstrukturen (z.B. mathematische
Gleichungssysteme oder formalisierte Computer-Simultationsmodelle) zur
Verfügung stehen. Aber man muss diese Vorzüge teuer damit kaufen, dass
nur standardisierte "Sinnatome" mit unverrückbar fixierter
Bedeutung verfügbar sind, die sich nur akzeptieren oder zurückweisen,
nicht aber flexibel an veränderte Ausdrucksbedürfnisse adaptieren
lassen.
Umgekehrt kann man es sich bei kontextuellen intersymbolischen
Relationen erlauben, die Bedeutung elementarer Symbole offen zu halten und
(wie z.B. in poetischen Texten) jeweils holistisch von der Ebene eines
umfassenden Symbolzusammenhanges her respezifizieren zu lassen; aber dazu
muss es allerdings erst gelingen, die integrale Rezeption dieses
übergeordneten Symbolkomplexes sicherzustellen.
Überall wo die Einzelsymbole durch distinktive Relationen hinreichend
semantisch spezifiziert sind, kann ein "restringierter
Kommunikationscode" ausreichen, um erfolgreiche Übertragung zu
sichern: z.B. bei Angehörigen niedrigerer Sozialschichten, die viele
Begriffe in stereotypisierter Weise zu verwenden pflegen (vgl. Bernstein
1964) oder in paradigmatisch gut konsolidierten wissenschaftlichen
Disziplinen, deren Vertreter alle sehr spezifische Vorverständigungen
über die Bedeutung ihrer Terminologie miteinander teilen.
Umgekehrt sind zur Erzeugung von "objektivem Sinn" aufwendige
und risikoreiche Kommunikationen nötig, wenn die Einzelsymbole (noch)
unscharf definiert sind und/oder wenn die einzelnen Anwender Wert darauf
legen, über ihre Semantik autonom zu verfügen: z.B. bei Angehörigen der
Mittelschichten (vgl. Bernstein 1970: 113) oder den Wissenschaftlern einer
paradigmatisch uneinheitlichen Disziplin, die einen relativ hohen Anteil
an "semantischer Spezifikation" innerhalb des konkreten
Kommunikationsaktes selber leisten müssen und sich untereinander deshalb
nur durch einen höchst "elaborierten Code" verständlich machen
können (Lodahl/Gordon 1972).
Fragt man nach dem "objektiven Sinn" einer Handlung, kommt -
genau entgegengesetzt zum "subjektiven Sinn" - als Gegenstand
ausschliesslich das Ergebnis eines abgeschlossenen Handlungsvorgangs in
Betracht; sei es in der Form einer ex post überblickbaren Gestalt von
Bewegungsabläufen (Tanz, religiöser Ritus u.a.), als physische
Bewirkungen in der Umwelt (Vase zerschlagen, Kind gezeugt), die mit den
subjektiven Intentionen bekanntlich in sehr variablem Zusammenhang stehen
können, oder schliesslich in Form materialisierter Erzeugnisse
(Schriftstücke, Zeichnungen, Produktionswaren), die sich vom Kontext
ihrer handlungsmässigen Genese völlig loslösen können:
"Objektiven Sinn können wir hingegen nur einem Erzeugnis als
solchem prädizieren, also dem fertig konstituierten Sinnzusammenhang des
Erzeugten selbst, dessen Erzeugung in polythetisch aufbauenden Akten im
fremden Bewusstsein von uns unbeachtet bleibt." (Schütz 1974: 48).
3) Interreferentielle Sinndeutung: "kommunikativer Sinn"
Die dritte eigenständige Strategie der Sinndeutung besteht darin,
einen Akt auf den konkreten Zusammenhang intersubjektiver
Wechselwirkungen, Kommunikationen und Erwartungen zu beziehen, innerhalb
dem er sich vollzieht: d.h. ihn im Licht einer sozialen Situation zu
interpretieren, wie sie sich durch die Gesamtheit der von mehreren
Subjekten gemeinsam erzeugten interaktiven Prozessabläufe und
kommunikativen Verständigungen ergibt.
So lässt sich z.B. der genaue Sinn eines Satzes wie "Du hast mich
enttäuscht" weder aus seinem objektiv-sprachlichen Gehalt noch aus
der subjektiven (z.B. emotionell bestimmten) Motivation des Sprechers
hinlänglich erschliessen: weil erst aus der Kenntnis der interpersonellen
Gesamtsituation klar wird, ob es sich dabei um einen ironischen Einwurf,
einen milden Tadel, eine unkontrollierte Taktlosigkeit oder eine
absichtliche Beleidigung handelt. Ebenso kann die harmlose Bemerkung
"es regnet draussen" je nach dem Stand der Konversation die
Funktion haben, eine peinliche Verlegenheitspause zu überbrücken, eine
Aufforderung zum Spazierengehen abzuwehren oder von einem unerwünschten
anderen Gesprächsthema abzulenken.
Und der Sinn des täglichen Arbeitens erschöpft sich für mich
meistens nicht darin, eine gesellschaftlich institutionalisierte
Berufsfunktion auszufüllen ("objektiver Sinn") oder meine
Chancen der materiellen Existenz und zur persönlichen Selbstentfaltung zu
sichern ("subjektiver Sinn"); vielmehr wird sich die Frage,
warum gerade ich gerade jetzt gerade dies tue, häufig nur in Anbetracht
der Tatsache beantworten lassen, dass ich mich von Erwartungen,
Verpflichtungen, Bitten oder Sanktionsandrohungen leiten lasse, die von
Vorgesetzten, Kollegen, Untergebenen oder Klienten an mich herangetragen
werden.
Insbesondere bei der Einbettung in arbeitsteilige Interdependenzen kann
die interreferentielle Orientierungsebene eine hohe eigenständige
Determinationskraft entfalten und die Akteuren davon entlasten, permanent
nach dem "subjektiven Sinn" jeder einzelnen Handlung zu fragen
oder durch starre Anlehnung an standardisierten Deutungsschemata für
einen präzisen "objektiven Sinn" ihres Verhaltens zu sorgen.
Der Einschluss dieser dritten, in strengster Auffassung des Wortes
"soziologischen" Referenzebene der Sinnkonstitution bedeutet
eine Transzendierung der durch Durkheim, Weber und Schütz etablierten
"klassischen" Handlungstheorie, bei der sich das Phänomen des
Sozialen in geheimnisvoller Weise aus der Verknüpfung eines eher
psychisch fundierten "subjektiven Sinnes" und eines eher der
kulturellen Sphäre angehörigen "objektiven Sinnes"
konstituiert (vgl. Coenen 1985: 183).
Stattdessen wird hier die intermediäre Sphäre des
"Intersubjektiven" dazu beansprucht, um zwischen der reinen
Innenwelt des "Subjektiven" und der reinen Aussenwelt des
"Übersubjektiven" eine Brücke zu schlagen.
Während man sich beim "subjektiven Sinn einseitig auf die
intrapersonellen Antezendenzen und beim "objektiven Sinn" ebenso
ausschliesslich auf die extrapersonellen Konsequenzen des Handelns
konzentriert, richtet sich die interreferentielle Blickrichtung primär
auf das: d.h. auf jene leiblichen Bewegungsabläufe, die ihren primären
Sinn weder aus subjektiven Intentionen noch aus übersubjektiven
Konventionen, sondern aus ihrem Verhältnis zu den Verhaltensweisen
anderer (immer kollokal mitanwesender) Interaktionspartner beziehen.
Genauso wie Georg Simmel sich an kollokale Interaktionsverhältnisse
halten muss, um seinem Basiskonzept der interindividuellen
"Wechselwirkung" maximale Relevanz und Eigendeterminationskraft
abzugewinnen, muss auch Merleau-Ponty die elementare
Bedingungskonstellation raum-zeitlich ko-präsenter Menschen in Anspruch
nehmen, um behaupten zu können, dass das Soziale in einer allem
subjektiven und objektiven Sinn vorangehenden "zwischenleiblichen
Vergemeinschaftung" seinen Ursprung habe:
"Gebe ich einem Freund ein Zeichen, zu mir herüberzukommen, ist
meine Intention nicht ein Gedanke, den ich in meinem Inneren hegte, noch
nehme ich das Zeichen in meinem Körper wahr. Ich mache das Zeichen durch
die Welt hindurch, ich mache es dort, wo mein Freund sich befindet, der
Abstand, der mich von ihm trennt, seine Zustimmung oder Ablehnung spiegeln
sich unmittelbar in meiner Bewegung, es liegt keine Wahrnehmung vor, der
eine Bewegung folgt. Wahrnehmung und Bewegung bilden nur ein System, das
als Ganzes sich modifiziert." (Merleau-Ponty 1965: 136f.).
Subjektivierte und objektivierte Sinngehalte können als sekundäre
Verselbständigungen aus diesem ursprünglichen Verhältnis anonymer
"Zwischenleiblichkeit" begriffen werden und werden von dieser
genetischen Ebene her ständig dynamisiert:
- jedem "Sich-Verhalten" liegt ein "Sich-Zusammen-Verhalten"
zugrunde, dessen Sinn aus den Komplementaritätsrelationen der
beteiligten Individuen emergiert;
- alle übersubjektiv geltenden Sinnstiftungen (Normen, Sprache,
Wertmassstäbe) sind das Ergebnis andauernd voranschreitenden "Instituierens"
im elementarien Medium zwischenleiblicher Interaktion (Merleau-Ponty,
M., 1966:60).
Nur nachträglich und partiell können die interreferentiellen
Sinnstiftungen durch bewusste Reflexion eingeholt oder in objektivierten
Symbolstrukturen abgebildet werden: so dass sie gegenüber allem
subjektiven und objektiven Sinn eine unanfechtbare Führungsrolle
behaupten.
Auch wenn man Merleau-Pontys Auffassung von der Fundamentalität
zwischenleiblich konstituierter Sozialität nicht völlig zu folgen
vermag, liefert er durch sein eminent soziologisches Theoretisieren
wichtige zusätzliche Gründe, um
- "Interreferenz" als einen eigenständigen dritten
Modus der Sinnkonstitution gelten zu lassen,
- die Hypothese zu stützen, dass interreferentieller Sinn im Medium
kollokaler Interaktion seine weitaus besten Entfaltungschancen findet,
währen translokale oder alokale Sozialität stärker darauf verwiesen
ist, sich auf "objektiven Sinn" und oder auf
"subjektiven Sinn" abzustützen.
Diese Proposition stimmt nur teilweise mit der Auffassung von Alfred
Schütz überein, der in "umweltlichen" (=kollokalen)
Sozialbeziehungen vor allem die Chance sieht, objektive Deutungsschemata
durch verstärktes Fremdverstehen von subjektivem Sinn zu substituieren:
"In der umweltlichen sozialen Beziehung wachsen dem Ich aus der
Fülle des Wissens vom Jetzt und vom Du in gleicher Fülle in jedem Jetzt
neue Deutungsschemata vom Du zu: sein Erfahrungsvorrat vom Du bereichert
sich in jedem Augenblick des Wir und er verändert sich auch durch stetige
Berichtigung." (Schütz 1974: 235/236).
Demgegenüber wird postuliert, dass die Situation des "Wir"
vorrangig die Chance mit sich bringt, dass sich die Beteiligten an
übergreifenden Gemeinsamkeiten ihrer intersubjektiven Beziehung, ihrer
komplementären oder konfliktiven Interdependenzen oder ihrer Situation
gegenüber der äusseren Umwelt orientieren: d.h. an all jenen Fakten, die
ihrer gemeinsamen Erinnerung oder ihrer gemeinsamen sinnlichen Wahrnehmung
zugänglich sind. Vor allem für multilaterale Interaktionsverhältnisse
mag gelten, dass die Teilnehmer sowohl ihre eigenen Handlungen wie auch
die Deutungen fremder Handlungen vorrangig an Parametern der umfassenden
Gruppenstruktur sowie am Fluss gemeinsamer Kommunikationen,
Arbeitsabläufe usw. orientieren, und zutreffenderweise unterstellen, dass
auch ihre Interaktionspartner genau dies tun.
Entsprechend kann es nützlich, ja unumgänglich sein, die eigenen
Verhaltensakte nicht mit einem allzu präzis definierten und starr
fixierten subjektiven oder objektiven Sinn auszustatten, sondern sie als
offene, unscharf konturierte "Kommunikationsangebote" in den
sozialen Kreis zu werfen, um sie den im interreferentiellen Milieu
stattfindenden Spezifikationsprozessen auszuliefern.
Diesem sich während des raum-zeitlichen Zusammenseins ständig
erneuernden Bedarf nach "strategischer Unterbestimmtheit"
entspricht die Tendenz, selbst bei unbegrenzten Fähigkeiten und
Möglichkeiten der Verbalisierung den Kommunikationsprozess relativ stark
auf nonverbale Gebärden (Gestik, Mimik, u.a.) abzustützen, die im
Unterschied zu Worten weniger stark durch einen kulturell
konventionalisierten "objektiven Sinn" geprägt sind und wegen
der engen Begrenztheit des Repertoires (vgl. 2.4) für verschiedenste
Sinngehalte in Anspruch genommen werden.
Die mit dem rein physischen Faktum kollokalen Beisammenseins
einhergehenden "Despezifizierungen" scheinen dermassen
verlässlich aufzutreten, dass man sie systematisch dazu benutzen kann, um
erstarrte Sinnstrukturen wieder zu "verflüssigen" und dadurch
für neue, andersartige Respezifikationen verfügbar zu machen. Dies zeigt
sich z.B. in Verhandlungsprozessen zwischen gegnerischen Staaten, Armeen
oder Verbänden, wo bereits der Entschluss zur Teilnahme eine
generalisierte Bereitschaft indiziert, sich den nur partiell
kontrollierbaren Wechselprozessen kollokaler Interaktion auszuliefern und
Geburtshilfe für neuartige (über die bisherigen Erwartungshaltungen und
Kompromissbereitschaften der Teilnehmer hinausgehende) Konfliktlösungen
zu leisten.
Vor allem die mit extremer Körpernähe einhergehenden sozialen
Systembildungen (z.B. Sexualbeziehungen, Massenaufläufe u.a.) dienen
häufig dem Zweck, jene elementar-unspezifische Ausgangsbasis physischer
Interpersonalität zu revitalisieren, in dem alle komplexeren,
vermittelteren Sozialverhältnisse (auf Gruppen-, Organisations- und
Institutionsebene) ihre genetische Wurzel haben (Rittner 1983).
Diese Rückkehr zum "Status naturalis" kann die ambivalente
Funktion haben, diese derivierteren, vom physischen Beisammensein
unabhängigeren Sozialverhältnisse:
- einerseits zu validieren: indem sichtbar wird, dass sie mit ihrer
"authentischen Entstehungsbasis" nach wie vor in engem
Zusammenhang stehen,
- andererseits zu unterminieren: indem ein Zustand der
Entspezifiziertheit und unkontrollierter Prozessualität hergestellt
wird, von dem aus neuartige, nicht voraussehbare Beziehungsstrukturen
ihren Ausgang nehmen können.
So vermag ein Staatsmann, der "das Bad in der Menge" sucht,
einerseits seine politische Herrschaftsstellung durchaus zu befestigen,
weil es ihm gelingt, seiner formellen Autoritätsstellung den Nimbus
öffentlicher Popularität hinzuzufügen; andererseits muss er aber
hinnehmen, dass er seine politische Reputation dadurch stärker von
nichtinstitutionellen Faktoren (seiner persönlichen Erscheinung,
Ausstrahlung u.a.) abhängig macht, die sich seiner Kontrolle weitgehend
entziehen, und dass er durch seine Rolle als populistischer Führer
zunehmend zu Handlungen genötigt werden mag, die mit seiner formellen
Position im Widerspruch stehen.
Ebenso können sexuelle Verhaltensweisen die problematische
Doppelfunktion haben, die Kontinuierung eines Liebesverhältnisses
einerseits prägnant zu dokumentieren, andererseits aber verstärkt von
Faktoren abhängig zu machen, die (wie z.B. die wechselseitige
körperliche Erregbarkeit, physiologische Potenz u.a.) der intentionalen
Kontrolle weitgehend entziehen.
Als funktionales Äquivalent zu Charisma kann kollokale Interaktion
also dazu beitragen, strukturelle Fixierungen und Spezifizierungen aller
Art zu erodieren und innerhalb sozialer Systeme einen Zustand "frei
flottierender Valenzen" wiederherzustellen, der vor allem dann
wichtig ist, wenn es gilt, im Hinblick auf stark veränderte äussere
Umweltbedingungen oder innere Mitgliederzusammensetzungen neuartige, von
der bisherigen Systemgeschichte unabhängige Strukturbildungsprozesse zu
vollziehen (vgl. Geser 1983: 81ff.).
Ähnlich wie bei vielen andern Manifestationen der "Renaturalisierung"
(z.B. bei der Hinwendung zum "einfachen Landleben", zur Rohkost
oder zum künstlerischen Naturalismus) geht das Bestreben oft dahin, den
(vermeintlich) exogen vorgegebenen und unbeeinflussbaren (eben
"natürlichen") Zuständen und Prozessen mehr
Orientierungseinfluss auf das Erleben und Handeln zuzugestehen und in die
Spontaneität elementarer interpersoneller Wechselwirkungen grössere
Hoffnungen als in die Kontinuierung bisher gepflegter (aber als
artifiziell und kontingent durchschauter) Beziehungsformen zu setzen (vgl.
Rittner 1983).
Bei translokalen Interaktionsverhältnissen tragen demgegenüber zwei
Faktoren dazu bei, die eigenständige Determinationskraft der
interreferentiellen Steuerungen stark zu vermindern:
- Es fehlt das einigende Band der gemeinsamen aktuellen Situation, die
eine konvergente Fokussierung der Aufmerksamkeit auf "diese
unsere Interaktionsbeziehung" und "diese unsere Umwelt"
nahelegen und wechselseitig erwartbar machen würde (vgl. 3.6).
Stattdessen müssen translokale Partner ihre Kommunikation unter der
erschwerten Bedingung zustandebringen, dass sich jeder bei der
Enkodierung (bzw. Dekodierung) an seinem eigenen, wechselseitig nicht
wahrnehmbaren situativen Umfeld orientiert.
- Es fehlen die dichtgewobenen Kommunikationskanäle, die dazu benutzt
werden könnten, um bei Verständnislücken nachzufragen, bei Bedarf
Zusatzerläuterungen nachzuliefern, halbwegs ausgeführte Demarchen
rechtzeitig rückgängig zu machen oder auf die unerwartete Akzeptanz
versuchsweiser Äusserungen gleichsinnige Bestärkungen folgen zu
lassen - kurz: in arbeitsteiliger Symbiose einen gemeinsamen
intersubjektiven Sinn zu erzeugen, der sich sowohl gegenüber der
Ebene subjektiver Intentionen wie auch der Sphäre kultureller
Konventionen deutlich profiliert.
Unter solchen Umständen sind physisch objektivierte und konsensual
gedeutete Symbolisierungen notwendig, damit die Auffassungsperspektiven
verschiedener Kommunikationspartner
- über das Faktum, dass Kommunikationen von bestimmter
äusserer Form überhaupt vorliegen,
- über den semantischen Gehalt, der diesen gemeinsam identifizierten
Kommunikationen zugeschrieben werden soll
zur Deckung gelangen.
Die "Objektivität des Sinnes" muss nun auf jener
fundamentaleren Objektivität aufrufen, wie sie sich aus der unnegierbaren
übersubjektiven Geltung des Real-Gegenständlichen ergibt. Als notwendige
(niemals hinreichende) Bedingung translokaler Verständigung muss deshalb
ein physisches Trägersubstrat (Werkzeug, Bauwerk, Schrifttext,
Fotostreifen, Diskette u.a.) vorliegen, so dass eine Basisebene
gemeinsamer sinnlicher Wahrnehmung gesichert ist, auf der die
Auffassungsperspektiven der emittierenden und rezipierenden Subjekte
zwanglos zur Deckung gelangen.
Durch die Benutzung physischer Trägersubstrate allein werden die
Probleme translokaler Kommunikation aber keineswegs gelöst, sondern im
Gegenteil noch drastisch erhöht. Denn das Dazwischentreten eines
gegenüber dem Kontext seiner Erzeugung wie auch seiner Rezeption
gleichermassen verselbständigten dinglichen Gegenstandes hat zur Folge,
dass zwischen Enkodierungs- und Dekodierungsprozessen einerseits wie auch
zwischen den Dekodierungsprozessen verschiedener Rezipienten alle
intrinsischen Zusammenhänge verlorengehen: so dass sie - soll
Kommunikation gelingen - auf ganz neue, artifizielle Weise wieder
miteinander koordiniert werden müssen. Zusätzlich zum Erzeugungsprozess
sind deshalb besondere Anstrengungen erforderlich, damit das neuerlassene
Gesetz auch zur Kenntnis genommen wird, das neue Konsumgut ins
Alltagsleben Eingang findet, die neuen lokalen Radiosender ihre Zuhörer
oder rücksichtslos modernistische Kunstwerke auch ihre Bewunderer finden
Und sowohl Messerfabrikanten wie Kernphysiker, Apotheker wie
Enthüllungsjournalisten müssen damit leben, dass ihre Produkte nicht auf
einen bestimmten intendierten Zweck ihrer Verwendung hin prägbar sind,
sondern sowohl für konstruktive wie destruktive, für lebenserhaltende
oder todesbringende Ziele funktionalisiert werden können.
Gerade weil das Erzeugnis mit keinen hinreichenden Verweisungen auf die
Prozesse seiner Entstehung und die Intentionen seiner Produzenten belastet
ist, ist es dafür befreit, mit einer davon völlig unabhängigen
Bedeutung ausgestattet zu werden und in beliebig variable
Situationszusammenhänge und Kombinationen mit andern derartigen
Erzeugnissen einzutreten. So können beispielsweise Bibeltexte,
Genrebilder, Staatsverfassungen oder elisabethanische Tragödien selbst
bei drastischem soziokulturellem Wandel ihre unbestrittene Relevanz
beibehalten, weil nichts dazu zwingt, vom buchstäblichen Text auf den
"Geist" der ursprünglichen Verfasser zu schliessen: genauso wie
sich die Barockmusik gegenüber ihrem höfischen oder kirchlichen
Entstehungskontext dermassen verselbständigt hat, dass sie sich in
äusserst profanisierten "bürgerlichen" Verwendungskontexten
als assimilierbar erweist.
Die mit der Abkoppelung vom Enkodierungskontext einhergehende
"semantische Unterbestimmtheit" ist einerseits äusserst
wichtig, wenn es darum geht, einem Stück materialisierter Kultur lange
Überlebensdauer, universelle Diffusionschancen und vielfältigste
sachliche funktionale Kombinationsmöglichkeiten zu sichern: so dass
wahrscheinlich gerade moderne (d.h. komplexe und sich dynamisch wandelnde)
Gesellschaften zur Bevorzugung hochgradig unspezifizierter materieller
Sinnsubstrate tendieren, die (wie z.B. Autos, Computers,
Verfahrensgesetze, Geldscheine, Menschenrechte oder zivile
Höflichkeitsformen) im beliebigen, unvorhersehbarem Wandel ihrer
Applikationskontexte eine gesicherte, gleichbleibend hohe Geltung
bewahren.
Andererseits st dieselbe Unschärfe und projektive Manipulierbarkeit
des Sinngehalts ein lästiges Hindernis, wenn das vorrangige Ziel darin
besteht, präzise, erfolgssichere translokale Kommunikation
zustandezubringen und im Verhältnis zwischen den Partnern wechselseitig
erwartbar zu machen.
Nicht durch die immanenten Eigenheiten des Artefaktes selbst, sondern
nur durch dessen dauerhafte Amalgamierung mit übersubjektiven
idealisierten Deutungsmustern kann garantiert werden, dass es bei allen
enkodierenden und dekodierenden Akteuren in einem gewissen Umfang
identische Sinnverweisungen evoziert: unabhängig davon, in welchem
subjektiv oder intersubjektiv konstituierten Bedeutungskontext und welchem
sozialen Situationszusammenhang sich seine Wahrnehmung und
Entschlüsselung vollzieht.
Derartige soziale Vermittlungsmechanismen werden in dem Masse
entlastet, als die materiellen Trägersubstrate so gebaut sind, dass sie
die Inhalte, auf die sie in ihrer Eigenschaft als "Symbole"
verweisen, in ihrer zweiten Eigenschaft als "reale Gegenstände"
gleichzeitig mittransportieren.
Während reine Symbole heteroreferentiell sind, weil sie immer durch
einen ihnen äusserlichen Akt konventioneller Setzung auf ein (dafür
allerdings variabel definierbares) "Bedeutetes" hingeordnet
werden müssen, so sind physische Gebrauchsgegenstände in dem Sinne"
autoreferentiell", als ihnen die Fähigkeit zukommt, Bedeutendes und
Bedeutetes, bzw. "Verweisungen" und "Erfüllungen" im
Medium desselben physischen Substrats zu fusionieren.
So besteht beispielsweise die doppelte Orientierungsfunktion einer
realen Autostrasse darin, dass sie
- einerseits wie eine auf der Landkarte gezeichnete Strasse
allen Automobilisten die identische Vorstellung evoziert, darauf
richtungssgetrennt mit bestimmter Geschwindigkeit fahren zu können,
- Im Gegensatz zur Landkartenstrasse aber auch jene faktischen
physischen Merkmale aufweist, die eine Erfüllung dieser evozierten
Intentionen möglich machen.
Die Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit objektivierter Sinnstrukturen
entsteht dadurch, dass zwischen der Ebene übersubjektiver Idealisierungen
einerseits und dem Niveau physischer (vor allem: anorganischer)
Trägersubstrate andererseits unter weitgehender Umgehung individueller
Bewusstseins- und interindividueller Kommunikationsprozesse äusserst
stabile Amalgamverbindungen eingegangen werden. und zwar deshalb, weil
ausgerechnet anorganische Substrate gewisse Bedingungen
"idealisierter Gegenständlichkeit" (Zeitenthobenheit,
konvergente Wahrnehmbarkeit, Identitätserhaltung in verschiedensten
Kontexten) besonders gut erfüllen.
So kann "man" sich beim blossen Anblick bestimmter
Gegenstände nicht einmal unter grössten Anstrengungen von der
Vorstellung freimachen, ein Handwerkszeug namens Hammer, ein Fahrzeug
namens "Auto" oder eine schützende Unterkunft namens
"Hütte" vor sich zu haben, und fast unmöglich ist es, jene
Schnittlinie freizulegen, welche das (kulturunabhängige)
Physisch-Gegenständliche vom (kulturgebundenen) standardisierten
Deutungsschemata trennt, wenn es sich derart auflöslich mit dem
dinglichen Substrat verbindet.
Nur im äussersten Grenzfall allerdings (z.B. bei automatisierten
Spezialmaschinen) geht diese dem Gegenstand inhärente (d.h. von sozialen
Prozessen unabhängige und durch sie nicht modifizierbare) Sinnprägung
derart weit, dass man mit dem Artefakt nur auf eine bestimmte Weise (oder
dann überhaupt nicht) umgehen kann. Aus dem spielerischen und
phantasiereich-devianten Umgang kleiner Kinder mit täglichen
Gebrauchsobjekten wird deutlich genug, dass auch hoch spezifizierte
Artefakte nur im Rahmen aufwendiger (allerdings meist impliziter und
averbaler) Sozialisationsprozesse ihren stabilen, kulturell verankerten
Bedeutungsgehalt gewinnen:
Deshalb gilt auch hier, dass translokale Interaktionen von
Voraussetzungen abhängig sind, die vorgängig in dichter gewobenen (d.h.
stärker an Kollokalität gebundenen) Interaktionskontexten hergestellt
werden müssen.
Je weniger das Artefakt auf Grund seiner intrinsischen Form- und
Funktionsmerkmale einen bestimmten Sinn (z.B. Verwendungszweck, bildhafte
Repräsentation u.a.) nahelegt oder gar erzwingt, desto mehr Aufwand an
Definitionsarbeit, Sozialisation und sozialer Kontrolle muss betrieben
werden, um diesen invarianten semantischen Gehalt entstehen zu lassen und
über lange Zeiträume, verschiedenartige Individuen und Gruppen sowie
heterogene Situationszusammenhänge hinweg zu sichern. Nur in Reichweite
kirchlicher Autorität gelingt es, den eucharistischen Symbolgehalt von
Wein und Brot als Blut und Leib Christi zuverlässig zu tradieren; und die
dauerhafte Aktivierung unzähliger familiärer und schulische
Sozialisationsfelder ist nötig, um eine "lebende Sprache" mit
der Semantik all ihrer Wörter und Satzbildungen aufrechtzuerhalten.
Translokale Interaktionen zehren hier "parasitär" von
Ergebnissen intersubjektiver Sinnkonstitutionen, deren Genese auf aktive,
normalerweise ans Medium kollokaler Interaktion gebundene
Verständigungsprozesse zurückgeführt werden kann, und die auch häufig
nur innerhalb derartiger Felder (z.B. im Rahmen frühkindlicher oder
schulischer Sozialisation) zuverlässig tradiert werden können.
In dem Masse, wie soziale Interaktion sich aus ökologischen Bindungen
(d.h. aus der Abhängigkeit von synchroner Anwesenheit der Teilnehmer im
selben Raumabschnitt) befreit, muss sie sich umso härteren Restriktionen
kultureller Art unterziehen: durch konforme Einbettung in exogen erzeugte,
während des Interaktionsprozesses unverfügbare Sinnfixierungen, die in
zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht eine generalisierte Geltung
besitzen:
- Die zeitliche Generalisierung bedeutet, dass man sich gerade jetzt
auf Symbolschemata verlassen muss, die irgendwann früher ihre
aktuellen, "stabilen", jederzeit identisch
reaktualisierbaren Inhalte gewonnen haben. Daraus entsteht die
typische Vergangenheitsbindung translokaler Interaktionen: ihr Hang
zur "Traditionalisierung", der hinreichend erklärt, warum
kollokale Kommunikationsfelder (z.B. im Rahmen von Urbanität) gerade
in modernen, dynamischen Gesellschaften eine unangefochtene Bedeutung
beibehalten.
- Die sachliche Generalisierung heisst, dass man sich gerade in dieser
konkreten Situation mit Hilfe von abstrahierten und universalisierten
Deutungsschemata ausdrücken muss, die (wie z.B. Redewendungen in
Briefen, Glückwunschkarten, Geschenkobjekte usw.) in identischer Form
für eine Vielzahl variabler Anwendungsfälle zur Verfügung stehen.
- Die soziale Generalisierung ist zwar vermeidbar, wenn die
transportierten Symbole vorgängig von denselben Partnern im
kollokalen Interaktionsfeld definiert oder "ausgehandelt"
wurden: z.B. wenn ein Liebespaar im Briefverkehr dieselben Koseworte
verwendet, die vorher im zärtlichen Beisammensein ihre Bedeutung
erlangten. Im allgemeinen aber müssen (vor allem wenn nicht genügend
kollokale Interaktion vorangegangen ist) konventionalisierte Symbole
verwendet werden, die auch von nicht gemeinten Adressaten auf dieselbe
Weise verstanden werden. Entsprechend erhalten translokale
Interaktionssysteme einen charakteristischen Aspekt sozialer
Heteronomie: und ihre Integration in umfassendere Sozialsysteme wird
(im Gegensatz zu den oft widerspenstig-autonomen Kollokalsystemen)
insofern stark erleichtert, als die in ihnen ablaufenden
Kommunikationsprozesse
von aussen gut einsehbar sind, weil sie sich objektiv wahrnehmbarer
physischer Trägersubstrate (Briefpost, Telephon, Warenverkehr u.a.)
bedienen, und insofern die Beteiligten konventionalisierte Symbole
verwenden, um sich untereinander optimal verständlich zu machen.
Die vielfältigen Konsequenzen dieser dreifachen Bindung lassen sich am
Vergleich zwischen mündlichem Gespräch und (fern)-schriftlicher
Kommunikation besonders gut illustrieren.
Der mündliche Diskurs eröffnet die einzigartige Möglichkeit, auf
kollektive Weise sprachlichen Sinn zu erzeugen: als emergentes Ergebnis
intersubjektiven Zusammenwirkens, das nicht den subjektiven Intentionen
der einzelnen Teilnehmer, sondern nur dem interaktiven Prozess als Ganzes
zugerechnet werden kann. Deshalb ist es im kollokalen Gespräch tragbar,
ja sogar erforderlich, dass die einzelnen Sprecher ihre Voten weder mit
einem vorgängig fixierten, präzisen "subjektiv gemeinten Sinn"
ausstatten noch als Formulierungen mit konventionalisiertem
Bedeutungsinhalt verstanden wissen wollen, sondern als improvisierte
Verständigungsangebote, die in einen vorgängig gewobenen, auch durch die
nichtverbalen Ausdrucksebenen mitkonstituierten Situationszusammenhang
einfliessen und den unvorhersehbaren Kontingenzen nachfolgender Repliken,
Dupliken usw. ausgeliefert werden (vgl. Vygotsky 1962: 99).
Ohne grosse Rücksichten auf logische Konsistenz, situative
Angemessenheit, optimale Verständlichkeit oder illokutionäre
Mehrdeutigkeiten kann man risikolos eine breite Mannigfaltigkeit von
Meinungen, Behauptungen, Interpretationen und Zumutungen zum Ausdruck
bringen, solange man (und sei dies nur durch Kontinuierung der
Anwesenheit) gleichzeitig mitsignalisiert, dass man für den Empfang von
Rückmeldungen, das Nachliefern von Erläuterungen etc. verfügbar bleibt.
Freizügig und undiszipliniert kann man auch Begriffe mit äusserst
diffusem Bedeutungsgehalt wie z.B. "Liebe",
"Freiheit", "schön" oder "interessant"
einfliessen lassen, weil aus den nachfolgenden Reaktionen klar wird,
welche Konnotationen die Adressaten mit diesen Worten verbinden: und weil
diese rückgemeldeten Spezifikationen genauso wie die ursprünglichen
Konnotationen des Sprechers dazu beitragen, ihren intersubjektiven (im
Gegensatz zum subjektiven und übersubjektiven) Sinngehalt
mitzukonstituieren.
Sicher müssen auch die meisten verbalen Innovationen (Neologismen,
Jargonausdrücke u.a.) ihre allererste Bewährungsprobe in kollokalen
mündlichen Gesprächssituationen überstehen: zumindest wenn sie ihren
Sinn nicht rein nominaldefinitorisch aus einer Kombination bereits
etablierter konventioneller Ausdrücke beziehen.
Weitere Flexibilitäten entstehen dadurch, dass mündliche Voten trotz
ihrer digitalen Basisnatur ("Gesagt ist gesagt",
"Geschwiegen ist geschwiegen") durch nichtverbale
Begleitkommunikationen mit kontinuierlich abgestuften illokutionären
Eigenschaften angereichert werden können. Ein zögerlich-fragender
Tonfall kann - ohne Innanspruchnahme expliziter Verbalisierung -
signalisieren, dass man über die Wahrheit einer eigenen Behauptung noch
Zweifel hegt, dass man bei der Avance Rückzugsmöglichkeiten offenhalten
möchte, oder dass man bereit ist, eine Forderung in die unverbindlichere
Form einer Bitte oder eines Wunsches zu transformieren.
So erweist sich das "Gespräch unter vier Augen" dem
Briefverkehr wie auch dem Telefongespräch überall dort als haushoch
überlegen, wo es darum geht,
- die Inhalte der Verständigung auf neue, noch unerprobte und
vielleicht dissensträchtige Themenfelder auszuweiten;
- mit Partnern zurechtzukommen, von denen man nicht sicher weiss, wie
sie bestimmte Begriffe oder Wendungen verstehen, bzw. welches
Repertoire an gemeinsamen konventionellen Deutungsmustern sie mit dem
Sprecher teilen;
- als Medium der Kommunikation auch noch wenig etablierte (z.B. bisher
rein gruppenintern geltende) verbale Ausdrucksformen zu verwenden:
bzw. zwar etablierte Ausdrücke, die aber wegen ihrer Mehrdeutigkeit
immer nur im Rahmen eines spezifischen intersubjektiven Kontexts klare
semantische Konturen gewinnen.
Sicher sind - was die Proliferation von "Geschäftsreisen"
erklären mag - viele grössere Kaufs- und Verkaufsaktionen eng an die
Ergebnisse eines vorangehenden mündlichen Gesprächs gebunden, in denen
die Kontrahenten darum ringen, Interessenstandpunkte,
Bedürfnisartikulationen und Kostenbewertungen im Hinblick auf das in
Frage kommende Tauschgut neu zu definieren.
Ebenso ist leicht verständlich, warum in formalen Organisationen auf
niedrigen Rängen oft der Schriftverkehr Vorrang hat, während sich auf
höheren hierarchischen Niveaus das Schwergewicht auf mündliche
Gespräche verschiebt (vgl. Brinkmann/Pippke/Pippke 1973: 158). Denn gegen
die Leitungsspitze hin treten immer häufiger unvorhersehbare,
unstandardisierte oder gar völlig einzigartige Problemkonstellationen
auf, die eine Erweiterung der Verständigung auf neue Sachfragen oder eine
Respezifikation bestehender Deutungsmuster (z.B. juristischer
Begriffskategorien) in ganz neue Richtung notwendig machen.
Bei schriftlicher Kommunikation nun wird die zeitliche und räumliche
Entkoppelung von Emission und Rezeption teuer damit bezahlt, dass
praktisch jeglicher Sinngehalt aus den expliziten verbalen Formulierungen
erschlossen werden muss:
- weil das physische Schriftstück als ein gegenüber seinem
Entstehungskontext verselbständigtes physisches Objekt dasteht, das
nur sehr wenig Verweisungen auf die partikulären subjektiven
Intentionen und situativen Umstände, die bei seiner Abfassung
bestanden haben, mit sich führen kann;
- weil die digital enkodierten verbalen Botschaften nicht wie bei
mündlicher Rede durch einen Fluss analoger
Komplementärkommunikationen auf nonverbaler Ebene begleitet werden:
die über emotionale Erregungszustände, Motivationen oder
illokutionäre Absichten des Sprechers Auskunft geben und dadurch die
adäquate Deutung seiner Rede erleichtern könnten.
Auch wenn es angehen mag, vom verspäteten Weihnachtsgruss auf die
Zerstreutheit des fernen Freundes oder von der zittrigen Handschrift auf
die momentane zornige Erregung des Briefschreibers zu schliessen, so
bleiben derartige Unterstellungen immer relativ spekulativ,
- weil es im schriftlichen Ausdruck nur ein äusserst beschränktes
Repertoire derartiger Begleitkundgaben gibt, so dass für jede von
ihnen verschiedenste Ursachen in Frage kommen können: (mein Freund
mag durch ein Reise oder Krankheit am rechtzeitigen Glückwunsch
gehindert worden sein; oder eine spastische Nervenkrankheit mag seine
unsicheren Schriftzüge erklären);
- weil es nicht möglich ist, derartige Unterstellungen in der
unmittelbaren wechselseitigen Wahrnehmung und Kommunikation zu
verifizieren.
Während im mündlichen Gespräch der Empfänger dazu aufgefordert ist,
durch möglichst aufmerksames und subtiles Hinhören und Hinsehen den
Informationsgehalt der rezipierten Mitteilungen (zum Teil weit über das
vom Sender vorgesehene oder erwünschte Mass hinaus) zu steigern, so sieht
sich beim Schriftverkehr der Emittent mit der vollen Verantwortung dafür
belastet, alles, was er ausdrücken will, auch explizit zu enkodieren. Dem
Empfänger bleibt nur, den Schrifttext als eine vom Sender vollständig
gestaltete Botschaft zu akzeptieren, deren Komplexität mit dem digital
enkodierten verbalen Informationsgehalt koinzidiert und in keiner Weise
dadurch steigerbar ist, dass er versucht, in die physischen Feinheiten des
verwendeten Papiers oder Kugelschreibers einzudringen, oder den
postalischen Ablauf der Briefzusendung exakt zu rekonstruieren.
Angesichts dieses Disziplinierungsdrucks sieht sich der Emittent
schriftlicher Mitteilungen viel stärker als der mündliche Sprechpartner
gezwungen, bei der Wahl einzelner Ausdrücke und Propositionen sorgfältig
zu verfahren und der Komplexität des "gemeinten Sinns" durch
eine entsprechende Differenziertheit und Elaborität des Gesamttextes
Rechnung zu tragen: denn Geschriebenes wird in noch höherem Masse als
Gesprochenes dem Individuum als zu verantwortendes intentionales Handeln
zugerechnet, lässt sich aus rein technischen Gründen überhaupt nicht
"ungeschehen" machen und ist als Ausdruckskundgabe von ungleich
breiterer und langfristigerer Wahrnehmbarkeit in Rechnung zu stellen.
Auf der einen Seite ist bei Texten eine gewisse "horizontale
Differenziertheit" (=Ausführlichkeit) geboten, um den Rezipienten
die Möglichkeit zu geben, den präzisen Sinn einzelner Stellen
hermeneutisch aus dem Gesamttext zu erschliessen. Der Bedarf dazu steigt
in dem Masse, als Einzelausdrücke mit relativ diffusem, variablem
Bedeutungsgehalt verwendet werden, oder wenn gar der Ehrgeiz besteht,
relativ ungewohnte, wenig konventionelle Begriffsauffassungen erfolgreich
zu transportieren.
Andererseits muss man bei schriftlichen Äusserungen viel häufiger als
bei mündlichen Reden metasprachliche Kommunikationsebenen verwenden: um
zu explizieren, dass, warum und in welcher Absicht man das Nachfolgende
sagt. Denn während derartige illokutionäre Intentionen in der
mündlichen Rede oft bereits aus den nichtverbalen Begleitkommunikationen
(Art des Tonfalls, Blickens, Gestikulierens u.a.) hinreichend deutlich
werden, müssen sie in Schrifttexten auf derselben, einzig verfügbaren
Ebene expliziter Verbalisierung zum Ausdruck kommen.
Mit diesem Explikationszwang illokutionärer Akte sind zwei
schwerwiegende Folgeprobleme verbunden:
- Sie werden genauso wie die Lokutionen dem Individuum als
verantwortbare Handlungen verbindlich zugerechnet. Im Gegensatz zum
mündlichen Gespräch kann man nicht mehr behaupten, es "nicht so
gemeint zu haben": und entsprechend fehlt die Flexibilität, die
illokutionären Intentionen momentan noch offen zu halten oder ihre
Präzisierung intersubjektiven Verständigungsprozessen zu
überlassen. Die besondere Härte eines schriftlichen Befehls besteht
häufig darin, dass man sich dabei festlegt, ihn wirklich als Befehl
(anstatt als Aufforderung, dringende Bitte oder gar nur als eine
Wunschäusserung) verstanden wissen zu wollen. Wiederum zwingt die
Digitalität der Sprache ganz drastisch dazu, unter wenigen,
semantisch relativ weit auseinanderliegenden illokutionären Modi
(Befehl, Bitte, Wunsch u.a.) einen bestimmten Modus verbindlich
auszuwählen: während man beliebig abstufbare
"Verbindlichkeitsgrade" zur Verfügung hat, wenn man sich
z.B. der "Schärfe des Tonfalls" oder der "Strenge des
Blicks" als Ausdrucksmedien bedient.
- In dem Masse, wie die Illokutionen explizite Intentionalhandlungen
sind, können auch sie in den Verdacht geraten, unaufrichtig zu sein
und von den Kommunikatoren bewusst zur Vorspiegelung falscher
Absichten oder zur Inszenierung einer taktisch günstigen
Selbstdarstellung verwendet zu werden.
Schriftliche Kommunikation kann leicht völligen Schiffbruch erleiden,
wenn auch die illokutionären Äusserungen dem wechselseitigen
Misstrauen anheimfallen und in den haltlosen Strudel "doppelter
Kontingenz" einbezogen werden: weil kein nicht-kontingenter
"Haltepunkt" mehr existiert, von dem aus Wahrheitsgehalte und
Absichten irgendwelcher Äusserungen beurteilt werden könnten. Im
mündlichen Gespräch gibt es derartige Haltepunkte gerade in dem Masse,
als die illokutionäre Ebene der willkürlichen Manipulierbarkeit der
Sprecher nicht völlig zugänglich ist: ich sehe ihr an, dass sie es
ehrlich meint, vor Wut kocht oder mich wirklich liebt....und im Licht
dieser "authentischen" Ausdruckskundgaben erhalten ihre Worte
"Sinn".
Im Schriftverkehr wird dieses selbe Niveau an Vertrauen und
Erwartungssicherheit nur erreicht, wenn durch eine willensmässige
Setzung wettgemacht wird, was an evidenten Kundgaben fehlt: indem man
sich zum Beispiel entschliesst, Aufrichtigkeit zu unterstellen, weil man
in vergangenen kollokalen Interaktionen empirische Erfahrungen mit dem
Briefeschreiber gemacht hat, die dieses Vertrauen (qua
Induktionsschluss) zu rechtfertigen scheinen.
Wiederum wird hier erkennbar, in welchem Ausmasse translokale
Interaktionen parasitär von intersubjektiven Verständigungen zehren,
die ursprünglich in der kollokalen Interaktion erarbeitet worden sind.
IV
Allein schon auf Grund ihrer physischen Gegenständlichkeit sind
schriftliche Texte in einem sehr objektiven Sinne dazu disponiert, von
einer sozial unkontrollierbaren Mannigfaltigkeit von Rezipienten dekodiert
zu werden, über deren Zahl, Statusmerkmale, Qualifikationen,
Situationsbedingungen und Sinnhorizonte zum Zeitpunkt der Enkodierung
keine sicheren Antizipationen bestehen (vgl. Parsons 1975: 46f.).
Allerdings hat dieser "Öffentlichkeitscharakter"
schriftlicher Dokumente so lange latent bleiben müssen, bis
- auf technischer Ebene Verfahren verfügbar wurden, um sie
(z.B. durch Buchdruck) ohne grossen Arbeitsaufwand beliebig zu
reproduzieren;
- auf sozialer Ebene institutionelle Kontrollstrukturen (Klöster,
staatliche Zensurorgane etc.) weggefallen sind, die dazu dienten, das
Schrifttum ähnlich wie mündliche Kommunikationen an gewisse Kontexte
sozialer Interaktion zu binden;
- auf individueller Ebene der Alphabetismus so weit verbreitet war, um
eine wirklich universelle, alle sozialen Gruppengrenzen
transzendierende "literarische Öffentlichkeit" zu erzeugen.
Solange technische, soziale und individuelle Restriktionen die
Emanzipation des Schrifttums aus partikulären sozialen Gruppenbindungen
unmöglich machen, konnten Autoren davon ausgehen, dass ihre Rezipienten
viele implizite Vorverständigungen mit ihnen teilten: so dass sie im
schriftlichen Ausdruck einen ähnlich inexpliziten, "restringierten
Code" wie in der mündlichen Konversation anwenden konnten.
Erst eine gegenüber partikulären Interaktionskontexten
verselbständigte Schriftkultur muss sich deshalb als ein
"geschlossenes semantisches Universum" konstituieren in dem sich
der Sinn jeglicher Textstelle ausschliesslich aus seiner Selbstexplikation
und seinen Beziehungen zu andern Stellen im selben Text (und/oder zu
anderen verfügbaren Texten) ergibt.
Je weniger ein Rezipient in der Lage ist, den Sinn einer schriftlichen
Äusserung dadurch zu präzisieren, dass er sich die intentionalen,
sozialen und situativen Bedingungen ihrer Genese vergegenwärtigt, desto
ausschliesslicher ist er darauf verwiesen, ihn durch
"horizontale" Relationierung zu anderen schriftlichen
Äusserungen bestimmen zu lassen. Und weil man dies voraussehen kann,
bleibt dem Autor nur die Wahl, die Interpretationen seines Textes entweder
den von ihm unbeeinflussbaren Konventionalismen der jeweils aktuellen
Schriftkultur auszuliefern, oder ihn als ein sich selbst tragendes
"semantisches Universum" zu konzipieren, indem er die Bedeutung
der verwendeten Ausdrücke systematisch mitexpliziert.
Nur wenn sprachliche Begriffe und Propositionen im objektivierten
Aggregatzustand der Schriftlichkeit vor Augen stehen, wird es einerseits
überhaupt möglich, sie unter Anwendung logischer Schlussregeln oder
anderer Relationierungsgesichtspunkte zu systematisieren und jene sich
immanent elaborierenden und spezifizierenden "Diskursinseln"
entstehen zu lassen, ohne die höhere Entwicklungsstufen der Philosophie,
Wissenschaft, Mathematik oder Jurisprudenz undenkbar wären.
Andererseits macht dieselbe Autonomisierung gegenüber der mündlichen
Rede derartige Systematisierungen auch notwendig: weil es ausser
erschöpfender "immanenter Explikation" kein anderes Mittel
gibt, um innerhalb der Universalsphäre der Schriftkultur wenigstens
"semi-autarke" Subsysteme mit halbwegs autonomer Begrifflichkeit
zu bilden.
Alle schriftliche Kommunikation leidet an dem Dilemma, dass es ihr nur
unter grössten Anstrengungen systematischer Explikation gelingt, der
heteronomen Subordination unter unbeeinflussbare Regeln konventioneller
Sinndeutung zu entrinnen: also nur mittels Vorkehrungen, die es gerade
unwahrscheinlicher machen, dass einer die Mühe aufbringt, solch
anforderungsreiche Texte zu schreiben, und dass viele sich den Aufwand
leisten, sie adäquat zu rezipieren.
Neben Schriftdokumenten sind noch viele andere Vehikel dazu geeignet,
situationsfrei fixierten Sinn getreulich über räumliche und zeitliche
Distanzen hinweg zu transportieren, weil sich bei ihnen ebenfalls zwei
gegenüber partikulären Subjekten und Interaktionszusammenhängen
gleichermassen verselbständigte Konstitutionsbedingungen miteinander
verbinden:
- Ein physisches Substrat, das in die kausal durchgängig geordnete
Welt des Objekt-Faktischen hineinragt und deshalb von allen Subjekten,
die über normale sensomotorische Fähigkeiten verfügen, in gleicher
Weise wahrnehmbar und manipulierbar ist.
- Übersubjektiv verankerte Deutungsschemata, die dafür sorgen, dass
alle Subjekte auf dasjenige, was sie auf dieselbe Weise wahrnehmen,
auch in dieselben Verweisungszusammenhänge einbetten, so dass die
Gemeinsamkeit des Sinnhorizonts nicht mehr interaktionell und
kommunikativ erzeugt werden muss, weil er sich quasi "von
selbst" aus konsensualen kulturellen Vorverständigungen ergibt.
Solche Medien unterscheiden sich aber danach, in welchem (einseitigen oder
wechselseitigen) Bedingungsverhältnis sich diese beiden Komponenten
(objektiver Faktizität und übersubjektiver Konventionalität) zueinander
befinden.
Am "objektivistischen" Pol finden sich Gegenstände, deren
Sinngehalt durch das physische Substrat eindeutig festgelegt ist und ohne
physische Transformation nicht geändert werden kann: z.B. eine
Goldmünze, deren Tauschwert sich völlig vom Edelmetallgewicht her
bestimmt, oder ein Salatkopf, mit dessen fortschreitender Fäulnis sich
gleichzeitig auch sein Gebrauchswert als Nahrungsmittel verliert.
Solche Objekte sind dadurch charakterisiert, dass sie die Stabilität
ihres Sinngehalts in erster Linie auf die Dauerhaftigkeit ihres
materiellen Substrats und nicht auf die Kontinuität institutionell
gesicherter Sinn- und Wertzuschreibungen abstützen, weil er sich
unauflöslich mit den intrinsischen Formeneigenheiten dieses Substrats
verbindet. So haben beispielsweise Goldmünzen und technische
Gerätschaften, Nutzpflanzen und massive Bauwerke besonders gute Chancen,
über Zeiten gesellschaftlicher Desorganisation und institutionellen
Zerfalls hinweg ihren Charakter als "Kulturobjekte" unbeschadet
aufrechtzuerhalten.
Am entgegengesetzten, Pol befinden sich Artefakte, deren materielles
Substrat keinerlei an intrinsischen Merkmalen festgemachte Sinngehalte
suggeriert, sondern die ihre Bedeutung ausschliesslich dadurch erhalten,
dass sie kraft sozialer Konventionen mit einem bestimmten Symbolgehalt
ausgestattet werden: z.B. Banknoten, deren Tauschwert unabhängig von der
Papierqualität gleichläufig mit dem volkswirtschaftlichen Preisniveau
oder der Bonität der emittierenden Notenbank kovariiert; oder Computer,
die ohne geeignete Software höchstens noch als Warmluftgebläse
"brauchbar" sind.
Ungeachtet der Dauerhaftigkeit oder Verderblichkeit ihres materiellen
Substrats haben derartige Symbolobjekte ihre Geltung an die Kontinuität
konkreter Institutionen und Gesellschaftsordnungen gebunden, deren
territoriale Reichweite bestimmt, in welchem Raume sie sich für
erfolgreiche translokale Kommunikation verwenden lassen.
Einer breiten Intermediärzone zwischen diesen beiden Extrempunkten
gehören all jene Artefakte an, für deren Sinngehalt es wesentlich (d.h.
mitkonstituierend) ist, dass sie auf einem bestimmten, nicht
auswechselbaren physischen Substrat beruhen, obwohl zwischen Substrat und
Symbolgehalt keine intrinsischen, sondern nur rein konventionelle
Zusammenhänge bestehen. Dazu gehören beispielsweise Embleme,
Kultgegenstände, Gedenkstätten sowie traditionell überlieferte
Unikatobjekte aller Art, die von gewissen Kollektiven als Ausdruck ihrer
Identität und als Referenzobjekte für gemeinsames Erleben und Handeln in
Anspruch genommen werden.
Und ebenso gehören zu diesem Mittelfeld jene hybriden Objekte, bei
denen sich intrinsisch-materielle und extrinsisch-symbolische
Sinnkonstituentien überlagern: z.B. minderwertigere Münzen, die ihren
Wert teilweise aus ihrem Materialgehalt, teilweise aber auch aus der
Vertrauenswürdigkeit der amtlichen Prägestätte beziehen; oder
räumliche Abschrankungen (Zäune, Barrieren u.a.), die zum Teil als rein
physische Hindernisse kausal wirksam sind, zum andern Teil jedoch als
Symbole, die ein Übertretungsverbot (und daran geheftete institutionelle
Sanktionen) zum Ausdruck bringen.
In welch komplizierter - teils substitutiver und teils komplementärer
- Weise sich die beiden Verankerungsmodi auf der intrapersonalen Ebene des
Faktisch-Objektiven einerseits und der suprapersonalen Ebene des
Institutionell-Übersubjektiven andererseits miteinander verbinden, lässt
sich gut am Beispiel sozialer Statusattributionen illustrieren, die sowohl
für die Genese wie die Stabilisierung translokaler Interaktions- und
alokaler Referenzbeziehungen eine unentbehrliche Funktion erfüllen.
Auf der einen Seite finden sich Statuszuschreibungen, die
ausschliesslich biologisch fundierten Individualmerkmalen (Geschlecht,
Alter, Körpergebrechen u.a.) beruhen und sowohl die Kontinuität wie die
Extensität ihrer Geltung aus der andauernden und allgemein zugänglichen
sinnlichen Wahrnehmbarkeit dieser Attribute beziehen.
Ihre weitgehende Unabhängigkeit von institutionellen
Unterstützungsmechanismen bedeutet, dass sie
- weit über alle Grenzen verschiedener Gesellschaften,
Ethnien und Kulturräume hinaus Anerkennung finden können,
- überall dort als Allokationskriterien für Handlungserwartungen,
Privilegien, Besitztümer, Prestige oder Autorität in den Vordergrund
treten, wo institutionelle Ordnungen wenig Gestaltungskraft besitzen:
z.B. in archaischen Jäger- und Sammlergesellschaften, die ihre
arbeitsteilige Binnendifferenzierung fast ausschliesslich am
Geschlecht und Alter festzumachen pflegen, oder in informalen Alltags-
und Freizeitkontexten der modernen Gesellschaft, wo sie bei der
Konstituierung von Freundschafts- und Partnerschaftsbeziehungen,
"peer groups" und subkulturellen Kollektivierungen aller Art
als Rekrutierungskriterien wirksam werden.
Gerade diese Tatsache, dass man sich des Alters, Geschlechts oder anderer
physischer Merkmale einer Person jederzeit objektiv vergewissern kann, hat
nun aber zur Folge, dass sich die soziale Bedeutung derartiger Merkmale
weit über alle kollokalen Interaktionsverhältnisse hinaus erstreckt.
So sind auch (ja gerade) Menschen moderner Gesellschaften überwiegend
auf der Basis ihrer biologischen Charakteristika in überräumliche
soziale Erwartungs- und Rollenstrukturen eingeordnet: ganz besonders durch
ihr Lebensalter, an dem in steigendem Masse formale Rechtsfolgen
(Schulpflicht, Militärpflicht, Heiratsfähigkeit, Rentenberechtigung,
Einkommensdifferentiale nach Seniorität u.a.m.) festgemacht werden, sowie
durch ihren Gesundheitszustand, der über ihre Integration in die
Arbeitswelt und über Form und Umfang ihrer Einkommensverhältnisse
entscheidet.
Vor allem wenn es darum geht, die Reichweite sozialer Integration auf
eine maximale Vielfalt von Individuen mit verschiedenartigsten und
unvorhersehbarsten sozio-kulturellen Merkmalen auszudehnen, wird es immer
dringlicher, sowohl ihre wechselseitigen Beziehungen zueinander wie auch
ihr Verhältnis zu Institutionen vorrangig an biologischen Eigenschaften
festzumachen, weil Alter, Geschlecht, Invalidität u.a. dann leicht zu den
einzigen Klassifikationsmerkmalen werden, die zweifelsfrei auf alle
menschlichen Subjekte appliziert werden können und bei denen man davon
ausgehen kann, dass sie (wegen ihrer unnegierbaren physischen
Begleiterscheinungen) sowohl im Selbstverständnis jedes Einzelnen wie im
Verhältnis zwischen verschiedenen Personen eine unbestrittene, invariante
Relevanz besitzen.
Allerdings muss eine derartige Abstützung der sozialen Ordnung auf
nichtsoziale Stabilitätsgrundlagen teuer damit bezahlt werden, dass sich
die Statusverhältnisse sowohl hinsichtlich ihrer qualitativen
Dimensionalität wie auch ihrer quantitativen Verteilung jeglicher
sozialen Kontrolle und intentionalen Gestaltbarkeit entziehen. Denn
genauso wie man bei einer Goldwährung nicht plötzlich ein anderes Metall
zum Zahlungsstandard erheben kann, lassen sich Alter oder Geschlecht durch
keine funktional äquivalenten Alternativkriterien ersetzen; und ähnlich
wie die Bestände an Edelmetall unkontrollierbaren exogenen Einflüssen
(bedingt durch zufällige Funde, Liquidierung bisher gehorteter Schätze
u.a.) unterliegen, so muss man bei biologisch fundierten
Statusattributionen hinnehmen, dass Kohorten irreversibel altern oder dass
unterschiedliche Nationalitäts- und Mortalitätsziffern die Besetzung der
Statusränge mitdeterminieren.
Genau entgegengesetzte Voraussetzungen und Folgeprobleme sind mit
Statuskategorien verbunden, die - wie z.B. Ausbildungszeugnisse,
Passpapiere, Führerscheine, Arbeitsbewilligungen u.a. - ausschliesslich
von Institutionen erzeugt werden und in ihrer Geltung von deren
dauerhaften inneren Funktionsfähigkeit und äusseren Legitimation
abhängig bleiben. Ihre Verankerung in der Welt des
"Objektiv-Faktischen" beschränkt sich meist auf physische
Schriftdokumente, die im Unterschied zu biologischen Attributen
artifiziell gestaltbar und reversibel umgestaltbar sind, dafür aber viel
anspruchsvolleren - von der Reichweite staatlicher Autorität oder
kultureller Konsensualität abhängigen - Geltungsbedingungen unterliegen.
Während über die objektiven biologischen Statuskriterien relativ
fundamentale, mit vielfältigsten Korrelaten verbundene
Sozialverhältnisse (z.B. Schulpflicht, Mutterschaftsurlaub,
Rentenberechtigung u.a.m.) ihre raumabhängige Geltung und Stabilität
empfangen, so dienen die übersubjektiven institutionellen
Statusattributionen eher dazu, translokale oder alokale Beziehungen sehr
spezifischer und transitorischer Art möglich zu machen.
So mag ich mit einem mir völlig unbekannten Spezialarzt allein deshalb
einen Konsultationstermin vereinbaren, weil ich mich berechtigt fühle,
aus dem im Telephonbuch angegebenen akademischen Titel auf seine
zureichende Qualifikation für die Behandlung meines Leidens zu
schliessen.
Diese einfache Alltagshandlung muss durch eine umfassende
gesellschaftliche Gesamtverfassung ermöglicht werden, die es mir erlaubt,
gleichzeitig zu sehr verschiedenartigen Institutionen volles Vertrauen zu
hegen:
- zu den Verwaltungsbetrieben der PTT: dass sie keinen Titel zum Namen
gesetzt hätten, wenn der Abonnent ihn nicht explizit mitgeteilt hätte;
- zu den Institutionen der Medizin: dass sie niemandem einen derartigen
Titel verleihen, ohne seine Fähigkeiten und Kenntnisse mittels Prüfungen
hinreichend zu verifizieren;
- zu den Institutionen der Polizei und der Gerichte: dass sie Personen
entdecken und bestrafen, die ungerechtfertigt akademische Titel führen,
Fehlt dieses institutionelle Vertrauen, wird der Kreis meiner in
Betracht gezogenen Interaktionspartner auf Personen eingegrenzt, über die
ich mir in eigenen kollokalen Begegnungen ein positives Urteil bilden
konnte, oder über die mir gute Bekannte eine vertrauenswürdige Bewertung
zukommen lassen.
So hat das institutionelle Vertrauen die doppelte Funktion, einerseits
Selbstvertrauen (in die eigene Urteilsfähigkeit)sowie interpersonelles
Vertrauen (in die Urteilsfähigkeit partikulärer Anderer) zu
substituieren, und andererseits den Kreis meiner potentiellen
Interaktionspartner über meinen direkten wie auch meinen indirekten
Bekanntenkreis hinaus zu expandieren.
Bei professionellen Beziehungen wie dem Arzt-Patient-Verhältnis kommt
noch hinzu, dass das institutionell fundierte Vertrauen auch über alle
kollokalen Interaktionen (z.B. im Sprechzimmer) hinweg seine ungebrochene
Bedeutung beibehält: weil ich als "hilfloser Laie" nicht
qualifiziert bin, mir aus Beobachtungen der professionellen Berufsperson
und ihrer Verrichtungen ein Urteil über ihre Fähigkeiten zu bilden.
In der Evolution menschlicher Gesellschaften hat nun aber auch eine
dritte Form der Statuszuweisung eine bedeutsame Rolle gespielt, bei der
sich
- fundierende Konstitutionsprinzipien auf der Basis faktischer,
objektiv evidenter biologischer Merkmale,
- spezifizierende Konstitutionselemente aus dem Raum
übersubjektiv-institutioneller Fixierungen,
relativ gleichgewichtig miteinander verbinden.
Diese Statuszuweisung auf Grund von Verwandtschaft darf als das
vielleicht ursprünglichste und universellste gesellschaftliche
Ordnungsprinzip angesehen werden, das speziell darauf angelegt ist,
völlig raumunabhängige soziale Beziehungen zu stiften und die
zentripetalen Kräfte der Gruppenkollokalität durch Gegengewichte
translokaler Solidarisierung, Austauschrelationen u.a. zu relativieren
(vgl. Simmel 1908a).
So beruht die extensive Integrationskraft der Exogamie genau darauf,
dass das in eine andere Kollokalgruppe eingeheiratete Mädchen nicht
aufhört, Tochter, Schwester, Nichte ihrer jetzt weit entfernten
Angehörigen zu sein, sondern alle diese Statusrelationen benutzen kann,
um in der neuen Gruppe eine besondere Identität zu verteidigen, bei
Bedarf Hilfeleistungen zu aktivieren oder gelegentliche Zusammenkünfte
beider Gruppen zu legitimieren.
Ungeachtet ihrer unendlich variablen spezifischen Ausgestaltung haben
alle Verwandtschaftsordnungen die Gemeinsamkeit, dass die objektive, nicht
kontingente Faktivität der gemeinsamen biologischen Deszendenz zur
Grundlage gewählt wird, um im horizontalen Verhältnis gegenwärtig
lebender Personen Erwartungs-, Normen- und Rollenstrukturen zu definieren.
Im Unterschied zu rein biologisch fundierten Attributionen (Alter,
Geschlecht u.a.) sind aber die beiden Ebenen des Faktisch-Gegebenen und
des Institutionell-Erzeugten wechselseitig stärker voneinander
differenziert, indem
- der Verwandtschaftsstatus nicht durch sinnliche Wahrnehmung aus der
Körperlichkeit der Person ersichtlich ist: und deshalb besonderer
sozialer und kultureller Vermittlungen bedarf, um bekannt und
anerkannt zu werden;
- die an einen Verwandtschaftsstatus gehefteten Erwartungen und
Pflichten mit dem objektiven Faktum der Blutsverwandtschaft
normalerweise nicht in einem objektiv-kausalen, sondern nur einem
konventionellen Verhältnis stehen: und deshalb relativ beliebig
variiert werden können;
- neben der vorgegebenen Blutsverwandtschaft immer auch intentionale
institutionelle Handlungsvollzüge (Heirat, Adoption) hinreichend
sind, um neue Verwandtschaftsverhältnisse (die allerdings immer
relativ irreversibel sind) zu begründen.
Die fast grenzenlose Elastizität des Verwandtschaftsprinzips wird dort
sichtbar, wo sich kollokale Familiengruppen unter Bezugnahme auf rein
fiktive "gemeinsame Ahnen" zu segmentär gegliederten Clans,
Lineages oder Stämmen zusammenschliessen, um beispielsweise für
Situationen gemeinsamer äusserer Bedrohung translokale
Solidaritätsbindungen abrufbereit zu halten, oder wo speziellere
Gruppierungen (meistens erwachsene Männer) sich durch bewusst
metaphorische Verwendung geläufiger Verwandtschaftsrelationen zu
"Blutsbruderschaften", Sodalitäten" u.a. verbünden (vgl.
z.B. Service 1971: 64ff.).
Vergleichende kulturanthropologische Studien zeigen deutlich, dass
derartige formalisierte Statusordnungen die Funktion haben mangelnde
kollokale Bindekräfte zu substituieren, und dass sie deshalb vor allem in
Jäger- und Sammlergesellschaften, deren Mitglieder zu hoher
geographischer Dispersion und dauernder unvorhersehbarer Migration
gezwungen sind, eine überragende integrative Bedeutung zu gewinnen. So
weisen die in Wüstengegenden angesiedelten australischen Völker, deren
Mitglieder wegen der knappen und weit verstreuten Wasserquellen keine
dauerhaften Kollokalbeziehungen aufrechterhalten können, besonders
zahlreiche und bedeutsame Sodalitätsgruppen auf: weil sie ohne solch
formalisierte, über kulturelle Mechanismen vermittelte Bindungen wohl
überhaupt nicht in der Lage wären, irgendeine Gruppeneinheit zu
bewahren. Umgekehrt mag das weitgehende Fehlen derartiger Organisationen
bei den relativ sedentären, im vegetationsreichen feuchten Küstenraum
lebenden Gruppen damit erklärt werden, dass dort die aus der
Kollokalität entstehenden Sozialbindungen genügend intensive und
umfassende Integrationskräfte entfalten (vgl. Yengoyan 1968: 185ff.).
"Wenn die Mitglieder einer Gruppe aus Subsistenzgründen sehr
verstreut leben müssen und der "residentielle Faktor" deshalb
schwach ausgeprägt ist, organisiert sich die Gruppe eher als Sodalität:
mit Insignien, Mythologien, Zeremonien, Betonung von
Verwandtschaftsrelationen usw., die das Kollektiv zu einer kohärenten und
kohäsiven Einheit zusammenschweissen.
Die "Sodalität" bildet also einen kulturell erzeugten
Faktor, der zwischen den geographisch-demographischen
Gruppenverhältnissen einerseits und der übrigen sozialen Organisation
andererseits interveniert. Keine Jäger- und Sammlergruppe existiert
ausschliesslich als residentielles Agglomerat, jede verfügt in ihrer
sozialen Struktur auch über Elemente der Sodalität. Aber Zahl und
Bedeutung derartiger Merkmale verhalten sich umgekehrt proportional zur
Stärke des residentiellen Faktors. Sind sowohl die Residenzfaktoren wie
die Sodalitätsfaktoren schwach, regrediert die Gesellschaft eher auf das
Niveau von Kleinfamilien, wie man dies von den Eskimos oder dem Volk der
Shoshore an der Westküste kennt." (Service 1971: 64/65).
Dieser unterschiedliche Bedarf nach Formalisierung und
Depersonalisierung von Statusordnungen wird auch in der Art der
verwendeten Verwandtschaftsklassifikationen deutlich:
Während die kollokal gut integrierten Küstengruppen ein
"egozentrisches" Klassifikationssystem benutzen, bei dem sich
jedes Individuum als Mittelpunkt eines eigenen partikulären
Beziehungsnetzes lokalisiert, so herrschen bei verstreuteren Gruppen in
ariden Gegenden soziozentrische Klassifikationen vor, die Individuen
derselben Generation und Heiratsgruppe dazu nötigen, sich in dieselben,
überpersonell fixierten Verwandtschaftskategorien einzuordnen (vgl.
Service 1971: 71).
In analoger Weise hat sich die geographisch weit verstreut lebende
Adelselite Deutschlands gezwungen gesehen, ihre Statusordnung auf die
objektive Grundlage genealogischer Handbücher abzustützen und ihr damit
einen Grad an Explizität, Stabilität und historischer Fundierung zu
verleihen, der mit den fluiden Verhältnissen bei der höfischen Elite
Frankreichs stark kontrastiert:
"Das Fehlen einer zentralen gesellschaftlichen Eliteformation, von
der Art der höfischen Gesellschaft Frankreichs oder der Society Englands,
die als einheitliche Prägstätte des Verhaltens, als Austauschstätte der
öffentlichen Meinung über den Marktwert der einzelnen Zugehörigen durch
personelles Erproben von Angesicht zu Angesicht hätte dienen können,
wurde - ausserhalb des Hochadels, der an Umfang klein genug für
persönliche Kontakte auch jenseits der regionalen und territorialen
Grenzen blieb und dessen Mitgliedern sich ziemlich regelmässig
Gelegenheit für persönliche Kontakte bot - vor allem ersetzt durch
relativ streng kontrollierte Abstammungs- und Zugehörigkeitsverzeichnisse
in Buchform......."(Elias 1983: 148f.).
Am französischen Hofe wurden solch askriptive, von der Deszendenz
hergeleitete Kriterien der Statuszuweisung zwar ebenfalls respektiert,
aber immer auch durch aktuelle erworbene Rangdifferenzierungen
überlagert, die sich aus der Gunstbeziehung zum Monarchen oder den
Einflusschancen auf seine Minister oder Maitressen ergaben und den
Turbulenzen täglicher kollokaler Interaktionsprozesse ausgeliefert
blieben:
"Die aktuelle Rangordnung innerhalb der höfischen Gesellschaft
schwankte fortwährend hin und her. Die Balance innerhalb dieser
Gesellschaft war, wie gesagt, sehr labil. Bald kleine und unmerkliche
Erschütterungen, bald grosse und sehr merkliche Erschütterungen
veränderten ununterbrochen die Stellung und die Distanz der Menschen
innerhalb ihrer. Diese Erschütterungen zu verfolgen, dauernd auf dem
Laufenden über sie zu sein, war für den höfischen Menschen
lebenswichtig...."(Elias 1983: 139).
Je geringer die Reichweite und Intensität kollokaler Faktoren, desto
eher scheint ein soziales Kollektiv genötigt, all seine übersubjektiven,
institutionellen und kulturellen Festlegungen vorrangig für Zwecke und
der Stabilisierung und Integration in Anspruch zu nehmen und sie
dementsprechend rigide zu traditionalisieren: ähnlich wie das Judentum in
der Diaspora in den starren Regeln des Talmuds eine Stütze fand, um 2000
Jahre der Staatenlosigkeit ohne Verlust seiner ethnischen Einheit zu
überdauern.
Und umgekehrt: in dem Masse, wie Sesshaftigkeit, territoriale
Kontiguität und verdichtete urbane Lebensweise für eine Stärkung
kollokaler Integrationskräfte sorgen, wird es risikoloser möglich,
institutionelle Prozesse und kulturelle Produktion aus starren
Konservierungszwängen in die Sphäre freier Kreativität und
Innovativität zu entlassen, was sicherlich die in allen historischen
Epochen feststellbare produktive Fermentwirkung der Städte (wie auch der
herrschaftlichen Hofhaltungen) erklärt.
Dank ihrer immensen Fähigkeiten zur Produktion standardisierter
Artefakte einerseits und zur Implementation institutioneller Steuerungen
andererseits verfügen moderne Gesellschaften über ein schier
unerschöpfliches Arsenal von Vehikeln, die für die subjekt-,
interaktions- und situationsunabhängige Übertragung von Sinn in Frage
kommen und für die Erleichterung translokaler Kommunikation Verwendung
finden können. So kann es sich der heutige Kaufmann (im Gegensatz zu
seinem mittelalterlichen Kollegen) aus zwei Gründen ersparen, zusammen
mit seiner Handelsware in ferne Länder zu reisen und jeder Transaktion
persönlich beizuwohnen:
- Weil die versandten Güter dank ihrer standardisierten industriellen
Herstellung mit derart homogenen Merkmalen ausgestattet sind, dass
jedes einzelne Stück das Interpretationsschema, ein
"Zahnrad", ein "Fernsehapparat" oder ein
"Nylongewebe" zu sein, auf die vollkommenste Weise erfüllt.
Dadurch wird es überflüssig, ähnlich wie z.B. im Vieh- oder
Kunsthandel bei jedem einzelnen Kaufakt separate Überzeugungsarbeit
zu leisten.
- Weil das Vertrauen in Bankinstitutionen, staatliche
Bürgschaftsgarantien sowie in die allfällige gerichtliche
Erzwingbarkeit von Ansprüchen dafür sorgen, dass fernschriftlich
fixierte Kontrakte, Kreditanweisungen, Kontenübertragungen usw.
uneingeschränkte Geltung haben. Dadurch wird ein Käufer
beispielsweise davon entlastet, an Ort und Stelle abzählbare
Goldstücke in Empfang zu nehmen und noch während der Anwesenheit des
Zahlers auf Echtheit zu überprüfen.
Erst seit der Einführung standardisierter maschineller
Herstellungsverfahren kann man von verschiedenen materiellen Objekten
behaupten, dass sie in jeder (individuell und sozial) relevanten Hinsicht
einander de facto ebenso gleich seien, wie dies de jure z.B. für
verschiedene Banknoten oder Briefmarken desselben Nominalwertes gilt. Und
erst diese quasi-ideale Identität und Substituierbarkeit macht es mir
möglich, die meisten Gebrauchsartikel von Versandhaus herschicken zu
lassen und nur noch zum Erwerb handgeknüpfter Orientteppiche,
handwerklicher Antikmöbel oder bibliographische Kostbarkeiten in die
Stadt zu gehen: weil der Unikatcharakter solcher Objekte es nach wie vor
unerlässlich macht, jedes Stück persönlich zu besichtigen und im
kollokalen Gespräch den vertrauensvollen Rat des Fachverkäufers
einzuholen.
Überall sind es die am meisten standardisierten, konventionalisierten
und externalisierten Manifestationen der Kultur, die sich als Medien
translokaler sozialer Integration am besten eignen: so dass in extensiven
Räumen (z.B. im nationalen Territorialstaat oder auf internationaler
Ebene) häufig ritualistisch erstarrte Traditionen vorherrschend bleiben,
während in kollokalen Interaktionszentren (z.B. Städten, Universitäten)
aktuellere und fluidere kulturelle Muster vorherrschend sind.
Typischerweise findet man in der Kulturgeschichte immer wieder die
Sequenz, dass sich zuerst in geographisch sehr engen und durch hohe
kollokale Verdichtung gekennzeichneten Räumen (z.B. in Städten,
Klöstern, an Fürstenhöfen oder Campusuniversitäten) bedeutsame
kulturelle Innovationen entstehen und ihre erste "Testphase"
durchlaufen, bevor sie dann eine weiträumige, teilweise gar
weltumspannende Propagation erfahren.
Die Ausbreitung der sumerischen Kultur in den akkadischen Reichen, der
Kultur des antiken Griechenlands zur Zeit des Hellenismus und des IMPERIUM
ROMANUM sowie der westeuropäischen Kultur unter dem Einfluss der
Kolonialmächte und der USA - dies sind nur drei Beispiele für dieses
symbiotische Zusammenwirken kleinstaatlicher Kulturproduktion und
grossstaatlicher Kulturdiffusion. Charakteristisch für die letztere ist
jeweils, dass sich dezentrale Prozesse spontaner Assimilation (z.B. im
Rahmen von Modeströmungen und sozialen Bewegungen) und zentralistische
Vorgänge politischer Oktroyation (z.B. im Gefolge militärischer
Eroberungen) komplementär miteinander verbinden.
Nicht zufällig werden die weltumspannendsten Formen regelmässiger
sozialer Interaktion auch in der Gegenwart durch Institutionen oder
Vereinigungen garantiert, die besonders routinisierte und
traditionalistisch-verfestigte Ziele, Verfahrensweisen und Normstrukturen
verwalten. Von der katholischen Kirche über den Weltpostverein und den
internationalen Fussballverband bis zum Nestlé-Konzern und der Coca Cola
Corporation spannt sich der Bogen solcher nichtstaatlicher transnationaler
Organisationen, deren kontinuierliche globale Aktivität dadurch gesichert
wird, dass überall genau dieselben, im Medium schriftlicher Regeln oder
materialisierter Techniken erschöpfend explizierbaren,
Verhaltensorientierungen gelten und unabhängig von der immensen
Variabilität der Situationsbedingungen oder Mitgliedermerkmale völlig
identische Verfahrensabläufe oder Produktionsprozesse aufrechterhalten
werden.
Die auffällige Regularität, dass die vor Jahrzehnten gegründeten
transnationalen Assoziationen häufig weltumspannend sind, während
Vereinigungen jüngeren Gründungsdatums sich überwiegend auf ein
regionales Einzugsgebiet beschränken (vgl. Geser 1983) mag damit
zusammenhängen, dass immer mehr auch weniger formalisierte Sphären der
Kultur (z.B. im wissenschaftlich-technischen Bereich) in die
internationale Interaktion einbezogen werden, zu deren Pflege häufige
kollokale Zusammenkünfte (Versammlungen, Workshops, Symposien u.a.)
unerlässlich sind.
Innerhalb der weltweiten Organisationen selbst kann man eine
Funktionsverteilung sehen, in der sich der unterschiedliche Bedarf nach
kollokaler Interaktion widerspiegelt. Zum Beispiel tendieren
multinationale Konzerne dazu, ihren Dritt-Welt-Filialen ausschliesslich
hoch routinisierbare Fertigungsprozesse zuzuweisen, die relativ wenig
radiale Kommunikation mit der Zentrale erforderlich machen: während die
problematisch-labilen, subtile Verständigung und intensiven
Informationsaustausch erfordernden Funktionen (der Forschung und
Entwicklung, des Finanzmanagements u.a.) in den zentralen
"Headquarters" belassen werden. Diese sind überdies häufig in
das Kollokalfeld einer weltstädtischen City eingebettet, innerhalb dem
rasch und ohne grosse Anstrengungen Zusammenkünfte mit verschiedenen
Komplementärinstanzen (Rechtsberatern, Werbeagenturen, Finanz- und
Börsenfachleuten, hohen Regierungsbeamten u.a.) stattfinden können (vgl.
König 1974: 88/89; Palen 1975: 99).
Hat sich die Industrie dank ihrer standardisierten maschinellen
Massenproduktion bereits seit Anbeginn von den städtischen Zentren (an
die das qualifiziertere Handwerk immer gebunden blieb) emanzipieren
können, um irgendwo im ländlichen Raum aus billigen Arbeitskräften oder
energiespendenden Wasserläufen Nutzen zu ziehen, so erhalten dank
fortschreitender technisch-organisatorischer Routinisierung immer mehr
Fertigungsprozesse eine Form, in der sie vom Entstehungskontext abgelöst
und - aus durchaus gleichgebliebenen Motiven der Kostenersparnis - in
ferne Billiglohnländer verlagert werden können (vgl.
Fröbel/Heinrichs/Kreye 1972).
In dem Masse, wie die translokal integrierten "Peripherien"
derartige Funktionen absorbieren, entstehen im "Zentrum"
Unterbeschäftigungen, die nur durch eine umso stärkere Expansion nicht
routinisierter (und deshalb stärker auf kollokale Interaktion
verwiesener) Funktionen vermindert werden können (vgl. z.B. Piore/Sabel
1984: passim).
Generell muss das klassische Verhältnis zwischen Stadt und Land vor
allem unter dem Gesichtspunkt begriffen werden, dass im urbanen Raum eher
unstandardisierte, innovative, informell-diffuse und deshalb auf subtile
Interaktion angewiesene Tätigkeiten, Interaktionsformen und
Produktionsprozesse vorherrschend sind, währen rurale Gebiete nur über
relativ stark formalisierte und konventionalisierte Symbolstrukturen mit
den städtischen Zentren in Verbindung stehen und häufig sogar die
Funktion haben, als "Endablagerungsstätten" für fossilierte,
in den Städten vielleicht bereits lange als "altmodisch" oder
obsoleszent angesehene Formen der Kultur, Technik, Organisation u.a. zu
dienen.
So muss man als Landbewohner hinnehmen, dass via Fernsehen überwiegend
"bewährte", wenn nicht gar völlig antiquierte Serienfilme und
Theateraufzeichnungen gesendet werden, der Versandhauskatalog nur gängige
Standardartikel anzubieten hat, der überforderte Dorfarzt seine
therapeutischen Massnahmen allzu oft auf die Applikation handelsüblicher
Pharmazeutika beschränkt und die kommunale Verwaltung wegen ihrer stark
routinisierten Vollzugsaufgaben (Einwohnerkontrolle, Grundbuchregistratur
u.a.) wenig Anlass zu politischem Interesse bietet.
Der Reiz des Stadtlebens besteht demgegenüber - auch und gerade in der
modernen Gesellschaft - genau umgekehrt in der Möglichkeit, an
innovativ-experimentellen Aufführungen oder Kunstvernissagen beizuwohnen,
Spezialgeschäfte mit seltenen, teilweise gar einzigartigen
Verkaufsgegenständen aufsuchen zu können, sich bei der Wahl von
Sexualpartnern äusserst selektiv zu verhalten, beim Spezialarzt oder in
der universitären Poliklinik hochkomplexe medizinische Fachberatung zu
bekommen oder sich an einer lebendigeren innovativeren politischen Szene
zu beteiligen.
Aus der Perspektive etablierter sozialer Ordnungen sind kollokale
Interaktionssysteme - ganz unabhängig von den Inhalten ihrer Prozesse und
Zielsetzungen - in einem sehr grundsätzlichen Sinne
"subversiv": weil sie dank ihres geringeren Bedarfs an
übersubjektiven Fixierungen in der Lage sind, sich von institutionellen
Regeln und kulturellen Traditionen jeglicher Art zu emanzipieren, ihnen
eine selbsterzeugte Mikroordnung fluiderer, reversiblerer Art
entgegenzusetzen, und vielleicht gar als Brutstätten sozialer und
kultureller Innovationen auf die umfassenderen (oft zu keiner
selbständigen Wandlung befähigten) Systemebenen einzuwirken.
Die raumübergreifenden Institutionen und Organisationen pflegen diesem
gleichzeitig unentbehrlichen und bedrohlichen funktionalen Potential
kollokaler Systeme mit entsprechender Ambivalenz gegenüberzustehen.
Auf der einen Seite sind sie zwecks Erhaltung ihrer inneren
Flexibilität und äusseren Adaptionsfähigkeit darauf angewiesen,
kollokale Subsysteme gelten zu lassen oder gar absichtlich zu erzeugen.
Vorstandssitzungen, Generalversammlungen, Konzilien, Workshops,
Kongresstagungen oder Festivals sind gängige Arrangements, um kollokale
Interaktionssysteme in institutionell kontrollierbare und domestizierbare
Formen zu zwingen und deren "Sprengkräfte" auf ein mit der
Aufrechterhaltung des überlokalen Strukturrahmens kompatibles Mass
zurückzubinden.
Auch Grossversammlungen pflegen unter diesem moderierenden Einfluss den
Charakter "stockender" bzw. "verlangsamter" Massen
(Kundgebungen, Prozessionen, Kirchengottesdienste, Zuschauermengen usw.)
anzunehmen: einen Aggregatzustand, bei dem die immanenten Energien
unkontrollierbaren Kollektivhandelns latent gesetzt sind, ohne dass
allerdings die Angst vor ihrer potentiellen Entfesselung völlig aus dem
Erwartungshorizont verschwindet (vgl. Canetti 1980: 32ff.).
Auf der andern Seite werden Kollokalsysteme als Quellen
unvorhersehbarer Ereignisse gefürchtet, die den institutionellen Apparat
mit vielfältigen neuen Forderungen und Problemen belasten und als
Ausgangspunkte für unwillkommene Neuerungen oder bedrohliche Häresien in
Betracht gezogen werden müssen.
Selbst von den formellen Autoritäten offiziell veranstaltete (und
maximaler Überwachung und Kontrolle zugängliche) Kollokalsysteme können
sich als wahre "Pandorabüchsen" erweisen, die man besser gar
nicht (er-)öffnet, wenn man Wert darauf legt, den institutionellen Status
quo unbeschädigt zu erhalten.
Daraus erklärt sich zum Beispiel, warum konservative autokratische
Herrscher selbst Parlamente, in denen ihre Sympathisanten die Mehrheit
haben, meist nicht mehr einzuberufen pflegen, warum die Kurie im Vatikan
der Einberufung von Kirchenkonzilien eher abweisend gegenübersteht, und
warum ein blosses Zusammentreffen von Führern verfeindeter Staaten,
Parteien oder Verbände als Ereignis gewertet wird, das kommende
Wandlungen in ihrem wechselseitigen Verhältnis signalisiert.
Eine experimentelle Untersuchung von Morley et al. (1969) hat gezeigt,
dass Verhandlungsprozesse auf eine charakteristische Weise anders
verlaufen, wenn unter Anwesenden die Partner nur übers Telephon anstatt
"am grünen Tisch" miteinander kommunizieren. Beim translokalen
fernmündlichen Kontakt scheint es nämlich viel besser möglich, ein mit
den universalistischen Wertkriterien der Beteiligten kompatibles Ergebnis
zu erzielen und der Partei mit dem besser legitimierbaren Anliegen (dem
"stronger case") zum Durchbruch zu verhelfen. In der kollokalen
Situation hingegen scheinen vor allem auf Grund nonverbaler
Wechselwirkungen (z.B. Augenkontakte) der Beteiligten Wirkungen
auszugehen, die mit Rechtfertigungsansprüchen nichts zu tun haben und auf
unkontrollierbare Weise irgendein anderes, davon abweichendes
Verhandlungsresultat induzieren (vgl. Morley/Stephenson/Kniveton 1978).
Daraus wäre beispielsweise zu folgern, dass kollokale
Verhandlungssysteme vor allem bei jenen Konflikten unentbehrlich sind, wo
es wegen der Inkommensurabilität oder der Gleichrangigkeit der
gegenüberstehenden Interessen und Wertprioritäten gar nicht möglich
wäre, ein nach übergeordneten Grundsätzen "objektiv richtiges und
gerechtes" Ergebnis zu erzielen, und dass sie andererseits überall
dort (z.B. innerhalb von Bürokratien oder im Verhältnis bürokratischer
Stellen zu betroffenen Bürgern) korrumpierend wirken, wo man auf der
strikten Implementierung einmal festgelegter Bewertungskriterien
insistiert.
Noch ungleich schwieriger sind die von all den periphereren
Kollokalsystemen (z.B. Gemeinden, Pfarreien, Filialbetrieben, "profit
centers", Schulklassen, Aussendienststellen usw.) ausgehenden
"Subversionswirkungen" vorauszusehen und unter Kontrolle zu
bringen: weil in den Herrschaftszentren meist nicht einmal erfahrbar ist,
was sich dort alles vollzieht, und auch vollständige Kenntnisse darüber
oft nicht helfen könnten, weil keine präzisen Steuerungs- und
Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Andererseits sorgt dieser selbe Mangel an umfassenden Kommunikations-
und Kontrollmöglichkeiten dafür, dass solche Devianzen bei den
Einheiten, in denen sie entstehen, insuliert bleiben und weder auf andere
Subeinheiten noch auf die Gesamtinstitution übergreifen.
So ist das in Myradien unbezüglich nebeneinander koexistierender
Schulen und Schulklassen segmentierte Bildungssystem dadurch
charakterisiert, dass es
- einerseits keine Kapazitäten hat, um über all diese Subeinheiten
hinweg einheitliche Wert-, Ziel- und Verhaltensstandards zu
implementieren;
- andererseits aber gegenüber den vielfältig abweichenden Praktiken
in diesen kollokalen Subsystemen auch fast völlig unempfindlich ist:
weil keines von ihnen die Fähigkeit hat, auf andere gleichrangige
Segmente Einfluss zu nehmen (und weil Beeinflussungsversuche
institutioneller Zentren folgenlos bleiben, da diese ihrerseits nicht
in der Lage wären, Neuerungen extensiv durchzusetzen) (vgl.
Meyer/Rowan 1978).
An der Beziehung zwischen dem Territorialstaat und der Gemeindeebene
lassen sich die ambivalent- widersprüchlichen Beziehungen einer alokalen
Institution zu ihren kollokalen Subeinheiten besonders gut illustrieren.
Vom Standpunkt des politisch-administrativen Staatsapparates aus
gesehen sind die Gemeinden "periphere Grenzstationen", denen die
Funktion zukommt,
- in überschaubaren verdichteten Siedlungszonen für die
Implementation staatlicher Regeln und Massnahmen zu sorgen und dabei
die von den überlokalen Instanzen fixierten Erwartungen mit den
Besonderheiten des lokalen Kontextes zu vermitteln, sowie
- "in vorderster Front" mit den Vollzugsschwierigkeiten
zurechtzukommen, wie sie beispielsweise aus realitätsfernen
Gesetzesnormen, aus unzureichend präzisierten Verwaltungsanweisungen
oder unsensibel vereinheitlichten Leistungserwartungen entstehen (vgl.
Geser 1986a: 182; Lipsky 1976).
Unabhängig vom Föderalismus oder Unitarismus seiner formalen Verfassung
scheint kein Staat willens oder in der Lage, auf die intermediäre
Mitwirkung dieser historisch gewachsenen kommunalen Kollokalsysteme zu
verzichten und sie völlig durch ein von ihm selbst artifiziell erzeugtes
System administrativer Subeinheiten zu ersetzen.
Denn überall bewähren sich Gemeinden mit ihrer Fähigkeit,
- eine auf die lokalen Gegebenheiten Rücksicht nehmende
ergänzende politisch-administrative Mikroordnung zu konstitutieren,
die für den Vollzug staatlicher Massnahmen unentbehrlich ist, obwohl
sie von den politischen Herrschaftszentren aus nicht explizit
konzipiert wird, ja den Vorstellungen und Intentionen der überlokalen
Behörden oft sogar widerspricht;
- ad hoc auf eine Unzahl unerwarteter und neuartiger Problemfälle
reagieren zu können, die den überlokalen Instanzen (noch) nicht
bekannt sind und (noch) nicht Gegenstand umfassender politischer
Entscheidungen geworden sind.
"Die soziale Organisation der Gemeinde muss als ein äusserst
flexibles System menschlicher Adaptation betrachtet werden. Ihre flexible
und lockere Organisation, ihre informelle und unspezifizierte Komplexität
erlaubt es, dass sie auf eine praktisch unbegrenzte Vielfalt von
Ereignissen, Kontextbedingungen und Umweltanforderungen reagiert. Mit
ihrer Fähigkeit, ihre sozialen und ökonomischen Ressourcen kurzfristig -
und oft unter erheblichem Druck - in immer wieder neuer Form und für
immer wieder andere Zwecke zu mobilisieren, übertrifft sie alle andern
sozialen Systeme." (Leeds 1973: 22/23).
Entsprechend gibt es fast überall zumindest de facto einen Zustand,
den man in föderalistischen Ordnungen als "Subsidiaritätsprinzip
der Gemeindeautonomie" bezeichnet: weil es aus rein organisatorischen
Zwängen immer die Gemeinden sind, die den residualen Bestand der vom
Staat ignorierten oder noch nicht bewältigten Problemen zu bearbeiten
haben und dank dieser Filtertätigkeit den überlokalen Instanzen eine
entsprechende "windstillere" Umwelt verschaffen, in der diese
unbelastet von dringlichen Handlungszwängen längerfristige
Planungsperspektiven und relativ rigide Normstrukturen aufrechterhalten
können (Geser 1986a: 182).
Dieselben Merkmale der Informalität und Flexibilität, die der
Gemeinde ihre unentbehrliche komplementäre Funktionsstellung innerhalb
des Territorialstaats verschaffen, erlauben es aber auch, dass sie
substitutiv zur staatlich oktroyierten Ordnung eine davon abweichende
lokale Ordnung erzeugt. Die Überlebensfähigkeit derartiger örtlicher
Subkulturen wird dadurch erhöht, dass sie
- wegen ihrer Informalität relativ unsichtbar und für die
Oberbehörden schwer objektivierbar bleiben,
- vom Staat nicht zerstört werden können, ohne dass gleichzeitig
auch die positiven Funktionsleistungen der Gemeinde mitbeschädigt
werden.
Nur in Grenzfällen äusserst geringer staatlicher Legitimität pflegen
kommunale Gemeinwesen der umfassenden politischen Ordnung als kohäsive,
von aussen unpenetrierbare Solidaritätsgemeinschaften gegenüberzutreten:
wie z.B. die "Favelas" brasilianischer Grossstädte, wo
äusserst dichte informelle Beziehungsnetze dafür sorgen, delinquente
Angehörige vom Zugriff der Polizei zu schützen oder kollektive Formen
der Steuerverweigerung zu organisieren (vgl. Leeds 1973).
Viel universeller ist die Erscheinung, dass örtliche Verwaltungs-,
Polizei- oder Sozialhilfestellen unter dem unbezwinglichen Einfluss
kollokaler Interaktionsbeziehungen dazu neigen, ihre Amtspflichten nicht
mehr mit dem erforderlichen Mass an Regeltreue, affektiver Neutralität
und Universalismus wahrzunehmen, oder aus Angst vor Pressionen, vor denen
sie keine höhere Amtsstelle schützen kann, gar völlig illegitime
Praktiken zu applizieren (vgl. z.B. Lipsky 1976).
Aus der begrenzten methodologischen Relevanz des "positonalen
Ansatzes" in der Kommunalsoziologie (vgl. z.B. Drewe 1974) wird auch
deutlich, in welch geringem Masse die faktische Verteilung von Macht und
Einfluss den formell zugeschriebenen Amtskompetenzen folgt, sondern sich
aus intrakommunalen Strukturbildungsprozessen ergibt. Ebenso sind
kommunale Bevölkerungen bei der Einschätzung ihrer Führer relativ wenig
auf gesamtgesellschaftlich standardisierte, mit dem Berufs- oder
Bildungsstatus verknüpfte Prestigeindikatoren angewiesen, sondern können
an deren Stelle autonom erzeugte Kriterien "informeller persönlicher
Wertschätzung" setzen (vgl. Wurzbacher/Pflaum 1954).
Aus analogen Gründen ist es auch schwierig, kommunale Wahlergebnisse
aus den ideologischen Standpunkten und Parteiloyalitäten der Wähler zu
erklären: weil derartige objektivierte Orientierungsprinzipien meist nur
im überlokalen Raum vonnöten sind, im kollokalen Feld der Gemeinde
hingegen durch mannigfache informelle Einflussprozesse, Bindungen und
Rücksichtnahmen ausser Kraft gesetzt werden können, die eine bedeutend
höhere Labilität der Wahlentscheidungen mit sich bringen (vgl.
Jennings/Niemi 1966).
Dank ihrer unspezifischen Disponibilität für eine Vielfalt
verschiedenartiger und unvorhersehbarer Aufgaben sind kollokale Systeme
überall zur Absorption residualer, in den expliziten Erwartungs-, Rollen-
und Organisationsstrukturen nicht berücksichtigter Problemfälle
geeignet: indem sie auf jene nie völlig vermeidbaren Umweltereignisse
oder systeminternen Störfälle reagieren, für die sich wegen ihres
seltenen Auftretens oder ihres unberechenbaren und singulären Charakters
ex ante keine Verfahrensregeln und Rollenstrukturen einrichten lassen.
So können zum Beispiel Nachbarschaftsbeziehungen als äusserst
generalisierte "Reservepotentiale des Kollektivhandelns"
angesehen werden, die - vor allem in modernen Gesellschaften - kaum
mobilisiert werden müssen, solange die weiträumiger operierenden
formalen Institutionen (Feuerwehr, Elektrizitätswerke, Polizei,
Wasserversorgung, Spitalambulanzen u.a.) befriedigend funktionieren, und
solange keine neuartigen Problemtypen auftreten, die den - immer
spezifisch definierten - Zuständigkeitsbereich dieser Institutionen
transzendieren.
Nur subsidiär, reaktiv und meistens transitorisch gewinnen
nachbarschaftliche Solidaritätsnetzwerke an Bedeutung und Inhalt: z.B.
wenn ein plötzlicher Stromausfall dazu zwingt, einander mit
Streichhölzern oder Kerzen auszuhelfen, wenn Funkstille bei Massenmedien
dazu nötigt, Neuigkeiten auf dem Wege kettenartig weitergereichter
Gerüchte zu erfahren, oder wenn man wegen des Fehlens einschlägiger
Dienstleistungsbetriebe keine andere Wahl hat, als die ferienbedingte
Fremdbetreuung von Katzen, Papageien oder Gartenpflanzen
vertrauenswürdigen Anwohnern zu überlassen.
Ebenso sind nachbarschaftliche Netzwerke horizontaler Sozialkontrolle
vorwiegend als Reaktion auf die notorische Insuffizienz formell
zuständiger Polizeiorgane zu verstehen (vgl. Hahn/Schubert/Siewert
1979:121), genauso wie quartierbezogene Bürgerinitiativen die Funktion
haben, die defizitäre politische Artikulationsarbeit formaler
Interessenverbände und Parteien zu substituieren (Guggenberger 1980:
passim).
Umgekehrt gilt auch, dass Sozialsysteme umso stärker auf Kollokalität
umstellen müssen, je mehr sie der Umwelt relativ einflusslos, defensiv
und reaktiv gegenüberstehen: sei es, weil sie nicht über genügend
externe Macht verfügen, um die Aufgaben, mit denen sie umgehen, selber
auszuwählen oder gar autonom zu erzeugen; sei es, weil sie nicht wissen
(können), auf welche zukünftigen Ereignisse und Problemsituationen sie
sich vorzubereiten haben.
Je geringer die Kontrolle und/oder Voraussicht über Ereignisse in der
Umwelt und/oder im Innern des Systems selbst, desto funktionaler ist es,
sich ex ante auf ein unabsehbar breites Spektrum möglicher Problemfälle
einzustellen und die kollektiven Handlungspotentiale in einem entsprechend
"liquiden", permanent respezifizierbaren Zustand zu erhalten.
Dies ist aber nur möglich, wenn sich das soziale System
- den räumlichen Restriktionen unterwirft, wie sie aus dem
Zwang zu permanenten kollokalen Rückkoppelungsbeziehungen zwischen
den Mitgliedern entstehen,
- die zeitlichen Restriktionen hinnimmt, die daraus entstehen, dass
jeder Adaptationsvorgang einen diachronen Prozess der strukturellen
Spezifizierung erfordert: während formalisierte, auf antizipierte
Ereignisse hin konzipierte Verfahrensweisen ohne Zeitverzug
aktualisiert werden können (und sich deshalb besonders bei sehr
dringlichen Problemfällen bewähren).
So beruhen die in Kontraststellung zum klassischen Bürokratiebegriff
konzipierten, z.B. unter Bezeichnungen wie "organic management"
(Burns/Stalker 1961) oder "feed back coordination" (Simon 1960)
bekanntgewordenen Modelle "umweltoffener Organisation" allesamt
auf der Vorstellung, dass es prinzipiell möglich (und unter Bedingungen
hoher Variabilität und Ungewissheit sinnvoll oder gar unausweichlich
sei), formale strukturelle Fixierungen als Medien der
Verhaltensorientierung und Systemkoordination in den Hintergrund treten zu
lassen und durch Prozesse interaktiver Abstimmung zu substituieren, aus
denen sich dann jeweils eine der partikulären Problemkonstellation
angepasste Organisationsform ergibt (vgl. Hickson 1966; Shortell 1977;
Müller 1973; Lawrence/Lorsch 1967).
Die damit einhergehende Bindung an Kollokalität wird in einer
komparativen empirischen Untersuchung von Van de Ven et al. deutlich, wo
sich zeigt, dass die Binnenkoordination von Industriebetrieben umso
stärker auf "Zusammenkünfte" und "Sitzungen"
abgestützt werden muss, je mehr
- in der Umwelt des Systems unvorhersehbare Ereignisse auftreten, weil
über den Charakter und die Lösungswege der anfallenden Probleme hohe
Ungewissheit ("task uncertainty") besteht;
- in Inneren des Systems eine hohe wechselseitige Verflechtung der
Arbeitsgänge ("work flow interdependence") dafür sorgt,
dass unvorhersehbare, in den ex ante festgelegten Plänen und Regeln
nicht berücksichtigte Koordinationsprobleme bewältigt werden müssen
(Van de Ven/Delbecq/König 1976).
Allerdings bleibt auch in dieser Studie wie in den meisten anderen
implizit, wie teuer solche Zugewinne an struktureller Flexibilität durch
Adaptationsverluste ganz anderer Art bezahlt werden müssen: indem
nämlich
- die räumliche Reichweite der Systemaktivitäten schrumpft, weil
sich die Mitglieder während eines grösseren Teils ihrer Arbeitszeit
am selben Ort ihrer gemeinsamen Interaktion aufhalten müssen;
- paradoxerweise auch die Offenheit für Aussenstimuli stark abnehmen
kann: insofern die regen innenorientierten Interaktionsprozesse
geeignet sind, die Aufmerksamkeit der Mitglieder voll zu absorbieren;
- nur Problemumwelten tolerierbar sind, in denen die einzelnen
Problemereignisse sequentiell aufeinander folgen und genug
Anpassungszeit gewähren, um die aufwendigen systeminternen
Kommunikations- und Entscheidungsfindungsprozesse unbehelligt
stattfinden zu lassen.
Die permanent stattfindenden Strukturbildungs- und -umbildungsprozesse
beanspruchen weniger Zeit und Mühe, wenn die Werte, Ziele, Normen und
Verhaltenserwartungen, über die Verständigung angestrebt wird, nicht ex
nihilo erzeugt werden müssen, sondern aus einem Reservoir präformierter
Elemente ausgewählt und kombiniert werden können.
So beziehen die von Strauss et al. beschriebenen psychiatrischen
Behandlungsteams ihre speditive Flexibilität aus dem Umstand, dass sie im
Laufe ihrer Interaktionsgeschichte einen Überschussbestand an jederzeit
abrufbaren Normen und Verhaltensregeln akkumuliert haben, von denen je
nach den situativen Erfordernissen die einen aktualisiert werden und die
andern in Latenz verharren:
"Für uns Beobachter war ebenfalls bemerkenswert, dass einmal in
Geltung gesetzte Regeln alsbald wieder ignoriert oder vergessen wurden, um
dann periodisch eine Art "administrative Wiederauferstehung" zu
erfahren. 'Ich wünschte mir, dass sie alle irgendwann einmal
aufgeschrieben würden', hat sich eine leitende Schwester ausgedrückt.
Tatsache ist, dass die Mitarbeiter nicht nur die ihnen von vorgesetzter
Stelle aufoktroyierten, sondern auch die von ihnen selbst in Kraft
gesetzten Regeln nach kurzer Gebrauchszeit immer wieder vergessen, bis
irgendeine Krisensituation deren Wiederbelebung erzwingt." (Strauss
et al. 1964: 303).
Jede Institution verfügt deshalb in ihren kollokalen Subeinheiten
einen reichen "variety pool" an (noch) nicht umfassend
implementierten Alternativen, die in ihrer insulierten Nische ein
schlummerndes, samenhaftes Dasein fristen. Auf der einen Seite erweist
sich diese infrainstitutionelle Komplexität als Quelle bedrohlicher
Störungen und Infragestellungen, denen gegenüber die vereinseitigen
überlokalen Fixierungen immer wieder neu verteidigt werden müssen, auf
der andern Seite aber als eine endogene Quelle der Befruchtung und
Erneuerung, die der Institution dazu verhilft, irreversiblen inneren
Erstarrungen zu entgehen und im Hinblick auf die Bewältigung neuer
Umweltsituationen und Problemkonstellationen zusätzliche
Adaptationsfähigkeiten zu erschliessen.
Auf strikte Integration und Konformität bedachte Institutionen wie
Kirchen oder Armeen werden immer dazu neigen, diesen Variationsreichtum
ihrer kollokalen Subsysteme (z.B. Pfarreien oder Regimenter) in engen
Grenzen zu halten. Als Folge davon ist ihr endogenes Innovationspotential
oft derart gering, dass Reformen von äusseren Stimuli her veranlasst
werden müssen und völlig vom Willen der Führungsspitzen abhängig
bleiben.
Im diametralen Gegensatz dazu beziehen innovationsorientierte
Institutionen wie die Wissenschaft oder die private Marktwirtschaft ihre
immense endogene Eigendynamik daraus, dass sie ihren kollokalen
Subeinheiten (Forschungsteams, Betrieben u.a.) freie
Entfaltungsspielräume und ungehinderte Kommunikationschancen gewähren.
Wie neuerdings wieder vermehrt erkannt wird, sind es auch in der
Ökonomie häufig gerade nicht die weltumspannenden multinationalen
Unternehmen, die sich im Zeitalter rasch wandelnder Technologien und
Marktbedürfnisse als Hauptquelle kreativer Adaptation erweisen, sondern
räumlich verdichtete Netzwerke interorganisationeller Kooperation. Die
Seidenindustrie um Lyon, das Stoffdruckgewerbe im Elsass oder die
italienische Textilproduktion um Prato sind Beispiele solcher regionaler
Produktionssysteme, denen es dank flexibler Solidarität und Kooperation
zwischen Unternehmern, Financiers, Technikern, Handwerkern u.a. gelingt,
in rascher Folge zu immer wieder neuen Technologien, Organisationsformen
und Produktangeboten überzuwechseln und damit die internationale
Konkurrenzfähigkeit zu wahren (vgl. Piore/Sabel 1984: passim).
Im heutigen Zeitalter komplexester Hochtechnologien (z.B. der
Mikroelektronik) kommt der Bedarf nach kollokalen Interaktionszentren
hinzu, die dem regen Meinungsaustausch zwischen Wissenschaftlern,
Technikern und Unternehmern dienen und sich häufig um bereits bestehende
Hochschulinstitutionen kristallisieren:
"Wichtiger ist allerdings noch, dass die Universitäten als
organisierende Zentren der intellektuellen Gemeinschaft für die
Beschäftigung dieser Industrie gedient haben. Hier können Ingenieure und
Wissenschaftler, die in verschiedenen, miteinander konkurrierenden
Unternehmen tätig sind, Ideen austauschen, um Beratung nachsuchen und
sich wechselseitig wegen der Kreativität und Eleganz ihrer Innovationen
respektieren lernen. Darin ist der Campus der Universität mit jenen
Cafés vergleichbar, in denen italienische Handwerker sich gegenseitig
Probleme lösen helfen, gemeinsame Ideen entwickeln - oder sie einander
stehlen: ein Ort, an den Proudhon wahrscheinlich Marx geführt hätte, um
ihm zu zeigen, wo Wettbewerb und Konkurrenz einander begegnen."
(Piore/Sabel 1984: 326).
Nach Ansicht der genannten beiden Autoren war die bisherige
spektakuläre Gewichtsverlagerung der ökonomischen Produktion auf
weltweit tätige Grosskonzerne an eine ganz bestimmte, jetzt zu Ende
gehende historische Phase gebunden, in der es vorrangig darum ging, die
Bedürfnisse nach billigen, standardisierten Massengütern zu befriedigen
und zu diesem Zweck aus den Effizienzvorteilen stark formalisierter
Organisationsstrukturen und stark mechanisierter Produktionsanlagen Nutzen
zu ziehen. Heute hingegen würde sich der Schwerpunkt ökonomischer
Leistungskraft wieder stärker auf raumverdichtete
"Industriedistrikte" hin verlagern: weil nur solch verdichtete
kollokale Kooperationsstrukturen in der Lage seien, die wachsende
Nachfrage nach individuell geprägten Konsumgütern und singulären
Produktionsanlagen zu befriedigen, und nicht zuletzt: um durch flexible
Innovativität immer wieder neue Wachstumsnischen zu erschliessen
(Piore/Sabel 1984: passim).
V
Abschliessend sei noch auf die tiefgreifende methodologische
Problematik hingewiesen, die sich aus der mangelhaften Fixiertheit und
Objektiviertheit der systemischen Strukturmerkmale, Wertorientierungen,
Zielsetzungen usw. ergibt. Denn weil kollokale Systeme einen so geringen
"Eigenbedarf" an Explizierung, und an übersubjektiver Fixierung
ihrer Systemparameter besitzen, werden die normalerweise auch keine
präzisen Selbstbeschreibungen von sich anfertigen, die für alle
Teilnehmer unabhängig von deren subjektiver Perspektive verbindlich
wären.
Dementsprechend können sich auch die Beobachter von Kollokalsystemen
(z.B. Soziologen) nicht auf bereits vorgefertigte, übersubjektiv gültige
Systembeschreibungen abstützen, wie sie beispielsweise bei
Verwandtschaftsordnungen oder formalen Organisationen üblich sind.
Stattdessen treffen solch externe Beobachter auf den Zustand, dass
- jeder Teilnehmer seine eigene perspektivische "Sicht
der Dinge" aufrechterhält und sie selber deshalb nichts anderes
tun können, als (z.B. im Verlaufe teilnehmender Beobachtung) zu
dieser Mannigfaltigkeit koexistierender Wahrnehmungs- und
Interpretationsweisen eine eigene hinzuzufügen;
- die Teilnehmer den Systemzustand selber als fluide und zeitlich
wandelbar beschreiben und die Beobachter deshalb genötigt sind, ihre
Wahrnehmungen (und die daraus entzogenen induktiven Generalisierungen)
entsprechend zu relativieren.
Während der Erforscher hoch formalisierter Organisationen oder
Institutionen oft grosse Mühe hat, sich der Suggestivität der vom System
autonom erzeugten (oft idealisierten und für die vorteilhafte
Aussendarstellung hergerichteten) Selbstbeschreibungen zu entziehen, so
trifft der an kollokalen Gruppen interessierte Sozialwissenschaftler oft
auf das entgegengesetzte Problem, dass die Akteure sich weigern, seinem
Streben nach theoretischer Konzeptualisierung durch eine begriffliche
Analyse ihres Sozialsystems entgegenzukommen:
"Die Kommune wird im allgemeinen nicht als ein Gebilde gesehen,
das eine über die interpersonellen Beziehungen, die in ihm enthalten
sind, hinausgehende soziale Realität besitzt. Diese Beziehungen aber
wandeln sich mit der Ankunft jeder zusätzlichen Person, inkl. des
soziologischen Beobachters. Die Kommune beschreiben heisst deshalb:
unweigerlich: die Kommune reifizieren und verfälschen: besteht" sie
doch aus nichts anderem als aus einer Summe erlebter
Realitätserfahrungen, die man nur erzählend nachvollziehen, niemals aber
analysieren kann." (Abrams/McCulloch 1976: 10).
So sieht sich der Beobachter kollokaler Sozialsysteme in einer dem
Naturwissenschaftler vergleichbaren Lage: dass er nämlich seine eigenen
analytischen Konzepte und Theorien an das Objekt herantragen muss, weil
dieses sich selber nicht in derartigen Termini thematisiert und auch nicht
in der Lage (bzw. nicht willens) ist, eine ihm angebotene
Fremdbeschreibung nachträglich als Selbstbeschreibung zu assimilieren.
Anders als beim Naturforscher besteht sein "Rohmaterial"
allerdings nicht aus faktischen Zuständen und Ereignissen, die sich dem
objektivierenden Zugriff relativ zwanglos fügen, sondern aus dem in den
interpersonellen Kommunikationsprozessen erscheinenden
"intersubjektiven Sinn", der in den übersubjektiven Begriffen
und Theorien der Sozialwissenschaft eine immer nur unzulängliche
Abbildung findet.
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