UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 


 

FÜNFTES KAPITEL:

PRINZIPIEN DER STRUKTURBILDUNG UND SOZIALEN GESAMTORDNUNG KOLLOKALER SYSTEME



5.5. Strategien der Verhaltensdisziplinierung

I

Die beiden bisher diskutierten Mechanismen der "Soziofugalität" und der "Desensibilisierung" haben miteinander gemeinsam, dass die kollokalen Partner relativ stark davon entlastet werden, ihre Verhaltensemissionen unter dem Gesichtspunkt, wie sie auf andere (kausal oder symbolisch) einwirken, zu spezifizieren und zu restringieren.

Zwar beruhen auch soziofugale Ordnungen in dem Masse auf "Disziplin", als die Teilnehmer es bewusst (und vielleicht unter Hintanstellung dringender eigener Bedürfnisse) vermeiden, sich Anderen allzu stark anzunähern oder gar deren physische Box-Strukturen (geschlossene Türen u.a.) zu penetrieren, mit denen diese sich vor Fremdwahrnehmungen schützen.

Aber der Disziplinbedarf ist insgesamt doch relativ gering, weil es sich bei solchen Vermeidungen um generalisierte Unterlassungen handelt, die im Unterschied zu Aktivhandlungen keiner spezifischen Motivation oder Qualifikation bedürfen, sondern von den verschiedensten Individuen in verschiedensten Situationen auf dieselbe Weise "ausgeführt" werden können (vgl. Geser 1986b).

Die unübertreffliche Ubiquität und Funktionssicherheit soziofugaler Ordnungen beruht eben darauf, dass es zu ihrer Konstitution hinreichend ist, permanent derartige "Nichtereignisse" (Nichtkollisionen, Nichtperzeptionen, Nichtverletzungen u.a.) zu "produzieren": wobei man durchaus im Ungewissen bleiben kann, ob und inwiefern es intentionale Unterlassungshandlungen oder objektive Situationsbedingungen sind, die zu derartigen Nichtereignissen führen.

Im Vergleich dazu sind "Toleranzordnungen", die auf Insensibilität gegenüber wahrnehmbarem Fremdverhalten beruhen, auf ungleich höhere Disziplinierungsleistungen angewiesen: z.B. wenn beträchtliche Selbstbeherrschung notwendig ist, um den penetranten Körpergeruch seines Sitznachbars auszuhalten oder beleidigende Unterstellungen mit stoischem Gleichmut zu "überhören".

Obwohl derartige "Nicht-Reaktionen" wohl viel häufiger als soziofugale "Nicht-Penetrationen" den Charakter intentionaler Handlungen besitzen, so tragen sie doch ebenfalls den Charakter unspezifischer Unterlassungen, die keine besonderen Fähigkeiten oder Kenntnisse erfordern, einer Vielzahl verschiedenster Motive entspringen und auch auf ganz andere Weise als durch Handlungen zustandekommen können.

Wer eine Beleidigung "überhört", mag dies - wie die gebräuchliche Zweideutigkeit dieses Verbums bereits zum Ausdruck bringt - genauso aus blosser Unaufmerksamkeit tun, und wer sich blind, taub, alkoholisiert oder sonstwie anaesthesiert in Gesellschaft begibt oder sich dort einer absorbierenden Nebentätigkeit hingibt, kann dort als "Interdependenzunterbrecher" für konfliktträchtige kollokale Interaktionskreisläufe wirksam sein, ohne sich auf anspruchsvolle Charaktereigenschaften wie "Toleranz" oder "höfliche Zurückhaltung" abstützen zu müssen.

Für die nachfolgend diskutierten Strategien der Verhaltensdisziplinierung ist nun im Gegensatz dazu charakteristisch, dass die kollokalen Partner

  1. einander permanent ihre Aufmerksamkeit zuwenden und eine generalisierte Ansprechbarkeit und Reagibilität zueinander aufrechterhalten;
  2. wegen dieses Verzichts auf Ausweichstrategien sich selber unter Druck setzen, praktisch alle ihre spezifischen Verhaltensäusserungen im Hinblick darauf zu steuern, wie sie von den Interaktionspartnern wahrgenommen und interpretiert werden, und welche Wirkung sie auf das kollokale Interaktionssystem als Ganzes haben.
Im Vergleich zu den übrigen beiden Systemformen sind kollokale "Disziplinordnungen"
  1. weniger ubiquitär: weil anspruchsvolle Voraussetzungen motivationaler und qualifikatorischer Art gefordert sind, die nicht überall erwartet werden können;
  2. weniger stabil und zuverlässig: weil Individuen sowohl wegen ihrer physischen und psychischen Kontingenzen wie auch infolge ihrer übrigen sozialen Engagements nicht permanent willens und/oder in der Lage sind, die erforderlichen Leistungen an Aufmerksamkeit, taktischem Geschick, konformer Adaptation etc. zu erbringen.
Allerdings ist auch die Sphäre der Disziplinierungsstrategien in eine Mehrzahl konzentrisch ineinander gelagerter Kreise von Regulationsmechanismen gegliedert, die sich hinsichtlich des Grades der erforderlichen Handlungsspezifikation und kommunikativen Akkordierung stark voneinander unterscheiden.

An der äusseren Peripherie befinden sich jene der Soziofugalität und Desensibilisierung noch stark ähnelnden (und entsprechend relativ voraussetzungslos verfügbaren)Formen der Disziplinierung, die der Vermeidung störender Verhaltensemissionen (also wiederum der Erzeugung von "Unterlassungen", bzw. "Nichtereignissen") dienen: z.B. wenn eng zusammengepferchte Theaterzuschauer unbeweglich sitzenbleiben und mit Niesen, Schneuzen oder Husten an sich halten; oder wenn das Organisationsprinzip der "Warteschlange" es erfordert, dass die Schalterkunden in der Reihenfolge ihres Eintreffens stehen bleiben.

Derartige "generalisierte Passivierungen" haben den Vorteil, von Individuen unterschiedlichster Merkmale unter einem relativ breiten Spektrum situativer Bedingungen praktizierbar sowie bei Verstössen relativ leicht sanktionierbar zu sein: weil es nur darum geht, ein missliebiges Aktivverhalten zu inhibieren anstatt ein erwünschtes Verhalten zu evozieren. Sie bleiben deshalb häufig die einzige Alternative, wenn - etwa auf öffentlichen Plätzen - Individuen sehr heterogener und unvorhersehbar wechselnder Art in besonders dichte und länger dauernde kollokale Verhältnisse treten. Ihr schwerwiegender Nachteil besteht aber darin, dass mit der pauschalen Inhibierung allen Aktivverhaltens auch alle Möglichkeiten produktiven Handelns und kooperativen Interagierens zum Erliegen kommen: so dass z.B. ein ausschliesslich durch gemeinsames Schweigen und Ruhigsitzen zusammengehaltenes Kinopublikum bei plötzlichem Brandfall kaum in der Lage ist, die zur geordneten Räumung des Saales nötigen Minimalkommunikationen stattfinden zu lassen, und die horizontalen Hilfe- und Solidaritätsbeziehungen in Grundschulklassen schwach entwickelt bleiben, wenn man den Schülern jegliche Art von "Tuscheln", "Blickewechseln" u.a. verbietet.

Die zweite, aber bereits voraussetzungsreichere und unzuverlässigere Alternative besteht darin, bei den Anwesenden ein - meist relativ simples - Aktivverhalten zu evozieren, es aber gleichzeitig in jene Formen stereotyper Nivellierung und routinehaft-rhythmischer Wiederholung zu kanalisieren, wie sie z.B. für den militärischen Taktschritt, das Klatschen von Beifall oder für die skandierte Sprechchöre aufgebrachter Demonstranten charakteristisch sind.

Damit gelingt es offensichtlich, alle Beteiligten in einen Zustand aktiven Handelns zu versetzen, ohne den Zusammenhalt des kollokalen Feldes zu gefährden oder Symptome interner Desorganisation und interindividueller Erwartungsunsicherheit in Kauf nehmen zu müssen.

Die notwendige Voraussetzung dafür ist aber

  1. dass jeder genau dasselbe tut: so dass jeder in seiner unmittelbaren Nähe einige andere Personen als Orientierungsmodelle verfügbar hat, die ihm das erforderliche Verhalten präzise vordemonstrieren (= soziale Nivellierung);
  2. dass jeder hintereinander oftmals dasselbe tut: so dass er die Möglichkeit hat, seine bisherigen Handlungen als Modell für zukünftige zu verwenden und dadurch selbstreferentiell einen bestimmten Verhaltensmodus über die Zeit hinweg zu stabilisieren (= individuelle Habitualisierung);
  3. dass unabhängig von der Spezifität der Situation und Zielsetzungen nur auf jenes begrenzte Inventar von Verhaltensweisen zugegriffen wird, die dank ihrer Simplizität oder vielseitigen übrigen Einübung von allen Beteiligten ohne besondere Qualifikationen auf hinreichend gleichartige Weise ausgeführt werden können (= interpersonelle Standardisierung).
Nur bei hinreichender Selektivität und/oder Vorsozialisierung der Teilnehmerschaft wird es dann möglich, durch geeignete autoritative Signalisierungen
  • im Zeitablauf diskontinuierlich von einem zu einem andern Verhaltensschema überzuwechseln (z.B. beim militärischen Drill);
  • das aktualisierte Schema zu einem komplexen Programm sequentieller Teilschritte zu erweitern und bei diesem Prozess verschiedenen Teilnehmergruppen unterschiedliche Rollen zuzuteilen (z.B. in Chören, Orchestern, Ballett- oder Artistengruppen).
Als ungleich viel interessanter erweisen sich nun aber drittens jene viel voraussetzungs-, variations- und risikoreicheren Formen der Disziplinierung, die mit hochdifferenzierten Prozessen kollokaler Kommunikation, Koordination und Kooperation vereinbar sind, und die deshalb so gebaut sein müssen, dass sie entweder
  1. in die Konkretisierung des spezifischen Verhaltens konstitutiv eingehen (z.B. indem man auf zivilisierte Weise Krebse isst, seine Nase putzt oder seinen Gefühlsregungen Ausdruck gibt),

  2. oder
  3. neben dem übrigen Verhalten zum Zwecke der Spannungsminderung, Konfliktvermeidung u.a. herlaufen: z.B. wenn man in dem Blick, der den verbalen Tadel begleitet, die Bereitschaft zum Verzeihen und Vergessen ablesen kann, oder wenn der Zahnarzt seinen rein instrumental begründeten schmerzhaften Eingriff mit begütigend-tröstendem Zureden flankiert,

  4. oder schliesslich
  5. als selbständige Handlungen in den Interaktionsablauf eingefügt werden können: z.B. als Akte der Entschuldigung, mit denen man schädliche interpersonelle Folgen eines Missgeschicks repariert, oder als scherzhafte Zwischenbemerkungen, mit denen man einen Zustand akkumulierter Spannung und Unsicherheit beendet (vgl. z.B. Goffman 1974: 138ff.)
In dieser innersten Sphäre, wo die mit dem konkreten Interagieren und Kommunizieren am engsten verflochtenen, teilweise gar unauflöslich mit ihm fusionierten Mechanismen der Disziplinierung angesiedelt sind, lassen sich wiederum zwei konzentrische Teilsphären unterscheiden:

Erstens gibt es die noch relativ gut standardisierbare, teilweise gar hoch ritualisierte Form des regelkonformen Verhaltens, das erwartbar macht, wer sich bei welcher Gelegenheit wie verhält: Wenn zwei Autos gleichzeitig die Kreuzung erreichen, dann darf das von rechts kommende mit Vortritt rechnen; wenn ich Geschäftsfreunde zu einer Wochenendparty einlade, werden sie in gediegener Festtagskleidung erscheinen; wenn ein Teilnehmer in der Diskussionsrunde von einem Hustenanfall überwältigt wird, wird er aus Rücksicht auf die andern temporär den Raum verlassen etc. etc.

Derartige Konditionalisierungen haben die doppelte Funktion, einerseits gewisse soziale Verhältnisse über Wandlungen in der Umweltsituation hinweg invariant zu halten (z.B. wenn der Hustende den Raum verlässt, um den weiteren ungestörten Fortgang der Kino- oder Opernvorstellung zu ermöglichen), und andererseits besser voraussagen zu können, wie soziale Verhältnisse mit sich wandelnden Situationsbedingungen kovariieren (z.B. wenn man damit rechnen kann, im "Esplanade" nur festlich angezogene und im "Weissen Kreuz" nur nachlässig gekleidete Restaurantgäste zu finden).

Zweitens gibt es den schwer überblickbaren Residualbereich jener durch keine spezifischen Normen konditionalisierten verhaltensmässigen Disziplinierungsleistungen, zu deren Ausübung diffus umschreibbare, subtile Charaktereigenschaften wie etwa "Menschenkenntnis", "Vermittlungsfähigkeit" oder "Fingerspitzengefühl" für unabdingbar gehalten werden.

Ihr Einsatzfeld erstreckt sich insbesondere auf jene singulären (oder sich jedenfalls nie identisch wiederholenden) interaktiven Konstellationen, die gleichzeitig bedeutsam genug sind, um - wie z.B. im Falle von Verhandlungsprozessen, oder Vorstellungsgesprächen - die Beteiligten zu einem überdurchschnittlichen Einsatz an Aufmerksamkeit, Vorsicht, Rücksicht, strategischem Geschick und Einfühlung zu motivieren.

Zwischen diesen beiden Sphären liegt eine weite Mischzone semi-standardisierter Verhaltensregulationen, die relativ generalisierte, aber dennoch gut sozialisierbare Qualifikationen wie z.B. "Höflichkeit", "Taktgefühl" oder "Zuvorkommenheit" erfordern und vor allem im Bereich korrektiv-restitutiver Disziplinhandlungen (Entschuldigungen, Verzeihungen, Wiedergutmachungen, Beschwichtigungen etc. ) eine grosse Bedeutung entfalten.
 
 

II

Die immense funktionale Bedeutung von Verhaltensdisziplinierungen ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass Strategien der Desensibilisierung weitgehend ungeeignet sind, wenn es gilt

  • zahlreiche Menschen auf sehr engen Räumen zu konzentrieren und solche Verdichtungen ohne Symptome psychischer Frustration und/oder sozialer Desorganisation über längere Zeit aufrechtzuerhalten (1),
  • im kollokalen Feld nicht bloss Verhältnisse ungestörter Koexistenz und negativer Abgrenzung, sondern Beziehungen aufmerksamer interpersoneller Zuwendung und positiver Kooperation zu realisieren (2).
ad 1:
Die für Desensibilisierung unabdingbare Voraussetzung, die Rezeption irritierender Reize selektiv steuern und intentional herabmindern zu können, ist nur für den Gesichtssinn hinreichend erfüllt. So leicht man sich - vor allem wenn das Gegenüber nicht zu nahe ist und deshalb nur einen Teil des Gesichtsfeldes ausfüllt - durch blosse Blickabwendung von visuellen Immissionen "schützen" kann, so aussichtslos erscheint es, sich auf analoge Weise auch gegen akustische, olfaktorische oder gar taktile und schmerzerregende Wahrnehmungen zu anaesthesieren. Da menschliche Ohren, Nasen und Hautflächen im Gegensatz zu den Augen über keinerlei Fähigkeiten zu aktivem Verhalten verfügen, bleibt dem Rezipienten höchstens die Möglichkeit, die unvermeidlichen sensorischen Reize bei ihrer intraneuralen Transmission ins Bewusstseinszentrum zu inhibieren, d.h. ihnen - z.B. durch umso intensivere Hinwendung zu anderen Stimuli - möglichst wenig Aufmerksamkeit und Bedeutung beizumessen. Mit wachsender Intensität der Immissionen nehmen auch diese Spielräume intentionaler Erlebensmanipulation ab, und vor allem intensive Schmerzwahrnehmungen pflegen sich starr und alternativenlos in korrelative Erlebensinhalte zu übersetzen und die Zuwendung voller Aufmerksamkeit zu erzwingen (vgl. Waldenfels 1980: 106ff.)

Je näher nun Menschen zusammenrücken, desto stärker pflegt sich der Schwerpunkt ihrer interpersonellen Wahrnehmung vom Gesichtssinn auf jene für den näheren Umkreis zuständigen Sinnesorgane zu verschieben, die weniger "rezeptive Autonomie" zulassen. Und bei dichtem Gedränge pflegt jenes vielbeschriebene Unbehagen der Beengtheit ("crowding") zu entstehen, das der Furcht entspringt. Fremdimmissionen taktiler, schmerzhafter oder gar physisch-verletzender Art hilflos aufgeliefert zu sein: also jenen Reizen, die ausschliesslich auf Null-Distanz wirken und ihrem Rezipienten die allergeringsten Spielräume intentionaler Erlebensvariation gewähren (vgl. Middlebrook 1980:470)

Über derartige physiologisch fixierte Basisparameter hinaus werden die interpersonellen Sensibilitäten unter folgenden Bedingungen noch beträchtlich erhöht:

  1. wenn die einzelnen Teilnehmer Tätigkeiten verrichten, die aus sachlichen Gründen eine Absenz bestimmter Immissionen (z.B. einen niedrigen Lärmpegel oder einen ungehinderten Bewegungsspielraum für die Gliedmassen) erfordern (vgl. z.B. Euler 1977);
  2. wenn die Teilnehmer auf Grund ihrer Normen, Ziele, Wertvorstellungen oder Geschmacksrichtungen spezifische sensorische Empfindlichkeiten aufrechterhalten: z.B. wenn sie die leiseste Andeutung von verrauchter Luft abscheulich finden oder sich am Strand über Nacktbadende - über die sich so leicht hinwegschauen liesse - entrüsten;
  3. wenn Individuen auf Grund ihrer statusmässig oder sonstwie abgestützten Ansprüche auf einer immissionsfreien Umwelt (z.B. auf einer "ruhigen Wohnlage" oder auf Flugzeugsitze mit genügend seitlichem Bewegungsspielraum) insistieren und die Erwartung, dass sie sich selbst durch Aufbietung von Toleranz und Duldsamkeit anpassen müssten, als inakzeptable Zumutung empfinden.
Manche Forschungsergebnisse legen beispielsweise den Schluss nahe, dass Männer in solchen Hinsichten mehr Ansprüche als Frauen stellen. So pflegen sie an Badestränden untereinander grössere Liegedistanzen aufrechtzuerhalten (Edny/Jordan-Edny) 1974) und auf beengtes Zusammensein in kleinen Räumen mit mehr Unbehagen und Stresssymptomen zu reagieren (Freedman 1975).

Ebenfalls scheinen mit steigendem sozialen Statusniveau regelmässig höhere Intoleranzen gegenüber Einengungen des Bewegungsraums und dessen Penetration durch andere Personen einherzugehen, wobei der symbolische Prestigewert schallisolierender Doppeltüren oder abgeschirmter Einzelbettzimmer zusätzlich dazu beitragen kann, derartige Differenzierungen zu intensivieren (vgl. Goffman 1974: 54ff.).

ad 2:
Desensibilisierungsmechanismen sind mit allen anspruchsvolleren Ausformungen interpersoneller Zuwendung, Kommunikation und Kooperation grundsätzlich unvereinbar, weil sensorische Unempfindlichkeiten immer einen generalisierten Charakter haben und sich deshalb gleichermassen auf erwünschte Austausch- oder Kooperationsbeziehungen wie auf unerwünschte Irritationen erstrecken.

Wer immer bestrebt ist, durch Abwendung der Blickrichtung, Vertiefung in automanipulative Tätigkeiten, alkoholische Anaesthesierung oder irgendeine andere Weise aus dem interpersonellen Wahrnehmungsfeld zu "emigrieren"

  • immunisiert sich im objektiven Sinne auch gegenüber allen konstruktiveren sozialen Stimuli, wie sie für die Erweiterung von Personenkenntnissen, für die Exploration von Konsenschancen, die Generierung von Sympathiegefühlen, die Ingangsetzung koordinierter Handlungen und in vielen anderen "prosozialen" Hinsichten unentbehrlich sind;
  • gibt vermittelst dieser selben Handlungen anderen demonstrativ zu erkennen, dass er indisponiert und/oder unwillig ist, irgendwelche Verhaltens- und Sprechäusserungen anderer zu rezipieren und selber darauf zu reagieren.
Und umgekehrt gilt: wo immer kollokale Personen einander aus irgendwelchen Motiven Aufmerksamkeit zuwenden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich damit auch gegenüber beliebigen, unvorhersehbaren Störungsreizen (von unkontrollierten Körpergeräuschen wie Räuspern und Rülpsen bis zu voll beabsichtigten Invektiven) sensibilisiert zu halten.

Vor allem wenn kollokale Interaktionspartner einander als eifrige Konkurrenten, argwöhnische Verhandlungspartner, missgünstige Rivalen oder gar als bedrohliche Feinde gegenüberstehen, sehen sie sich in einer schmerzhaften, unaufhebbaren Situation des "double bind" gefangen: indem sie einerseits dauernd hoch motiviert sind, einander intensiv im Auge zu behalten, andererseits aber mit Sicherheit antizipieren, dabei vorwiegend frustrierende, enervierende oder gar angsterregende Wahrnehmungen zu machen.

Je intensiver und kontinuierlicher kollokale Partner einander zum Objekt der Wahrnehmung und Beurteilung machen (und dies auch voneinander wissen), desto ausschliesslicher sind sie auf Strategien der Verhaltensdisziplinierung verwiesen, um ihre wechselseitigen Beziehungen sowie die Ordnung des gesamten Sozialsystems zu regulieren, weil jeder Beteiligte

  1. wegen seiner unspezifischen Offenheit für Fremdstimuli besonders verletzlich und deshalb darauf angewiesen ist, dass irritierende Einwirkungen Anderer unterbleiben;
  2. sorgfältig darauf achten muss, nur die von ihm beabsichtigten Äusserungen zu emittieren und keine ihm selbst ungelegenen Eindrücke, Attributionen oder Reaktionen zu provozieren.
Die Tatsache, dass individuelle Aufmerksamkeit ein knappes (Nullsummen-) Gut ist, trägt nun aber in zweierlei Hinsicht dazu bei, diese Problematik zu moderieren:
  1. In dem Masse, wie die Teilnehmer selbstreferentiell mit der bewussten Planung und Kontrolle ihres eigenen Verhaltens beschäftigt sind, haben sie weniger Valenzen frei, um das Verhalten Anderer zu registrieren. Möglicherweise kann die in einem kollokalen System herrschende interpersonelle Sensibilisierung ein gewisses begrenztes Mass nie überschreiten: weil die Mehrinvestitionen an Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, die durch ihr Anwachsen nötig werden, eine Bremswirkung (im Sinne eines "negativen Feedbacks") erzeugen.
  2. In dem Masse, wie die Zahl der Anwesenden wächst, muss jeder sein begrenztes Wahrnehmungspotential selektiv auf wenige Andere (bzw. auf wenige ihrer Verhaltensweisen) fokussieren: so dass sich jeder nur noch von einer geringen Zahl Anderer beobachtet fühlt.
So ist mit dem Eintauchen in eine grössere gesellige Gruppe oft eine wohltuende Linderung des Disziplinierungsdrucks verbunden. Zum Beispiel darf ich mich ungestraft den ganzen Abend über auch schweigsam in mich gekehrt verhalten: weil keiner meiner zahlreichen potentiellen Gesprächspartner aus der Tatsache, dass ich gerade mit ihm kein Wort gewechselt habe, negative Schlüsse auf meine generelle Stimmung (oder: gar meine introvertierte Charakterstruktur) ziehen kann.

Beide Kräfte (die den Bedarf nach Verhaltensdisziplinierungen vermindern, bzw. nach oben hin begrenzen) sind umso wirksamer, je mehr alle Teilnehmer gleichermassen als Agierende und Reagierende, als Wahrnehmende und Wahrgenommene am kollokalen Interaktionsfeld partizipieren.

Fast unlösbar hingegen sind die Probleme oft im entgegengesetzten Extremfall, wo die meisten Anwesenden als Zuschauer oder Zuhörer ihre Aufmerksamkeit radial einer Einzelperson (z.B. einem Vortragsredner) oder einer kleinen Gruppe (z.B. einem Theaterensemble) zuwenden, die die Rolle des aktiven Handelns bei sich monopolisiert.

Denn in diesem Fall

  • können die rein rezeptiven Publikumsmitglieder ihre gesamte Aufmerksamkeit ungehindert auf den Fokalakteur ausrichten, weil sie durch keinerlei selbstreferentielle Anstrengungen (der eigenen Verhaltenskontrolle) beansprucht werden;
  • muss der Fokalakteur unter der Erschwernis operieren, dass die wesentlichen Merkmale des gesamten Sozialsystems wie auch die Qualität aller darin vorkommenden (radial-rezeptiven) Kommunikationsbeziehungen völlig davon abhängen, ob und wie er sein Verhalten diszipliniert.
"Als Lärmquelle betrachtet, ist das Podium selbst ein vielgestaltiges Ding. Eine dieser Quellen verdanken wir der Tatsache, dass Vortragsredner unweigerlich einen Körper besitzen, und dass von menschlichen Körpern sehr leicht visuelle oder akustische Effekte ausgehen können, die nicht mit dem Fluss der Rede in Zusammenhang stehen und die Aufmerksamkeit ablenken können. Ein Sprecher muss atmen, ein wenig zappeln, sich gelegentlich kratzen und verspürt manchmal das Bedürfnis, zu husten, sein Haar zurückzustreichen, ihre Bluse zu straffen, ein Glas Wasser zu trinken, ihre Perlen zu befingern, seine Brille zu putzen, zu rülpsen, von einem Fuss auf den andern zu wechseln, auf charakteristische Weise das Jackett auf- und zuzuknöpfen, die Manuskriptseiten zu wenden usw."....(Goffman 1981: 183).

Generell ist jede Art von Zentralisierung sozialer Verhältnisse unter kollokalen Bedingungen mit immens anwachsenden Enttäuschungsrisiken und Destabilisierungsgefahren verbunden: weil sich das Sozialsystem als Ganzes (wie auch jeder einzelne Teilnehmer) gegenüber der Existenz und dem Verhalten weniger fokaler Akteurpersonen empfindlich macht, deren geringste Indispositionen (schlechte Laune, Unkonzentriertheit, Vergesslichkeit, körperliche Unkontrolliertheit) breiteste Störwirkungen im gesamten kollokalen Feld nach sich ziehen: Irritationen disfunktionalster Art, weil (im Gegensatz zu egalitäreren Verhältnissen horizontaler Interdependenz) keine konkurrierenden Aufmerksamkeitszentren verfügbar sind, um die Auffälligkeit "devianten Bühnenverhaltens" zu mindern, und keine alternativen Quellen von Verhaltensemissionen, um ihm korrigierend entgegenzusteuern.

In translokalen Sozialverhältnissen mag es leicht gelingen, derartige Kontingenzen allein durch eine hinreichende kognitive Abschirmung der zentralen Herrschaftspersonen und durch strenge Selektivität der an die Öffentlichkeit abgegebenen Informationen unter Kontrolle zu bringen..

Unter kollokalen Bedingungen hingegen müssen Führerpersonen jeden Zuwachs an Prominenz und Einfluss teuer damit bezahlen, dass sie

  • noch intensiver und ausschliesslicher im Rampenlicht des Publikums stehen,
  • noch mehr Gefahr laufen, selbst durch geringste Unkontrolliertheiten (z.B. unbedachte verbale Äusserungen, nicht hinreichend kaschierte Verachtung für oppositionelle Redner etc.) schwerwiegendste unbeabsichtigte Wirkungen auszulösen und an Reputation einzubüssen.
Völlig inegalitäre Verteilungsmuster von Rollen und Einflusschancen sind meist nur praktikabel, wenn sie (wie z.B. bei der unvermeidlichen Sprecher-Zuhörer-Asymmetrie innerhalb jedes Gesprächablaufs (vgl. 2.2.5) kurzfristig und beliebig modifizierbar bleiben). Je länger sie hingegen andauern, desto mehr wird sich der Fokalakteur zu einem fast unmenschlichen Mass an Selbstdisziplin und/oder das Publikum zu einer immer unzumutbareren Leistung der Toleranz gezwungen sehen.

So werden die in Kollokalgruppen endogen erwachsenden Führerpersonen normalerweise das Bedürfnis haben, sich mit einer nur unvollständig ausgeprägten, durch mancherlei egalisierende Einflüsse moderierten Vorrangstellung zu begnügen; und exogene, von alokalen Institutionen aufoktroyierte Führer werden im kollokalen Feld regelmässig Schwierigkeiten haben, ihren formalen Status uneingeschränkt zur Geltung zu bringen.

Ortspolizisten und Dorfpfarrer unterliegen ebenso wie Offiziere innerhalb ihrer Truppe oder Professoren im Doktorandenkolloquium gewissen Tendenzen "informeller Statuserosion", die oft nur durch eine Verkürzung ihrer Verweildauer in tragbaren Grenzen gehalten werden kann.

Zwecks Geltungssicherung ihrer formalen Normstrukturen sehen sich deshalb viele Institutionen genötigt, ihre Exponenten systematisch zwischen verschiedenen Kollokalkontexten rotieren zu lassen: eine Massnahme, welche nicht nur die Institution von Sanktionsanforderungen, sondern auch ihre Repräsentanten von mühevoller Selbstkontrolle entlastet.
 
 

III

Dauerhafte, hoch institutionalisierte kollokale Interaktionsfelder (wie z.B. Klöster, Städte oder Königshöfe) haben sich in der Geschichte immer wieder als Brutstätten neuartiger Verhaltensdisziplinierungen erwiesen, die eine unerlässliche Basis für die Verkehrsformen der heutigen urbanen Gesellschaft bilden und den Persönlichkeitshabitus des "zivilisierten Individuums" entscheidend mitkonstituieren.

Wie Norbert Elias in seiner Analyse der "höfischen Gesellschaft" deutlich macht, sind höchste gesellschaftliche Eliten besonders dazu qualifiziert (bzw. motiviert), auf Zustände kollokaler Verdichtung mit innovativen Verhaltensnormierungen, die sich auf Grund ihres Modellcharakters nachher universell ausbreiten, zu reagieren.

Gesellschaftliche Oberschichten lassen sich normalerweise als soziale Kollektive mit ausgeprägt soziofugalen Eigenschaften charakterisieren. Sie bestehen aus Einzelpersonen oder Familien, die auf der Basis von Landbesitz, Kapitaleigentum, politischer Führungsgewalt oder irgendeines andern institutionellen Autoritätsstatus selbständige Zentren von Macht, Reichtum oder Prestige darstellen, mit Hilfe ihrer Ressourcen relativ umfassende Spielräume autonomen Handelns sicherstellen und keine unkontrollierten Fremdpenetrationen solcher Autonomiesphären tolerieren.

Besonders drastisch trifft dies für feudale Landeliten agrarischer Gesellschaften (z.B. des europäischen Mittelalters) zu, deren Angehörige in geographisch weit voneinander entfernten patrimonialen Grosshaushalten residierten und dort eine partikularistisch orientierte Lebensform ausbildeten, wie sie im Individualismus der Ritterkultur und in der rivalisierenden Streitlust der Adelsgeschlechter zum Ausdruck kam.

Umso faszinierender ist es, jenen tiefgreifenden sozialen Transformationsprozess zu beobachten, der sich aus der kollokalen Konzentration der Adelselite an den Höfen absolutistischer Herrscher (insbesondere in Frankreich) ergab: jenem von Elias mit unübertrefflicher Einfühlsamkeit und analytischer Präzision nachgezeichneten Vorgang, dem wir die gemeinhin als "Höflichkeit" bezeichneten Formen der Verhaltensdisziplinierung (charakterisiert durch gesteigerte Aggressionshemmungen und systematisierte interpersonelle "Rücksichtnahmen" bei allen alltäglichen Verrichtungen) zu verdanken haben.

Beim Überwechseln zur verdichteten höfischen Lebensweise (bedingt durch monarchistische Machtkonzentration und den damit einhergehenden Verlust eigenständiger feudaler Existenzbasen) wurde es für die Adligen notwendig, ihren Status, den sie vorher auf stabile Grundlagen des Besitzes und der Familienabstammung gründen konnten, nun im Rahmen des verdichteten Interaktionsfeldes bei Hofe zu verteidigen oder zu erhöhen: durch möglichst grosses Geschick, im Konkurrenzkampf mit Rivalen die Gunst des Königs oder dessen engster Vertrauten (Minister, Maitressen u.a.) zu gewinnen und sich trotz der unvermeidlichen dauernden Lebensgemeinschaft mit kompetitiven Statusgenossen einen eigenen Autonomiespielraum und Einflussbereich zu wahren.

Soziofugale Regulationsmechanismen waren unter diesen Bedingungen kaum verfügbar, weil die Unmöglichkeit, seine Statusposition irgendwo anders als über die Beziehung zum absolutistischen Monarchen absichern zu können, als ungeheurer soziopetaler Druck wirksam war, der für die erzwungene Dauerkonzentration praktisch der gesamten Elite in der Königsresidenz (z.B. in Versailles mit seinen zeitweise über 10 000 Bewohnern) sorgte:

"Die höfische Gesellschaft des Ancien Regime liess ihren Mitgliedern jedoch überhaupt keine Ausweichmöglichkeiten. Denn sie hatte an Prestige und als Prestigegeberin für den einzelnen Zugehörigen nicht ihresgleichen. Es gab für den höfischen Menschen des Ancien Regime nicht die Möglichkeit, den Ort zu wechseln, Paris oder Versailles zu verlassen und dennoch, durch den Übergang in eine andere annähernd gleichwertige Gesellschaft sein Leben als Gleichrangiger ohne Prestigeverlust für das eigene Bewusstsein gleich wert- und sinnvoll fortzuführen." (Elias 1983: 151/152).
 
 

Andererseits war es auch völlig ausgeschlossen, die soziale Organisation bei Hofe vorrangig (oder auch nur sekundär) auf Mechanismen interpersoneller Desensibilisierung abzustützen, weil die Adelsmitglieder

  1. auf Grund ihrer herausragenden gesellschaftlichen Statusposition (und wohl auch: wegen ihrer jahrhundertelangen Vorsozialisierung im soziofugalen feudalen Milieu) nach wie vor hohe Empfindlichkeiten gegenüber persönlichen Irritationen und Fremdinfiltrationen aufrechterhielten und grossen Wert darauf legten, zum Zwecke berechenbaren Agierens und Geniessens ein kontrollierbares, von störenden Reizen freigehaltenes Umfeld um sich zu haben;
  2. auf Grund ihrer gemeinsamen Rivalität um die Gunst des Königs dazu genötigt blieben, einander dauernd intensivste Aufmerksamkeit zuzuwenden: sei es, um ihre eigenen Status- und Einflusschancen argwöhnisch mit denen anderer zu vergleichen, sei es, um mittels komplizierter taktischer Interaktionsmanöver um eine Verbesserung der eigenen Position zu ringen:
"Das Leben in der höfischen Gesellschaft war kein friedliches Leben. Die Fülle der in einem Kreis dauernd und unausweichlich gebundenen Menschen war gross. Sie drückten aufeinander, kämpften um Prestigechancen, um ihre Stellung in der Rangordnung des höfischen Prestiges. Die Affären, Intrigen, Rang- und Gunststreitigkeiten brachen nicht ab. Jeder hing vom anderen ab, alle vom König. Jeder konnte jedem schaden. Wer heute hoch rangierte, sank morgen ab. Es gab keine Sekurität. Jeder musste Bündnisse mit andern Menschen, die möglichst hoch im Kurse standen, suchen, unnötige Feindschaften vermeiden, die Taktik des Kampfes mit unvermeidlichen Feinden genau durchdenken, Distanz und Näherung im Verhalten zu allen übrigen aufs genaueste dosieren." (Elias 1983: 158)

So sind höfische Gesellschaften in dem Sinne überaus labil, als die Statuspositionen, die ihre wichtigsten, dominierendsten Repräsentanten innehaben, nicht etwa auf der Basis dauerhafter Zuschreibungskriterien wie "Umfang des Landbesitzes" oder "Qualität der genealogischen Abkunft" verliehen werden, sondern auf der ungleich schwankenderen Basis taktischer Interaktionserfolge, wie sie sich im fluiden Medium des höfischen Kollokalfeldes täglich neu und anders konstituieren.

Als Medium individuellen Statuserwerbs und kollektiver Statusdistribution erfüllt das kollokale höfische Interaktionsfeld für die Adelselite dieselbe Funktion wie für das merkantile Bürgertum das translokale Austauschfeld des ökonomischen Marktes, wo finanzielle Gewinne und Verluste zu ähnlich labilen und durch dramatische Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken gekennzeichneten Positionsordnungen führen.

Viele wesentliche Unterschiede zwischen "Bürgerkultur" und "Adelskultur" werden gut verständlich, wenn man davon ausgeht, dass in kollokalen Feldern eben nicht hoch internalisierte individuelle Disziplinleistungen (vom Typus der protestantischen Ethik) den Ausschlag geben, sondern charakteristische Formen interaktioneller Verhaltensdisziplin, die weitgehend nur für den Umgang mit räumlich mitanwesenden Statusgenossen Geltung haben.

So vermag eine Analyse der "höfischen Gesellschaft" keineswegs nur über die besonderen konstituierenden Strukturmerkmale und Funktionsweisen absolutistischer Gesellschaftsformen Auskunft zu geben, sondern auch zur Aufhellung viel generellerer theoretischer Gesetzmässigkeiten beizutragen.

Denn an ihr lässt sich besser als an irgendeinem andern Illustrationsfall darstellen

  • in welch fundamentaler Weise umfassende makrosoziologische Gesellschaftsverhältnisse durch mikrosoziale Strukturen und Prozesse innerhalb ausgezeichneter kollokaler Interaktionsfelder mitkonstituiert werden können;
  • welche Mechanismen dazu beitragen, einem praktisch ausschliesslich auf Disziplinierungsstrategien verwiesenen kollokalen Sozialsystem zu Ordnung und Dauerhaftigkeit zu verhelfen.
Dieser generellere, überhistorische Geltungsgehalt der von Norbert Elias entwickelten Schlussfolgerungen zeigt sich vor allem darin, wie häufig und wie weitgehend sie mit den Ergebnissen Erving Goffmans konvergieren: obwohl diese beiden Autoren nicht nur ihre Forschungsinteressen äusserst unterschiedlichen (gleichzeitig in historischer, geographischer und schichtmässiger Hinsicht weit voneinander entfernten) sozialen Interaktionsfeldern zugewendet haben, sondern auch äusserst divergierende methodologische Ausgangspunkte und Verfahrensweisen zur Anwendung bringen.
 
 

Im folgenden soll aus diesen (natürlich völlig impliziten) Konvergenzen Nutzen gezogen werden, um die im Rahmen kollokaler Interaktion üblicherweise verwendeten Mechanismen der Verhaltensdisziplinierung genauer zu identifizieren und auf Grund ihrer je spezifischen Voraussetzungen, Funktionen und Folgeprobleme Schlüsse daraus zu ziehen, in welchem Verhältnis (der Substitutivität, Komplementarität u.a.) sie zueinander stehen.
 
 

1) Zwang zur interaktionsbezogenen Empathie und "Dezentrierung"

Für alle kollokalen Interaktionsfelder ist charakteristisch, dass die Steuerung und Disziplinierung des individuellen Verhaltens nur in sehr begrenztem Umfang auf interpersonelle Mechanismen (z.B. Tadel, Androhungen, Revanche etc.) abgestützt werden kann: vor allem dann nicht, wenn die Mitglieder längere Zeit zusammenbleiben und/oder in besonders dichtgewobenen Interdependenzverhältnissen zueinander stehen.

Dies hängt damit zusammen, dass Kontroll- und Sanktionshandlungen auf Grund

  1. des diffusen und unkontrollierbaren Charakters der (nonverbalen und verbalen) Kommunikation
  2. der "doppelten Kontingenz" allen interpersonellen Handelns und Reagierens
allzu viele unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben und ganz besonders auch das Risiko selbsteskalierender Konflikte mit sich führen; z.B. wenn der Getadelte seinerseits beleidigt und wütend reagiert, um dadurch noch schärfere Sanktionen auf sich zu ziehen.

Die "Looping Prozesse" in geschlossenen Anstalten ("totalen Institutionen") bezeugen am deutlichsten, dass kollokale Interaktionssysteme mit dem Dauerrisiko kumulativer innerer Polarisierungs- und Desorganisationsprozesse umgehen müssen: Prozesse, die mittels individueller Selbstdisziplinierung unterdrückt werden müssen, wenn sie nicht durch simples Weggehen (Soziofugalität) oder Abwendung der Aufmerksamkeit (Desensibilisierung) eliminiert werden können (vgl. Goffman 1973: 43ff.).

Hinzu kommt das weitere Risiko, dass auch anwesende Dritte leicht in eine offene Auseinandersetzung miteinbezogen werden können: weil sie sich nach Massgabe ihrer sozialen Sympathie-, Solidaritäts- oder Freundschaftsbindungen genötigt sehen, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen und dadurch eine grössere Konfliktausdehnung (sowie unvorhergesehene Kräfteverschiebungen zwischen den Parteien) zu bewirken (Nicht zuletzt aus derartigen Gründen waren absolutistische Herrscher wie z.B. Richelieu oder Louis XIV bestrebt, ihre Hofadligen vom traditionellen Brauch des Duellierens zu entwöhnen (Elias 1983: 355)).

Zur Vermeidung solcher Risiken wird es notwendig, einen grösseren Teil der verhaltenssteuernden und verhaltenskontrollierenden Mechanismen von der interpersonellen auf die intrapersonelle Ebene zu verlagern und den Interaktionspartnern eine an den Stabilitätsbedürfnissen des kollokalen Gesamtfeldes orientierte Empathie und Selbstdisziplin zuzumuten.

Generell gilt, dass aktive kollokale Interaktionsteilnehmer ungeachtet ihrer Sachanliegen oder ihrer Stimmungs- und Gefühlslage immer einen Teil ihrer gesamten (normalerweise noch durch einen "Interaktionstonus" gesteigerten) Aufmerksamkeit dafür abzweigen müssen

  1. ihre bilateralen Beziehungen zu anderen Teilnehmern
  2. das Interaktionsfeld als Ganzes
in einer Art "harmonischem Fliessgleichgewicht" zu halten, wie es als Voraussetzung für die Kontinuierung erfolgreicher Kommunikation erforderlich ist.

Ungeachtet, wie immens wichtig ich meinen eigenen Diskussionsbeitrag finde: immer muss ich mitberücksichtigen, dass andere auch zum Wort kommen wollen oder sich von meinen allzu langfädigen Ausführungen allenfalls irritiert und gelangweilt fühlen.

Und ich mag in Verhandlungsprozessen noch so massiv und unnachgiebig auf meinen Maximalforderungen bestehen: immer muss ich wenigstens in der Art und Weise, wie ich sie vortrage, mitberücksichtigen, dass "unnötige Brüskierungen" zu vermeiden sind. Und oft genug werde auch ich mich zu echten Sachkompromissen genötigt sehen, um den Interaktionsprozess überhaupt am Leben zu erhalten.

Das Faktum, dass sich das gesamte soziale Feld in meinem sinnlichen Wahrnehmungsbereich befindet und alle darin ablaufenden Vorgänge mir ohne Zeitverzug registrierbar sind, erleichtert es mir, einen Teil der Gesamtverantwortung für dieses soziale System mitzutragen und bei der Spezifikation all meiner Handlungen

  1. selbstreferentielle Gesichtspunkte (was bedeuten sie für mich, meine Interessen und Wertmassstäbe?)
  2. interreferentielle Aspekte (was bedeuten sie für diesen oder jenen individuellen Partner?)
  3. suprareferentielle Rücksichten (was bedeuten sie für den Fortgang des Diskussionsprozesses, für die Aufrechterhaltung des Teamgeists oder "Verhandlungsklimas" u.a.?)
miteinander zu vermitteln.

"Es zeigt sich, dass die Teilnehmer gar nicht in erster Linie aufgefordert sind, ihre je eigenen Standpunkte auszudrücken, sondern vielmehr dafür Sorge tragen müssen, dass die umfangreichen Ausdruckspotentiale, die die Mitglieder zur Verfügung haben, nicht versehentlich in völlig unbeabsichtigter und unschicklicher Weise verwendet werden. Es liegt ihnen daran, dass jeder sein eigenes Gesicht wahren kann; und dementsprechend besteht ihre hauptsächliche Rolle schliesslich darin, durch ihr Verhalten zu einem geordneten Kommunikationsprozess beizutragen." (Goffman 1981).

Solche "Beziehungspflege" gewinnt in dem Masse an Gewicht, als die Partner unter der Prämisse interagieren, dass sie sehr langfristige soziale Beziehungen aufrechterhalten, sich bei vielerlei Gelegenheiten immer wieder sehen und vielleicht gar unausweichlich aneinander gebunden sind.

Dies erklärt die ausserordentliche Bedeutung von "Förmlichkeiten" beim höfischen Feudaladel, wo alle diese Voraussetzungen in höchstem Masse erfüllt waren. So wird der höfische Adlige in maximalem Umfang dazu angetrieben, bei der Interaktion das "Wie" vor das "Was" zu stellen: weil es für ihn rational ist, möglichst viele Energien in die Qualität seiner Beziehungen (zu Standesgenossen) zu investieren. Denn dieses Beziehungsfeld fungiert für ihn als Substitut für akkumuliertes Kapital, auf den der bürgerliche Mensch seine existentiellen Sicherheiten und Statusprätentionen abzustützen pflegt.

So werden kollokale Interaktionspartner ziemlich unabhängig von ihren verinnerlichten Moralvorstellungen und empathischen Fähigkeiten zu einer gewissen Dezentrierung ihrer Handlungsperspektiven genötigt: allein deshalb, weil die negativen Folgen rücksichtslos egozentrischen Verhaltens unmittelbar (z.B. in der Form tadelnder Mienen, gelangweilter Blicke usw.) wahrnehmbar werden. Bei translokalen (z.B. fernbrieflichen oder telephonischen) Interaktionen wird es sehr viel stärker von internalisierten Normorientierungen sowie von intraindividuell evozierten (=erinnerten oder imaginierten) kognitiven Vorstellungen abhängen, ob ein Akteur sich eher an selbstreferentiellen Gesichtspunkten, an vermuteten Intentionen ALTERS oder an der (beide verbindenden) Struktur eines integralen sozialen Systemzusammenhangs orientiert. Und häufig genug werden allein schon die kognitiven Verhältnisse es nahelegen, der mittels Introspektion unmittelbar, mühelos und detailliert zugänglichen Eigenperspektive (anstatt den vergleichsweise spekulativen Unterstellungen, was der ferne Partner meint oder welche Art von Beziehung mich augenblicklich mit ihm verbindet) den Vorzug zu geben.

Im Einklang mit solchen theoretischen Vorstellungen hat sich bei sozialpsychologischen Experimenten über "Verteilungsgerechtigkeit" gezeigt, dass Partner, die zukünftige Wiederbegegnungen antizipieren, ungeachtet ihres persönlichen Leistungsbeitrags aus "Höflichkeit" nur einen relativ bescheidenen Anteil am zu verteilenden knappen Belohnungsgut für sich beanspruchen, während die andern auf einem streng leistungsbezogenen Verteilungsmodus ("equity") insistieren (Shapiro, 1975; Schwinger 1980: 107ff.)

Durch gezielte Akkumulation von "Dankbarkeitskrediten" gelingt es, zukünftige kollokale Interaktionsphasen risikoloser und berechenbarer zu gestalten: weil man dann durchaus auch einmal "unbescheidene Wünsche" erfolgreich anbringen kann, ohne das wechselseitige Wohlwollen zu gefährden oder gar bedrohliche Ressentiments zu generieren.

Taktisch motivierte Zurückhaltung, Rücksicht, Umsicht (und häufig genug auch Nachsicht) sind gegenüber jenen kollokalen Partnern in erhöhtem Masse gefordert, die (z.B. auf Grund ihrer Einflusstellung) über besonders umfangreiche Handlungs- und Wirkungskapazitäten verfügen und deshalb gleichermassen als potentielle Quelle immenser Chancen und Vorteile wie auch bedrohlicher Risiken und Sanktionen in Rechnung gestellt werden müssen:

"Der oppositionelle Adlige sucht die Verbindung mit dem Kronprinzen herzustellen, dessen Position selbst ihn einer oppositionellen Haltung geneigt macht. Das Vorgehen ist gefährlich, besonders für Saint-Simon. Er muss die Haltung des Prinzen sorgsam abtasten, um zu wissen, wie weit er gehen kann. Saint-Simons Schilderung selbst lässt zunächst einmal die ausserordentliche Bewusstheit, mit der er auf sein Ziel losgeht, und zugleich die Freude an der Kunst, mit der er die Aufgabe meistert, erkennen. Sie zeigt deutlich, wie und warum gerade der relativ niedriger Rangierende im besonderen Mass zum Taktiker der Konversation wird. Er ist, wie schon gesagt, bei einer solchen Unterhaltung der am meisten Gefährdete. Der Prinz kann gewissermassen immer aus den zweckgerichteten Spielregeln der höflichen Konversation ausbrechen; er kann, wenn es ihm passt, die Unterhaltung und Beziehung aus einem beliebigen Grunde beenden, ohne dabei allzu viel zu verlieren. Für Saint-Simon dagegen hängt vom Ausgang einer solchen Unterhaltung ausserordentlich viel ab, und für ihn ist es also lebenswichtig, bei einer solchen Unterhaltung mit äusserster Beherrschtheit und Überlegtheit, aber mit einer Beherrschtheit und Überlegtheit, die niemals für den Gesprächspartner fühlbar werden darf, zu Werke zu gehen." (Elias, 1983: 164/165).

Besonders einflussreiche Personen sind in kollokalen Systemen meist nur erträglich, wenn sie sehr sporadisch anwesend sind: weil ihre Dauerpräsenz die Untergebenen vor ungebührliche Disziplinierungsforderungen stellt und sie oft daran hindert, neben dem hohen Aufwand an subtil geplanter Interaktionstaktik und strategischem "impression management" auch noch die ihnen eigentlich zugedachten Sachaufgaben zu erfüllen.

So besteht eine der zahlreichen kontraproduktiven Wirkungen von Grossraumbüros darin, dass ihre Insassen die zeitlich generalisierte Präsenz ihres Vorgesetzten als eine äusserst restringierende und demotivierende Situationsbedingung erleben: im Gegensatz zum traditionellen Kleinbüro, wo solche Disziplinierungszwänge auf die wenigen, zeitlich limitierten "Besuche" des "Chefs" eingegrenzt bleiben (vgl. Fritz 1982: 153ff.)

Nimmt man die obige Feststellung (vgl. II) hinzu, dass auch die anwesende Einflussperson selber mit Disziplinierungsanforderungen belastet wird, gibt es nun einen doppelten Grund für die Hypothese, dass

  1. Verhältnisse kontinuierlich andauernder (bzw. sich häufig wiederholender) Kollokalität mit Zuständen hoher systeminterner Zentralisierung (von Macht, Einfluss, Prestige, Führerschaft u.a.) unvereinbar sind;
  2. exogen vorgegebene (z.B. auf formale Autorität abgestützte) Verhältnisse hoher Zentralisierung nur dadurch spannungsfrei aufrechterhalten werden können, wenn und insofern die Fokalperson die Zeiträume ihrer Anwesenheit reduziert.

2) Interreferentiell bestimmte Weisen individueller Selbstreflexion und Identitätsbildung

Als Korrelat kollokaler Verhaltensdisziplinierung entsteht eine charakteristische Weise individueller Selbstreflexion und Identitätsbildung, die nicht an introspektiv erschlossenen Erlebnisinhalten oder Intentionen festmacht, sondern an äusserlichen Ausdruckskundgaben und Handlungsvollzügen: unter dem Gesichtspunkt, wie andere diese wahrnehmen, deuten und darauf reagieren.

"Die Selbstbeobachtung und die Beobachtung der anderen Menschen korrespondieren miteinander. Eine wäre zwecklos ohne die andere. Es handelt sich hier also nicht wie im Falle einer primär aus religiösen Motiven entspringende Selbstbeobachtung, um eine Beobachtung seines "Inneren", um die Versenkung in sich selbst als eines isolierten Wissens zur Prüfung und Disziplinierung seiner geheimsten Regungen um Gottes Willen, sondern es handelt sich um eine Beobachtung seiner selbst zur Disziplinierung im gesellschaftlich-geselligen Verkehr." (Elias 1983: 159/160).

In kollokalen Situationen sind Individuen bekanntlich (vgl. 4.4) relativ wenig auf selbstreferentielle Orientierung (am eigenen "Selbstbild" oder am "idealisierten EGO") angewiesen, weil sie zu Fremdbeurteilungen einen fast ebenso leichten, umfassenden und zuverlässigen kognitiven Zugang wie zu introspektiven Selbstbeurteilungen haben (vgl. Schütz 1973: 227ff.)

Insofern überhaupt verselbständigte personale Selbsttypifikationen und Identitätsattributionen entstehen, tragen sie den Mead'schen Charakter des "generalisierten Anderen", in dem sich Fremderwartungen, die gegenüber "typischen Kollokalpartnern" ausgebildet wurden, in der Form von Selbsterwartungen wiederfinden. Man wird sich selbst dann vorwiegend über Tugenden loben, die einem in durchschnittlichen kollokalen Interaktionszyklen Erfolg und Anerkennung verschaffen (z.B. "Taktgefühl", "Zuvorkommenheit" oder "Unaufdringlichkeit"), während man seine privaten Scham- und Schuldregungen für Verhaltensweisen aufspart, in denen sozial missliebige oder demütigende Eigenschaften (z.B. "Naivität", "Aufdringlichkeit", "Rücksichtslosigkeit") zum Ausdruck gelangen.

Logischerweise sind auch die interpersonellen Wahrnehmungen und Typifizierungen der Komplexität, Fluidität und den dichtgewobenen kausalen Wechselbeziehungen kollokaler Felder nur dann angemessen, wenn jeder Teilnehmer die jeweils anderen nicht als isolierte, durch endogene Dispositionen (wie z.B. "Charakter", "Interesse", "Stimmung" u.a.) determinierte Individuen perzipiert, sondern als Exponenten eines sozialen Beziehungsfeldes, deren Erleben und Handeln mannigfachen Umwelteinflüssen unterliegt.

Idealerweise müsste dann jedes Mitglied einerseits die Struktur und Dynamik des gesamten Interaktionsfelds (mit allen in ihm aktualisierten bilateralen und multilateralen Beziehungen) überblicken, um die auf jedes andere Mitglied momentan wirksamen Kräftevektoren zu identifizieren.

In diesem Sinne hat sich bei der höfischen Feudalelite zu Versailles ein äusserst subtiler, differenzierter Stil interpersoneller Wahrnehmung entwickelt, der dennoch nicht "psychologisch" genannt werden kann, weil eben "situative" gegenüber "dispositionalen" Attributionen den Vorrang behaupten:

"Die höfische Kunst der Menschenbeobachtung ist umso wirklichkeitsnäher, als sie niemals darauf abgestellt ist, den einzelnen Menschen für sich allein zu betrachten, wie ein Wesen, das primär aus seinem Inneren die wesentlichen Gesetze und Züge empfängt. Man betrachtet vielmehr innerhalb der höfischen Welt das Individuum immer in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit: als Menschen in seiner Beziehung zu anderen. Auch hierin zeigt sich die totale Gesellschaftsverbundenheit des höfischen Menschen." (Elias 1983: 159).

Weil räumlich verdichtete Personengruppen der sinnlichen Wahrnehmung als prägnant herausgehobene Objekte gegenübertreten, neigen aussenstehende Beobachter bekanntlich dazu, die Ursachen vieler individueller Verhaltensweisen eher dem "Miteinander" anstatt der einzelnen "Person" zu attribuieren (vgl. 4.4).

Ebenso kommt die generellere Neigung der Individuen, bei der Zurechnung ihres eigenen Verhaltens situative Zurechnungen vorzuziehen, der hohen kontextuellen Determinationskraft kollokaler Sozialsysteme entgegen: auch wenn der Einzelne oft nicht adäquat wahrnimmt, wie sehr er selber die Situation (d.h. die Bedingungen, unter denen andere handeln und auf ihn reagieren) mitkonstituiert (Sillars 1981).

Umgekehrt mag die ebenso generelle Tendenz sozialer Interaktionspartner, das Verhalten Anderer dispositional zuzurechnen (vgl. z.B. Walster 1966, Jones/Nisbett 1972). zu einer erheblichen Unterschätzung der vom Feld der Mitanwesenden ausgehenden Verhaltenseinflüsse führen: und andauernde Kommunikation mag notwendig sein, um die sich ständig erneuernden Diskrepanzen zwischen externalen Selbst- und internalen Fremdattributionen zu reduzieren.
 
 

3. Zwänge zur Deprofilierung und Konformität

Unter kollokalen Bedingungen sind soziale Handlungsprozesse dadurch gekennzeichnet, dass
  1. die Personen, die als Verursacher unwillkürlicher oder intendierter Verhaltensweisen in Betracht zu ziehen sind
  2. die Verhaltensvollzüge (z.B. Bewegungsabläufe, Sprechakte u.a.), die sie mit Hilfe ihrer leiblichen Organe vollziehen
  3. die Wirkungen, die diese Verhaltensweisen bei Adressaten oder sonstigen Betroffenen auslösen
im selben aktualen Erlebnisfeld der Beteiligten wahrnehmbar sind.

Im Medium sinnlicher Wahrnehmung pflegt sich die Synthese dieser drei Handlungskonstituentien unkontrollierbar-spontan zu vollziehen, so dass im Gegensatz zu vergangenen, fernverursachten oder fernwirkenden Verhaltensweisen keine Notwendigkeit besteht, sie mittels artifiziell erzeugter (und entsprechend umstrittener und variabler) Zurechnungkonstruktionen zu sichern.

Jeder Akteur erlebt sich selbst zweifelsfrei als jemand, dessen unbedachte Armbewegungen gerade jetzt genau dieser anderen Person ein Schmerzerlebnis zugefügt und sie zu einer erschrocken-unwilligen Reaktion veranlasst haben, oder dessen scherzhaft-ironische Einwürfe ganz offensichtlich kein Verständnis finden.

Auf Grund solcher Rückkoppelungen sind die im kollokalen Milieu vollzogenen Handlungsprozesse im Vergleich zu einsamen Privathandlungen oder translokalen Kommunikationen (z.B. Telephongesprächen, Briefen u.a.) besser dazu geeignet, einen Strom begleitender (bzw. unmittelbar nachfolgender) Selbstattributionen zu induzieren. Ich vermag meinen eigenen Zustand innerer Wut weniger leicht zu ignorieren, wenn Andere mir Zornesröte oder ein bedrohliches Zittern in der Stimme attestieren; ein spontanes Lob der Lehrerin vermag ein Kind leicht von den letzten Selbstzweifeln über seine eigenen Fähigkeiten zu befreien; und ein alkoholisierter nächtlicher Automobilist vermag sich vielleicht nur durch Anfahren eines Fussgängers von seiner eigenen Fahruntüchtigkeit überzeugen.

Noch wichtiger ist nun aber die Tatsache, dass die in Anwesenheit Anderer vollzogenen Handlungen auch einen dauernden Strom von Fremdzurechnungen erzeugen: wobei aus der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, dass Selbstattributionen und Fremdzurechnungen (bzw. die letzteren untereinander) divergieren, vielfältige Unsicherheiten, Konflikte und Koordinationsschwierigkeiten entstehen.

Fremdattributionen sind deshalb so ubiquitär, weil anwesende Beobachter normalerweise mühelos feststellen können, welche Geschehnisse in welchen Verhaltensvollzügen welcher Personen ihre Ursache haben. Jeder Interaktionsteilnehmer muss also permanent mitberücksichtigen, dass all seine Verhaltensweisen von anderen als Ausdruckskundgaben gewertet werden (können), aus denen sich Schlüsse auf seine Absichten, Fähigkeiten, Stimmungen oder Charaktereigenschaften ziehen lassen.

Durch geeignete Vehaltensdisziplinierung mag es jedem Partner teilweise gelingen, die von ihm erweckten Impressionen und Typifikationen in Übereinstimmung mit seinen Selbstattributionen zu halten oder in rein taktischer Absicht eine ihm vorteilhafte personale Selbstdarstellung zu evozieren.

Aber andererseits gibt es zahlreiche Gründe dafür, warum eine derartige zweckhafte Manipulation von Fremdbeurteilungen niemals dauerhaft und vollständig gelingt:

  1. Zumindest auf der nonverbalen Verhaltensebene besitzt kein Akteur ein vollständiges Wissen darüber, welche Kundgaben er andauernd emittiert: z.B. weil er seine eigenen Bewegungsabläufe nicht adäquat wahrnehmen kann und viele gestisch-mimische Begleitäusserungen sich seinem Bewusstsein überhaupt entziehen (vgl. 2.2.4).
  2. Selbst eine vollständige Kenntnis aller eigenen Verhaltensabläufe würde noch nicht das Problem ihrer mangelhaften Kontrollierbarkeit beseitigen: weil (im Gegensatz etwa zu translokal-schriftlicher Kommunikation) immer auch leibliche Manifestationen einfliessen, die sich (wie z.B. Niesen, Rülpsen, Zittern, Stolpern) auf Grund ihrer physiologisch-anatomischen Mitdeterminiertheit einer intentionalen Steuerung entziehen.
  3. Auch bei vollständiger Kenntnis und Kontrolle bliebe noch das Problem, dass dieselben Verhaltensweisen je nach den situativen Bedingungen unterschiedliche Kausalwirkungen entfalten, und dass es eher diese objektiven Konsequenzen als die (beabsichtigten und auch vollzogenen) Verhaltensabläufe sind, an denen Betroffene ihre Zurechnungen festzumachen pflegen. Dies zeigt sich beispielsweise in der Neigung von Verkehrsunfallopfern, den Verursachern unabhängig davon, welche objektiven Situationsbedingungen zum Malheur geführt haben, eine subjektive Schuld zuzusprechen (vgl. Walster 1966; Wortman 1976), oder in der Tendenz von Eltern unterer sozialer Schichten, bei ihren Kindern nicht so sehr "böse Absichten", sondern ausschliesslich die zu objektiven Störungen oder Schäden führenden Handlungen zu sanktionieren.
Die Schwierigkeiten eines Akteurs, selbstinduzierte Fremdattributionen hinreichend voraussehen und/oder kontrollieren zu können, nehmen in dem Masse zu, als seine Verhaltensweisen Merkmale des Idiosynkratischen, Unkonventionellen, Unerwarteten an sich tragen. Denn Handlungen dieser Art sind aus zwei Gründen besonders dazu disponiert, dispositional attribuiert und als "empirisches Rohmaterial" für personale Typifikationen verwendet zu werden:
  1. weil sie - bei gegebener Sensibilität des Publikums - dank ihrer Auffälligkeit besonders viel Aufmerksamkeit und spontanes Interesse auf sich ziehen;
  2. weil es nicht gelingt, eine ausserhalb des Akteurs liegende, übersubjektive Zurechnungsquelle (z.B. eine kollektive Erwartung, Norm, Regel, Weisung, Gewohnheit u.a.) zu identifizieren: so dass es zwingend ist, ihre Ursache in der Person des Handlungssubjekts zu suchen.
Unabhängig davon, ob EGO sich in Anwesenheit Anderer durch virtuose Fähigkeiten oder enttäuschende Fehlleistungen, durch "originelle Einlagen" (wie z.B. Witze, Clownerien etc.) oder offensichtliche Delinquenzen profiliert, muss er dafür mit einem höheren Mass an (zwangsläufiger) sozialer Selbstdarstellung bezahlen. Er muss dann hinnehmen, dass man
  • von ihm mehr als von anderen spezielle Begründungen und Erklärungen für sein Verhalten (bzw. dessen Ergebnisse) fordert;
  • Fremdtypifikationen seiner Person (hinsichtlich Charakter, Fähigkeiten, Interessen, Stimmungen u.a.) überdurchschnittlich stark auf solche Darstellungsleistungen ("performances") abgestützt werden (während z.B. objektive Statusmerkmale, Erinnerungen an vergangenes Verhalten u.a.m. vergleichsweise unwichtiger werden).
Hinzu kommt, dass jemand, der auf Grund eines einzelnen auffälligen Verhaltens Aufmerksamkeit erregt hat, nun eine Zeitlang generell im Zentrum des Interesses steht und sich deshalb genötigt sieht, auch seine übrigen Handlungen stärker zu disziplinieren.

Dementsprechend werden sich kollokale Interaktionsteilnehmer in der Regel genötigt sehen, ihre Verhaltensweisen (wie auch ihre äussere Erscheinung) zu deprofilieren, um den Strom der von ihnen selbst induzierten, aber nicht überblick- und steuerbaren Fremdattributionen zu verdünnen und sich dadurch von den Begründungs- und Disziplinierungszwängen, die mit der Aufmerksamkeitszuwendung der Mitanwesenden einhergehen, teilweise zu entlasten.

Dazu stehen zwei Strategien zur Verfügung, die meist in kombinierter Weise verwendet werden:

  1. Passivierung: durch Aufsetzen eines "beherrschten Gesichtsausdrucks" kann man ebenso wie durch Starrheiten in der Kleidung oder kosmetische Massnahmen (Schminke u.a.) dafür sorgen, dass der Körper generell weniger (vor allem: weniger unerwünschte, unbewusste und unkontrollierte) Ausdruckskundgaben emittiert. Im Unterschied zum Mechanismus der Desensibilisierung (vgl. 4) geht es hier darum, die Komplexität der Stimuli von der emissiven (anstatt rezeptiven) Seite her zu reduzieren: was wohl umso dringlicher ist, je stärker Mitanwesende dafür sensibilisiert sind, aus der Mimik oder anderen Leibeskundgaben Schlüsse zu ziehen.
  2. Konformismus: die strikte Anpassung des individuellen Verhaltens an (explizite oder unterstellte) soziale Erwartungen, Normen, Regeln und Gewohnheiten stellt die weitaus effektivste Strategie verhaltensmässiger Disziplinierung dar.
Denn EGO erhält dafür den dreifachen Gewinn
  1. dass er im objektiven Sinne die anderen nicht stört (und sie nicht zu entsprechenden reaktiven Sanktionen nötigt);
  2. dass er sich nicht ins Scheinwerferlicht allgemeiner Aufmerksamkeit manövriert (und dadurch einen entsprechend generalisierten Disziplinierungsdruck erfährt);
  3. dass er seine "wahre Person" wie hinter einem Schutzwall verbergen kann: weil die andern geneigt sein werden, sein Verhalten primär nicht als individuelle Ausdruckskundgabe, sondern als Korrelat personenunabhängiger sozialer Erwartungen, Verpflichtungen u.a. zu interpretieren (vgl. Goffman 1971: 43).
Diese Tendenz wird wahrscheinlich durch das sog. "discounting principle" gestützt: d.h. durch die Regularität, dass prädominante situative Zurechnungen dazu tendieren, konkurrierende dispositionale Attributionen nicht nur graduell, sondern grundsätzlich zu verdrängen (vgl. Kelly 1972).

So gibt es eine äusserst potente und ubiquitäre Motivationsquelle für Verhaltenskonformität, die keineswegs irgendeiner konsensualen inneren Übereinstimmung mit den einzuhaltenden Normen und Regeln entspringt, sondern allein dem Bestreben, sich den unerwünschten und risikoreichen Implikationen einer irgendwie auffällig wirkenden Selbstdarstellung zu entziehen. Als sachlich generalisierte (d.h. von den konkreten Norminhalten unabhängige) Motivationsquelle vermag sie auch jene erstaunlichen, teilweise gar erschütternden Phänomene kollokaler Verhaltenskonformität zu erklären, wie sie beispielsweise in den Ergebnissen des "Milgram-Experimentes" sichtbar werden (Milgram 1974).

Die vereinigte "attributionsdämpfende" Wirkung von Verhaltenspassivierung und Verhaltenskonformität kann sehr gut am Beispiel jenes Syndroms konventionalisierter Erwartungen, die man "gepflegte Erscheinung" nennt, veranschaulicht werden. Als hochdifferenziertes Produkt vorangegangener Disziplinierungsleistungen (Auswahl und Anziehen der Kleider, Frisieren, Zähneputzen, Desodorieren, Fingernägelreinigen, Rasieren, Schminken etc. etc.) wird sie ins kollokale Interaktionsfeld fertig mitgebracht, um dort die Funktion einer invarianten Basisrolle ("korrektes Auftreten") zu übernehmen.

Als solche dient sie dazu,

  1. günstige initiale Attributionen zu induzieren: indem sie den Kollokalpartnern suggeriert, eine im generellen Sinne zur Selbstdisziplin und sozialen Einpassung fähige und willige Person vor sich zu haben (vgl. Goffman 1971: 36ff.)
  2. die laufenden Interaktionsprozesse von aktuellen Disziplinierungszwängen etwas zu entlasten: indem unkonventionelle Einzelhandlungen viel eher als "untypische Ausrutscher" wegerklärt (anstatt als symptomatische Äusserung einer Persönlichkeitsstruktur gedeutet) werden, wenn ein "grundsätzlich seriöses, vertrauenswürdiges Individuum" sie vollzieht.
Wenn man hinzunimmt, dass "korrekt erscheinende" Personen generell weniger auffallen und im Zentrum irgendeines sozialen Interesses stehen, so ergibt sich daraus die - nicht nur von professionellen Gangstern und Spionen längst erkannte und ausgenutzte - Schlussfolgerung, dass "gepflegtes Auftreten" der aussichtsreichste Weg ist, um sich ein Reservat für "sanktionsfreie Devianzhandlungen" zu sichern: oder gar einen gewissen "Idiosynkrasiekredit" für relativ primitive Benehmensweisen oder Redensarten, die bei nachlässigerer äusserer Erscheinung als Symptome unzweifelhafter "Unkultiviertheit", ja "Asozialität" gewertet würden.

Wesentlich ist die Einsicht, dass sich in der "korrekten Erscheinung" das Element der Konformität immer mit Komponenten der Passivierung verbindet: indem die "angemessene Kleidung" ebenso wie die geforderte "gleichmässig freundliche Miene" immer die Eigenschaft haben, vielerlei leibliche Ausdrucksformen abzuschwächen oder zu kamouflieren.

Bei besonders disziplinbedürftigen Anlässen feierlicher Art können Uniformen, Mäntel, Talare, Zylinderhüte, Roben, Messgewänder oder andere deprofilierende Kleidungsformen die Wirkung haben, die leiblichen Ausdrucksmöglichkeiten (und entsprechenden Selbstdarstellungsrisiken) auf ein Minimum zu reduzieren.

Wenn kollokale Sozialsysteme einerseits bekanntlich dazu disponiert sind, durch die selbsttragende Fluidität ihrer inneren Prozesse konventionelle Festlegungen und traditionale Erstarrungen zu unterminieren (vgl. 4.3), so erweisen sie sich hier andererseits genau umgekehrt als Interaktionsfelder, die derartige Konventionalismen mittels ständiger Reproduktion am Leben erhalten oder sogar - wie man wiederum an der höfischen Gesellschaft Frankreichs illustrieren kann - zusätzliche Rigidifizierungen endogen erzeugen:

"Den Panzer der Selbstzwänge, die Masken, die alle einzelnen Menschen der höfischen Eliten nun in höherem Masse als zuvor als Teil ihres Selbst, ihrer eigenen Person, entwickeln, distanziert auch in höherem Masse als zuvor die Menschen voneinander. Verglichen mit der vorangehenden Periode sind nun am Hof die spontanen Impulse der Menschen beim Verkehr miteinander in höherem Masse gezügelt. Überlegungen, die rasche Bestandesaufnahme der Situation, das Auspeilen des Handlungskurses, kurzum Reflexionen schieben sich nun mehr oder weniger automatisch zwischen den affektiven und spontanen Handlungsimpuls und die tatsächliche Ausführung der Handlung in Wort und Tat. Oft genug sind sich die Menschen auf diesem Plateau der Reflexion als Bestandstück dieser Panzerung sehr wohl bewusst. Je nach ihrer Lage bewerten sie sie positiv unter dem Namen "Vernunft" oder romantisch und negativ als Fessel des Gefühls, als Störungserscheinung, als Entartung der Menschennatur - wie immer sie sie bewerten, sie nehmen diese ihre Selbstzwänge, ihre Panzerung und die Distanzierungsart, die ihnen entspricht, nicht als Symptome einer bestimmten Stufe der menschlich-gesellschaftlichen Entwicklung, sondern als ewige Eigentümlichkeit der unveränderlichen Menschennatur wahr." (Elias 1983: 359/360).

Um die "Ianusgesichtigkeit" kollokaler Sozialsysteme (d.h. ihre Eigenschaft, Konventionalismen einerseits zu erodieren und andererseits zu konsolidieren) besser zu verstehen, muss man die zusätzlichen Bedingungen identifizieren, unter denen eher die eine oder eher die andere dieser beiden Eigenschaften vorrangig in Erscheinung tritt.

An dieser Stelle sei nur auf vier solcher Bedingungen hingewiesen, die mit einer erhöhten Tendenz zur Konformität und Rigidifizierung in Zusammenhang stehen könnten:
 
 

1) Grad an "Öffentlichkeit"

Die Risiken, die mit unkonventionell-idiosynkratischem oder abweichendem Verhalten verbunden sind, nehmen in dem Masse zu, als sich der Akteur ihm unbekannten oder gar unkontrollierbar-wechselnden Mitanwesenden gegenüber befindet.

Diese in allen öffentlichen Lokalitäten (oder bei grösseren privaten Anlässen wie z.B. Cocktail-Parties) vorherrschende Situation ist dadurch charakterisiert, dass jeder Akteur

  1. grosse Unsicherheit darüber verspürt, wie seine Verhaltensweisen wahrgenommen, gedeutet und beantwortet werden: und vor allem aus Unkenntnis darüber, wie der konventionellste, intoleranteste oder vorlauteste "Grenzteilnehmer" darauf reagieren wird, sich prophylaktisch zu strikter Konformität und Unauffälligkeit genötigt sieht;
  2. damit rechnen muss, dass die Mitanwesenden sich ausschliesslich auf seine aktualen Verhaltensweisen abstützen, um sich von seiner Persönlichkeit ein Bild zu machen: weil sie ihn ja nicht aus vergangenen Handlungen kennen und auch über seine formellen Statusmerkmale nicht Bescheid wissen können.
Aus diesen zwei Gründen ist häufig allein schon mit anwachsender Zahl von Anwesenden ein vermehrter Disziplinierungs- und Konformitätsdruck verbunden. Er kann Individuen nicht nur an der Ausführung negativ-devianter, sondern auch positiv-meritorischer Handlungen hindern: z.B. wenn sie bei einer grösseren Zahl von "bystanders" weniger geneigt sind, verunglückten Personen zu Hilfe zu eilen, weil jeder befürchtet, sich (z.B. als jemand, der die Situation fehlgedeutet hat oder zur Hilfeleistung zu ungeübt ist) unvorteilhaft zu profilieren (vgl. Latané/Darley 1970).
 
 

2) Relevanz und "Sanktionsmacht" der Mitanwesenden

Der Bedarf nach Voraussicht und/oder Kontrolle der durch das eigene Verhalten evozierten Fremdbeurteilungen und Fremdreaktionen ist umso grösser, je mehr Bedeutung diese externen Zuschauer für den Akteur besitzen: z.B. wenn sie in der Lage sind, an ihr Urteil erhebliche Sanktionen anzuknüpfen oder gar das künftige Lebensschicksal EGO's mitzudeterminieren.

Fast unerträglich wird die Last der Selbstdisziplinierung, wenn diese relevanten Personen (noch) unbekannt und unvertraut sind: z.B. in Anstellungsgesprächen, wo alles weitere davon abhängt, wie man eine einzige, unwiederbringliche Gelegenheit zur persönlichen Selbstdarstellung "besteht", oder beim ersten Rendez-Vous mit einem Wunschpartner, dessen Ausgang mitentscheidet, ob es überhaupt noch weitere Zusammenkünfte gibt.

Nicht zuletzt dank der vielgeschmähten hierarchischen Ordnung der Gesellschaft ist aber gewährleistet, dass es sich bei derart einflussreichen Beurteilern häufig um klar identifizierbare und langfristig in denselben Rollen verharrende Personen handelt, zu denen man sich mindestens nach und nach in ein vertrauteres Verhältnis setzen kann. Nur wenige "Darstellungskünstler" brauchen sich deshalb permanent einem gleichzeitig sanktionsmächtigen und unvorhersehbar-variablen Publikum zu exponieren und jenes für Sänger, Schauspieler, aber auch Vortragsredner charakteristische "Lampenfieber" zu erleiden, das sich bei jedem Auftritt immer wieder erneuert.
 
 

3) Exponiertheit

Unter besonders ausgeprägtem Disziplinierungsdruck befinden sich Personen, die sich bereits aus Ursachen, die nicht mit ihrem konkreten Verhalten zu tun haben, im Fokalpunkt kollokaler Aufmerksamkeit befinden:
  • aus physischen Gründen: z.B. weil sie wegen ihrer Körpergrösse herausragen oder wegen ihrer auffälligen Verkrüppelung überdurchschnittliche Beachtung erregen, oder weil sie sich durch ihr abweichendes Alter oder Geschlecht (z.B. als "einzige Frau unter Männern") gegenüber allen übrigen Anwesenden profilieren;
  • aus strukturellen Gründen: z.B. als Tagungsteilnehmer, der die Rolle des Sitzungsleiters übernommen hat oder der gerade jetzt - aufs Mikrophon zuschreitend - die Sprecherrolle in der Diskussion übernimmt;
  • aus ökologischen Gründen: z.B. als Kneipengast, der als einziger einsam am Tische sitzt, oder als verspätet erscheinender Sitzungsteilnehmer, der die Blicke der Anwesenden wie Spiessruten empfindet, wenn er auf seinen Platz zustrebt.
Bekanntlich hat die radiale Aufmerksamkeitskonzentration Vieler auf einen Einzelnen zur Folge, dass sich das Sozialsystem insgesamt destabilisiert: weil es sich in allen wesentlichen Verhältnissen dafür empfindlich macht, wie diese eine Fokalperson agiert (vgl. 2.2.5) Indem diese Person unter einen entsprechend hohen Deprofilierungs- und Konformitätsdruck gesetzt wird, mag es gelingen, diese Risiken wesentlich zu neutralisieren.
 
 

4) Zeitdruck

Ein grosser Vorzug der "korrekten persönlichen Erscheinung" besteht darin, dass sie praktisch keine Zeit braucht, um als Gestalteinheit intersubjektiv übermittelt und als Ansatzpunkt für eine (allerdings eher intuitive und diffuse) personale Fremdtypifikation wirksam zu werden.

Wer hingegen bestrebt ist, seine Verhaltensweisen und Leistungen als Medien zu benutzen, um sich selbst auf eine selbstgewählte Art darzustellen und bei andern ein bestimmtes Bild seiner Person zu evozieren, muss daran interessiert sein, möglichst viel Darstellungszeit zur Verfügung zu haben

  1. um durch geeignete Variation seiner Verhaltensweisen ein möglichst vielseitiges, differenziertes Bild seiner selbst vermitteln zu können,
  2. um das bei jeder einzelnen Handlung involvierte Risiko, durch zufälliges Fehlverhalten oder situationsbedingte Misserfolge einen "falschen Eindruck zu erwecken", über möglichst viele Gelegenheiten hinweg zu streuen.
Je weniger Zeit verfügbar ist, desto mehr verschärft sich
  1. der Selektionsdruck: unter vielen möglichen jetzt gerade die "richtigen", für die Selbstdarstellungsstrategie optimalsten, Verhaltensweisen auszuwählen;
  2. der Disziplinierungsdruck: gerade in diesem Augenblick fehlerfrei und erfolgreich zu agieren: um folgenschwere Fehlattributionen zu vermeiden, zu deren Korrektur man vielleicht gar keine Gelegenheit mehr findet.
Die Wahl wird dann verständlicherweise meist auf gut eingeübte, konventionelle (und sicher nicht auf experimentell-innovatorische) Verhaltensweisen fallen: weil man im voraus weiss, dass diese praktisch nie misslingen und mit Sicherheit zumindest keine negative Typifizierung - meist allerdings auch keine sehr positive - nach sich ziehen (vgl. z.B. Bierhoff 1980: 156)
 
 

4. Bedarf nach habitualisierten und ritualisierten Verhaltensmustern

Wo immer Individuen (oder auch kollektive Akteure wie z.B. Organisationen) genötigt sind, auf unerwartete Ereignisse ohne Zeitverzug und möglichst erfolgssicher zu reagieren, fehlt jeglicher Spielraum um
  • die spezifischen, vielleicht gar singulären Merkmale eines Ereignisses oder einer Problemsituation differenziert wahrzunehmen,
  • eine auf diese Spezifitäten zugeschnittene, vielleicht sogar völlig innovative Verhaltensweise oder Problemlösungsstrategie zu konzipieren,
  • noch wenig erprobte Verfahrensweisen auszutesten, deren Ausführung man nur unvollständig beherrscht und/oder über deren kausale Wirkungen oder symbolische Konnotationen man zu wenig weiss.
Vielmehr sieht sich der Akteur auf einen "eisernen Bestand habitualisierter Verhaltensroutinen" verwiesen: auf gut eingeübte Reaktionsschemata, die dank ihrer simplifizierten und stereotypisierten Struktur jederzeit mit einem Minimum an Reflexionsaufwand auf dieselbe voraussehbare Weise reproduziert werden können (vgl. Fentress 1976: 162).

Autofahrer, Bergsteiger, Kriminalkommissare, Notfallärzte und Katastrophenhelfer finden sich in derselben paradoxen Lage, dass gerade die unaufhebbare Instabilität und Unvorhersehbarkeit ihrer Problemumwelt dazu nötigt, ein Repertoire äusserst rigide programmierter Reaktionsregeln und Verhaltensabläufe zu benutzen, die in internalisierter Form (als habitualisierte "Reflexe") und im externalisierten Aggregatzustand (z.B. als Regelhandbuch für Polizeifunkstreifen) zugreifbar sind.

Wer innerhalb einer Umwelt, in der man nicht weiss, wann was geschieht, dennoch effektiv und effizient handeln möchte, muss dies mit folgenden Einschränkungen bezahlen:

  1. An die Stelle einer generalisierten, für beliebige Fälle gerüsteten Problemlösebereitschaft tritt ein begrenztes Spektrum sachspezifischer Reaktionsbereitschaften: je nach dem Repertoire zugreifbarer Regeln und Routinen, die (sowohl im internalen wie im externalen Speicherzustand) immer die Form eines Arsenals separierter einzelner Verfahrensprogramme besitzen.
  2. Weil der unendlichen Mannigfaltigkeit und Variabilität empirischer Situationen und Problemkonstellationen nur eine starr begrenzte Anzahl von Reaktionsmustern gegenübersteht, wird es nötig, die konkreten Ereignisfälle unter einen groben Kategorienraster zu subsumieren und selbst auf offensichtlich verschiedenartige Einzelfälle dieselben Verhaltensschemata zu applizieren.
  3. Weil sowohl institutionell verfertigte Regelhandbücher wie auch intraindividuell verfestigte Habitualisierungen auf zeitliche Stabilität hin angelegt und nur mit aufwendigen Verfahrensweisen modifizierbar sind, bleiben die reaktiven Kapazitäten auf Bereiche langfristig stabiler und sich häufig wiederholender Ereigniskonstellationen eingeschränkt, während sehr selten auftretende und qualitativ neuartige Fälle unbewältigt bleiben.
Eine Ergänzung des stereotypen Reaktionsrepertoires durch zusätzliche Routinen gelingt nur, wenn die entsprechenden neuen Problemtypen vorerst nicht unter Zeitdruck und Erfolgszwang bewältigt werden müssen.

Kollokale Interaktionsfelder haben nun die Eigenheit, dass die Teilnehmer sich in ihnen sehr häufig unerwarteten Ereignissen, auf die dringlich reagiert werden muss, gegenübersehen: so dass sie stärker als in translokalen oder alokalen Sozialverhältnissen darauf verwiesen sind, sich von starr programmierten (häufig in der Frühsozialisierung erworbenen und der bewussten Reflexion kaum zugänglichen) Verhaltensroutinen leiten zu lassen.

Allerdings sind hier zwei Determinationsquellen der Verhaltensroutinisierung zu unterscheiden: je nachdem, ob sich das Individuum nur in situativer oder auch in interaktiver Hinsicht auf die Mitanwesenheit Anderer bezieht.

Auf der ersten, rein situativen Ebene stellen mitanwesende Personen genauso wie unberechenbare Tiere, unübersichtliche Stromschnellen oder böenartige Segelwinde eine Quelle unvorhersehbarer Kausalwirkungen und Umweltereignisse dar, die dazu nötigen, ein Repertoire standardisierter adaptiver Gegenreaktionen in Vorrat zu halten. Dazu gehören etwa reflexartige Bewegungen des Ausweichens und Distanzhaltens, die im Strassenverkehr überlebenswichtige Bedeutung gewinnen, oder jene geradezu artistischen Fähigkeiten, die nötig sind, um sich in dichtgedrängten Zuschauermassen einen privilegierten Standort und genügend Ellbogenfreiheit zu verschaffen.

Auf der zweiten, interaktionellen Ebene findet man jene Verhaltenskundgaben, die zwar auf denselben Mechanismen psychischer Gewöhnung und motorischer Einübung basieren, zusätzlich aber auch daraufhin ausgerichtet sind, im intersubjektiven Feld die Funktion von symbolischen Ausdruckshandlungen zu erfüllen.

Dazu gehören z.B. jene fast perfekt automatisierten, nur mit einem Sonderaufwand an Bewusstmachung und Verhaltensdisziplin überwindbaren Gewohnheiten

  • auf das Zusammentreffen mit einem guten Bekannten (wie zufällig und unerwartet es auch sei) mit einem stereotypisierten Ritual des Grüssens zu reagieren;
  • bei kurzfristig sich wiederholenden Begegnungen mit derselben Person zu abgeschwächten, aber immer noch merklichen Erkennungsreaktionen überzugehen und schliesslich nur noch mit einem "stehenden Lächeln" auf dem Gesicht an ihr vorüberzugehen (Goffman 1971);
  • Interaktionsverhältnisse, die durch versehentliche körperliche Übergriffe oder wechselseitige Verhaltensbehinderungen aus dem Gleichgewicht geworfen sind, durch kurze "Korrektivrituale" (Entschuldigungen, Erklärungen u.a.) zu reäquilibrieren (vgl. Goffman 1974: 138ff.)
Im Grenzfall können derartige Ritualvollzüge einen ähnlichen Grad der Zwangshaftigkeit, wie er bestimmten physiologischen Reflexen eigen ist, erhalten: mit der Folge, dass eher ihre Unterlassung als ihre Ausführung den Charakter einer bewussten, mit subjektiver Sinngebung ausgestatteten Intentionalhandlung besitzt:

"In unserer Gesellschaft ist diese für Erkennungsrituale charakteristische Regel normalerweise etwas so Eingefleischtes, dass ein Individuum, das diesen Akt aus strategischen Gründen zu vermeiden sucht, (geschehe dies nun einseitig, indem es so tut, als hätte es den andern nicht gesehen, oder beidseitig, indem beide so tun, als ob sie nicht in einem Grussverhältnis zueinander stünden) sich bewusst dazu zwingen muss, seine Neigung zu grüssen, zu unterdrücken.

Und wenn ein Bekannter eines Individuums unmittelbar vor diesem auftaucht und darauf besteht, gegrüsst zu werden, obwohl er vorsätzlich übersehen wurde, ist eine ziemlich grosse Charakterstärke notwendig, um ihn trotzdem konsequent nicht zu grüssen (Goffman 1974: 113/114).

Wenn individuelle Habitualisierungen als Interaktionsrituale in Anspruch genommen werden, hat dies zweierlei Konsequenzen:

1)  Die Verhaltensweisen werden teilweise oder ganz davon entlastet, als hinreichende Ursachen physischer Bewirkungen zu fungieren. Anstelle einer räumlichen Distanznahme kann eine blosse Abwendung des Blicks genügen, um einer unerwünschten Begegnung "aus dem Wege zu gehen"; und eine mit der Bitte um Nachsicht verbundene verbale Entschuldigung, nicht die effektive Heilung der versehentlich getretenen Zehe ist hinreichend, um das Interaktionsverhältnis zu reharmonisieren.

Deshalb wird es leichter möglich, als Medien ritueller Symbolisierungen völlig voraussetzungslose (weil an keine Kraftanstrengung oder Qualifikation gebundene) Verhaltensmuster zu wählen, die von jedermann jederzeit in identischer Weise aktualisierbar sind: ganz unabhängig von den variablen psychischen Dispositionen oder situativen Umweltbedingungen, in denen sich ein zur Reaktionshandlung evozierter Akteur gerade befindet.

2)  Die Ritualhandlungen stehen dafür umso stärker unter der Restriktion, dass nicht nur ihre Produktion ("Enkodierung"), sondern auch ihre Rezeption ("Dekodierung") den Bedingungen voraussetzungsfrei-universeller Zugänglichkeit, zeitlicher Unmittelbarkeit und beliebig häufiger, präziser Wiederholbarkeit genügt. Dementsprechend schrumpft die Sphäre geeigneter Verhaltensweisen auf den relativ begrenzten Kreis besonders prägnanter, aus dem (akustischen oder visuellen) Wahrnehmungsfeld durch klare Gestalt profilierter körperlicher Ausdruckskundgaben (Kopfnicken, Händeschütteln) oder Verbalformen zusammen, die auch von sehr verschiedenartig vorsozialisierten, ja selbst sensorisch behinderten Rezipienten auf identische Weise wahrgenommen und gedeutet werden können und auch keine besondere Fokussierung der Aufmerksamkeit erforderlich zu machen.

Zumindest im Bereich nonverbaler, gestischer Ausdruckskundgaben ist das Repertoire an dafür geeigneten motorischen Ablaufmustern derart gering, dass sich in praktisch allen Kulturen dieselben rituellen Verhaltensweisen finden: ohne dass es zur Erklärung derartiger Konvergenzen notwendig wäre, biologisch fundierte anthropologische Invarianzen zu postulieren (vgl. Morris/Collett/Marsh/Shaughnessy 1979; Kendon 1983: 35).
 

Komplementär zu den übrigen Formen verhaltensmässiger Disziplinierung machen habitualisierte Rituale eine Basisebene kollokaler Systemregulation verfügbar: charakterisiert durch vier Funktionsleistungen, die nicht durch die "höheren" Niveaus intentionalen Handelns und Kommunizierens substituierbar sind.

1)  Sie sind permanent aktualisierbar, ohne dass zu ihrer Aktualisierung Zeit (für Situationsbeurteilungen, Entscheidungen, Ausführungsplanungen) u.a. aufgewendet werden müsste. Deshalb sind sie unentbehrlich, um den ununterbrochenen Fluss wechselseitiger Kommunikationen und Kooperationen aufrechtzuerhalten, aus denen Kollokalsysteme ihre charakteristische prozessuale Fluidität (vgl. 4.3) gewinnen.

2)  Sie sind ubiquitär verfügbar, ohne dass hinsichtlich der Merkmale der Anwesenden oder der Bedingungen ihrer äusseren Situation besondere Voraussetzungen notwendig wären. Deshalb sind sie dafür mitverantwortlich, dass die zeitlich-räumliche Kopräsenz mehrerer Personen fast unvermeidlicherweise zur Initiierung sozialer Beziehungen führt (vgl. 3.2).

3)  Dank der "Robustheit" der verwendeten Enkodierungs- und Dekodierungsverfahren und der äussersten Standardisiertheit ihrer Symbolgehalte konstituieren sie die zuverlässigste und erwartungssicherste Ebene intersubjektiver Verständigung, die es gibt. So dienen Akte der Begrüssung der "Einklammerung von Zeitphasen erhöhter wechselseitiger Zugänglichkeit" (Goffman 1974: 116ff.): weil durch ihren Vollzug eine völlig zweifelsfreie Verständigung darüber geschaffen wird, dass jetzt gerade eine Situation wechselseitiger Zuwendung und Kommunikationserwartung besteht (die durch einen ebenso unmissverständlichen Akt des Abschiednehmens einen ähnlich prägnanten Abschluss findet).

So konstituieren Interaktionsrituale (ähnlich wie formale Regeln bei Organisationen) eine Art "Ausgangsplattform", von der dann die problematischeren, weniger erfolgssicheren sozialen Kommunikationen anspruchsvollerer Natur ihren Ausgang nehmen können.

4)  Sie ermöglichen es, die für die kollokale Systemregulation nötigen Verhaltensdisziplinierungen auf einen residualen "Nebenschauplatz" abzudrängen: d.h. auf Prozesse, die praktisch keine Aufmerksamkeitsleistungen oder Handlungsressourcen beanspruchen und deshalb den Fortgang der viel wichtigeren thematischen Interaktion (z.B. die Durchführung eines Gesprächs oder die kooperative Erzeugung eines Produktes) nur wenig behelligen. Hingemurmelte "sorries", um Verzeihung heischende Blicke oder entlastende Scherzworte können ganz beiläufig eingestreut werden, um soeben erfolgte Störereignisse zu neutralisieren, oder um im voraus sicherzustellen, dass intendierte Normverstösse oder sonstige Irritationen klaglos hingenommen werden.

Wenn es einerseits zutrifft, dass Kollokalsysteme dank ihrer interaktionellen Fluidität zu besonderen Flexibilitäts- und Innovationsleistungen befähigt sind (vgl. 4.3), so ist es andererseits ebenso zutreffend, dass Sozialsysteme mit derartigen Eigenschaften paradoxerweise auf ganz besonders rigiden und irreversibel verfestigten Strukturprinzipien und Funktionsweisen beruhen.

Ähnlich wie es gelingt, die revolutionärsten mathematischen Theorien oder philosophischen Argumentationen mit sehr einfachen technischen Mitteln (Papier und Bleistift) zu verfertigen, werden die innovativsten Leistungen in Politik, Kunst, Wissenschaft etc. von informellen Kollokalgruppen (z.B. Entscheidungsgremien, Diskussionszirkeln, Forscherteams u.a.) erzeugt, in denen archaische rituelle Verhaltensweisen und atavistische Formen nonverbaler Kommunikation grösste funktionale Bedeutung haben.

Sie beruhen auf universell verbreiteten, selbst von "asozialen" Menschen mit erstaunlicher Virtuosität beherrschten Verhaltens- und Interpretationsregeln, die in unbeeinflussbaren, teilweise nicht einmal identifizierbaren Sozialisationsprozessen zuverlässig übermittelt werden (vgl. Goffman 1974: 9ff.), und die jene fundamentalste generative Konstitutionssphäre aller sozialen Erscheinungen bilden, um deren Erhellung sich Soziologen (bzw. Ethnomethodologen) erst in jüngerer Zeit ernsthaft bemühen.
 
 

5. Aussegregation von "Vorderbühnen" und "Hinterbühnen"

In dem Masse, wie sich ein Sozialsystem nach seiner eigenen Logik entfaltet und seinen Teilnehmern eine an seinen eigenen Integrationsbedürfnissen und Leistungimperativen orientierte Verhaltensdisziplin aufzwingt, wird es in ein gewisses Spannungsverhältnis zu
  1. den andern sozialen Einbindungen
  2. den psychischen und physiologischen Systemregulationen und Bedürfnissen
seiner individuellen Mitglieder geraten.

Entsprechend sehen sich insbesondere die an Kriterien zweckrationaler Effektivität und Effizienz orientierten Kollektive (z.B. Betriebsorganisationen) gezwungen, sich im vornherein auf ein (in zeitlicher und sachlicher Hinsicht) streng partialisiertes Engagement ihrer Mitglieder zu beschränken und ihnen als Kompensation für diese "Dienstloyalität" zu einer besseren Entfaltung ihrer ausserorganisationellen Entfaltungschancen (vor allem durch finanzielle Entschädigungen) zu verhelfen.

Insofern eine Organisation unselektiv verschiedenste Lebensbezüge eines Individuums einbegreift und sich dem Idealtypus der "totalen Institution" annähert, bekundet sie regelmässig grosse Mühe, ihre formalen Regeln gegen die allerorts wuchernden Praktiken "informeller Organisation" und "devianter Subkulturen" durchzusetzen (vgl. z.B. Goffman 1973: passim; Lang 1965; Berk 1966 u.a.)

Auch für kollokale Interaktionsfelder gilt das Dilemma, dass eine wachsende Binnendisziplinierung des Teilnehmerverhaltens eine schärfere Abgrenzung des Sozialsystems gegenüber seiner Umwelt und seine striktere Limitierung auf bestimmte Zeiträume, Sachthemen oder Situationsbedingungen (bzw. auch eine selektivere Zusammensetzung der Mitglieder) erzwingt.

Die Aussegregation konstituiert sich dann auf die doppelte Weise, dass

  1. Kollokalfelder mit hohem Disziplinierungsniveau inselförmig separiert werden gegenüber Phasen und Situationen zwangloseren Zusammenseins, wo die übrigen sozialen Rollen und die psychisch-physischen Bedürfnisse der Mitglieder besser zur Geltung kommen;
  2. gegenüber dem Gesamtbereich kollokaler Interaktion eine "Privatsphäre" abgespalten wird, innerhalb der das Individuum - von Fremdwahrnehmungen geschützt - unbelastet von kommunikativen Implikationen und interaktiven Disziplinierungszwängen agiert.
Goffmans an der Metaphorik des Theaters orientierte Unterscheidung zwischen "frontstage" und "backstage" ist geeignet, diesen beiden Modi sozialer Systemdifferenzierung Rechnung zu tragen.

Die "frontstage" stellt einen meist sowohl in zeitlicher wie in sachlicher und sozio-struktureller Hinsicht scharf ausgegrenzten Situationsrahmen dar, innerhalb dem kollokale Interaktionsprozesse von überdurchschnittlich hoher Diszipliniertheit, Berechenbarkeit und Normentreue stattzufinden pflegen.

Die Limitierungen derartiger Sozialsysteme ergeben sich aus den allen Beteiligten abverlangten Anstrengungen, die notwendig sind, um den Interaktionsablauf vor den unkontrollierten und unvorhersehbaren Wechselwirkungen, die mit kollokalem Beisammensein unvermeidlich verknüpft sind, zu schützen und auf jenen streng geordneten Bahnen zu halten, die beispielsweise durch ein dramaturgisches Skript oder eine formell institutionalisierte Statusordnung vorgezeichnet sind.

Es sind vor allem drei Bedingungen, unter denen sich eine derartige Konstellation häufig ergibt:

1) Wenn eine Kollokalgruppe sich im Aufmerksamkeitsfokus eines Publikums befindet, das von ihr einen nach bestimmten Regeln ablaufenden und/oder in bestimmten Produktionsleistungen terminierenden kooperativen Interaktionsablauf (z.B. die Aufführung eines Theaterstücks, die Abhaltung einer Podiumsdiskussion, das Servieren einer Mahlzeit oder die Zelebration eines standardisierten Ritus) erwartet.

Vor allem bei unvertrautem und/oder unkontrolliert fluktuierendem Publikum (d.h. in öffentlichen Räumen) müssen die Akteuren davon ausgehen, dass das Bild, das sie den Zuschauern von ihrer Persönlichkeit und ihren Qualifikationen vermitteln, sich praktisch ausschliesslich aus den von ihnen vorgezeigten "Darstellungskünsten" ergibt: so dass sie unter dem doppelten Disziplinierungsdruck stehen, erstens zu einer erfreulichen Gesamtaufführung des "Ensembles" beizutragen und sich zweitens selbst dabei auf günstige Weise zu profilieren.

Die Spannungen und Widersprüche, die zwischen beiden Darstellungsrollen möglich sind, werden beispielsweise in manchen Mannschaftssportarten (Fussball, Handball u.a.) sichtbar, wo offensichtlich ist, dass die Siegeschancen eines Teams durch die Profilierungssucht ihrer einzelnen Mitglieder schwer beeinträchtigt werden können.(vgl. Cachey/Fritsch 1983)

Die sich korrelativ zu derartigen "Inszenierungen" konstituierenden Hinterbühnen haben dann die doppelte Funktion

  1. unbelastet von kritischen Fremdwahrnehmungen die prosaischen Vorbereitungen (Herrichtung der Kulissen, Kostümierung u.a.) und oft sogar peinlich wirkenden Erprobungen (von Gesangsstimmen, Mikrophonen u.a.) zu ermöglichen, die zur Gewährleistung eines tadellosen Publikumseindrucks und zur Sicherung eines planmässigen, fehlerfreien Aufführungsablaufs unerlässlich sind;
  2. nach dem anstrengenden "Bühnengeschehen" als ein kompensativer Entspannungs- und Erholungskontext zu dienen, wo es gelingt, aufgestaute physiologische und psychische Bedürfnisse sowie die in Latenz versetzten sozialen Beziehungsaspekte (z.B. geselliger oder sozio-emotionaler Natur) zu ihrem Recht kommen zu lassen.
Sicher sind auch die kollokalen Interaktionen "hinter der Bühne" nicht völlig von kommunikativen Darstellungszwängen befreit, und häufig genug kommt es vor, dass auch das dort aktualisierte Verhalten eine - wiederum anstrengende und vielleicht die Ausdifferenzierung einer sekundären "backstage" erfordernde - Stilisierung zur "theatralischen Pose" erfährt (Goffman 1983: 123)

Das "Disziplinierungsgefälle" gegenüber der Vorderbühne scheint zentral davon abzuhängen, dass die Mitglieder des Ensembles auf Grund wechselseitiger Vertrautheit bereits stabilisierte Typifikationen voneinander besitzen und deshalb davon dispensiert sind, auch ihr Verhalten untereinander als Medium des "Impression management" zu benutzen.

2) Wenn kollokale Interaktionssysteme von den Beteiligten als Vehikel benutzt werden, um institutionalisierte (bzw. gar formalisierte) Strukturverhältnisse oder Prozessabläufe zu aktualisieren.

Ein unaufhebbares Dilemma besteht darin, dass

  • einerseits immer das Medium kollokaler Interaktion vonnöten ist, um institutionell fixierten Statusordnungen (z.B. zwischen Lehrern und Schülern, Soldaten und Offizieren) Realitätsgehalt zu verleihen oder um vorprogrammierte Prozessabläufe (z.B. Gerichtsverfahren oder organisatorische Produktionsvorgänge) in statuum operandi überzuführen;
  • diese selben Kollokalfelder aber mannigfache Gefahren der Relativierung und Erosion derartiger Schemata in sich tragen: Risiken, die nur im limitierten Rahmen einer disziplinierten "Vorderbühne" unter Kontrolle gehalten werden können.
Das Durchhalten vorgezeichneter Statusordnungen, Rollenspezialisierungen oder Verhaltenskoordinationen erweist sich deshalb als schwierig, weil den hohen Differenzierungen individueller Identitäten und Verhaltensweisen meist keine ähnlich grossen faktischen Unterschiede persönlicher Motivationen oder Qualifikationen entsprechen, und weil die ex ante stabilisierten Schemata unvermeidlicherweise durch "informelle", aus der Eigendynamik interpersoneller Wahrnehmungen und Kommunikationen hervorgehende Muster überlagert werden.

Systematisch bereitgestellte Nischen für Informalität (in der Form von Pausen, geselligen Mahlzeiten, Betriebsausflügen u.a.) geben dann Gelegenheit, jene Gleichartigkeiten (bzw. ganz andersartigen, z.B. auf Persönlichkeitsmerkmalen beruhenden Differenziertheiten) zwischen den Mitgliedern zur Geltung kommen zu lassen, die in der institutionellen Vorderbühnensituation latent gehalten werden müssen. Soll aber "der Schein gewahrt werden", bleibt den Angehörigen verschiedener Statuskategorien oft nicht anderes, als sich auf separate Hinterbühnen zurückzuziehen - und dort ohne kompromittierende Fremdwahrnehmung einander ähnlich zu werden:

"Wenn die Schüler das Klassenzimmer verlassen und der Vertraulichkeit und dem schlechten Benehmen freien Lauf lassen, merken sie oft nicht, dass sich ihre Lehrer ins Lehrerzimmer zurückgezogen haben, um auf ihrer Hinterbühne sich ganz ähnlich zu verhalten, zu fluchen und zu rauchen." (Goffman 1983: 121)

Ebenso muss sich das Servierpersonal eines Restaurants meist in die Küche zurückziehen, um seinen Bedürfnissen nach Speise, Trank und geselliger Konversation, die denen der zu bedienenden Gäste völlig vergleichbar sind, zur Befriedigung zu verhelfen.

3) Wenn Individuen der Kontrolle ihrer Verhaltensweisen und Ausdruckskundgaben besonders hohe Beachtung schenken müssen, weil ihre kollokalen Partner geneigt sind, solche Äusserungen dispositional zu attribuieren und ihr Urteil über die Persönlichkeit des Akteurs (seine Charaktermerkmale, Qualifikationen, Interessen u.a.) daran festzumachen.

Diese Konstellation kommt besonders häufig bei jenen Individuen vor, denen man auf Grund ihrer hohen Statusposition oder aus anderen Gründen die Möglichkeit zuschreibt, autonom zu entscheiden und zu handeln: so dass es unausweichlich wird, die Art ihrer Beschlüsse oder Verhaltensweisen ihrer Person (anstatt den von ihnen nicht zu verantwortenden Situationsbedingungen) zuzurechnen.

Daraus ergibt sich das bisher selten beachtete Paradoxon, dass soziale Akteure jeden Zuwachs an äusserlicher Handlungsautonomie damit bezahlen, dass sie mehr Verhaltensdisziplin aufwenden müssen, um keine ihnen missliebigen oder schädlichen Fremdbeurteilungen zu evozieren.

Diese Problematik wird allerdings in dem Masse abgeschwächt, als diese selben Personen

  • auf Grund ihrer sozialen Macht- und Autonomieposition es sich eher leisten können, sich um die Meinung, die andere, niedriger Gestellte von ihnen haben, zu foutieren;
  • anderen erfolgreich suggerieren, dass ihr Verhalten situationsbedingt (z.B. durch die "Gesetzeslage" oder die "geschäftliche Konkurrenzsituation determiniert) sei und deshalb nicht als Ausdruck ihrer Person gewertet werden dürfe.
Dennoch scheint es zutreffend, dass hochrangige Personen - schon weil sie auf Grund ihrer Statusprominenz viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen - besonders häufig rein dispositionale Verhaltenszurechnungen erfahren und infolge der damit verknüpften Disziplinierungszwänge auch eine umfangreichere "Backstage" benötigen (vgl. Meyrowitz 1985).

So mag es nicht nur auf Gründe der Statusrepräsentation zurückzuführen sein, dass hochrangige Personen normalerweise stärker auf einer umfangreichen und gut abgeschirmten Privatsphäre (z.B. in der Form von doppeltürig gesicherten Büroräumen, alleinstehenden Villen oder von Einzelbettzimmern in Hotels oder Kliniken) insistieren. Vielmehr mag auch der sachlichere Wunsch mitspielen, sowohl zur Vorbereitung ihrer "Auftritte" wie auch zur persönlichen Entspannung genügend Raum und Zeit für kommunikativ unbelastetes, privates Verhalten verfügbar zu haben.

Weitere Voraussetzungen für diese dritte Art von Disziplinierungsdruck bestehen darin, dass

  1. aktuale Verhaltensäusserungen tatsächlich dazu benutzt werden, um Personen zu beurteilen und zu typifizieren: z.B. weil ALTER keine anderen (z.B. aus früheren Begegnungen stammende oder aus der objektiven Positionsrolle hergeleitete) Kriterien zur Verfügung hat, um sich über EGO ein Bild zu machen;
  2. ALTER's Beurteilung für EGO besonders wichtig ist, weil bedeutsame Konsequenzen (z.B. die Zuweisung einer Stelle, die Gewährung von Geldkrediten oder die Vergabe eines lukrativen Geschäftsauftrags) davon abhängen können.
Daraus ergibt sich beispielsweise, dass sich Angehörige mobiler bürgerlicher Eliten unter weit umfassenderen Disziplinierungszwängen als etwa die Mitglieder des Feudaladels befinden, weil sie
  1. ihren Status nicht im Sinne einer zugeschriebenen genealogischen Qualifikation (und auch nicht als einen vom Monarchen verliehenen Amtstitel) sichtbar und unangreifbar mit sich tragen, sondern gezwungen sind, ihn unter Einsatz all ihrer persönlichen Fähigkeiten (worunter auch verschiedenste Fertigkeiten des "impression management" gehören) ad personam zu erwerben und durch ständig neue Anstrengungen aufrechtzuerhalten;
  2. dank ihrer räumlichen und sozialen Mobilität sehr häufig mit neuen, noch unvertrauten Partnern in (meist spezifische und transitorische) Beziehungen treten, bei denen es darauf ankommt, gerade jetzt durch kontrolliertes Benehmen, sorgfältige Wortwahl und tadellose äussere Erscheinung einen vorteilhaften Eindruck zu erwecken.
Wiederum erweist sich hier das Dilemma, dass gesteigerte Handlungsfreiheiten ein Anwachsen individueller Selbstdisziplinierungszwänge nach sich ziehen. Denn in dem Masse, wie ich autonom immer wieder neue Interaktionspartner wähle, häufen sich die kritischen Initialstadien sozialer Beziehungen, in denen es darauf ankommt, durch diszipliniertes Verhalten einen günstigen "ersten Eindruck" zu erwecken, der das Bild, das sich der Partner von mir macht, und seine Entscheidung, ob und wie er weiter mit mir umgeht, grundlegend determiniert.

So ist es gut verständlich, warum das Aufkommen des Bürgertums eng mit einer Ausweitung und schärferen Ausdifferenzierung der Privatsphäre korreliert, und warum sich Wohnungseinrichtungen mit einer ausgeprägten Differenzierung zwischen "frontstage" (Wohnzimmer) und "backstage" (Küche, Schlafzimmer) vor allem in Mittelschichtmilieus finden, in denen es üblich ist, gegenüber variablen Freunden und Bekannten das Ritual der "Gastlichkeit" zu zelebrieren (vgl. Goffman 1983: 112).

Private Refugien, in denen man mit sich selbst und den vertrautesten Familienangehörigen allein ist, können als "institutionalisierte Hinterbühnen" betrachtet werden, die Gelegenheit bieten, sich unbelastet von kommunikativen Darstellungszwängen auf die anstrengenden täglichen "Vorderbühnenauftritte" vorzubereiten und sich von ihren Mühseligkeiten zu erholen.


Inhalt


Prof. Hans Geser
Email: hans@geser.net.      
URL: http://www.geser.net/