Ein theoretischer Integrationsversuch
(29 Dezember 1996)
FÜNFTES KAPITEL:
PRINZIPIEN DER STRUKTURBILDUNG UND SOZIALEN
GESAMTORDNUNG KOLLOKALER SYSTEME
5.5. Strategien der Verhaltensdisziplinierung
I
Die beiden bisher diskutierten Mechanismen der "Soziofugalität"
und der "Desensibilisierung" haben miteinander gemeinsam, dass
die kollokalen Partner relativ stark davon entlastet werden, ihre
Verhaltensemissionen unter dem Gesichtspunkt, wie sie auf andere (kausal
oder symbolisch) einwirken, zu spezifizieren und zu restringieren.
Zwar beruhen auch soziofugale Ordnungen in dem Masse auf
"Disziplin", als die Teilnehmer es bewusst (und vielleicht unter
Hintanstellung dringender eigener Bedürfnisse) vermeiden, sich Anderen
allzu stark anzunähern oder gar deren physische Box-Strukturen
(geschlossene Türen u.a.) zu penetrieren, mit denen diese sich vor
Fremdwahrnehmungen schützen.
Aber der Disziplinbedarf ist insgesamt doch relativ gering, weil es
sich bei solchen Vermeidungen um generalisierte Unterlassungen handelt,
die im Unterschied zu Aktivhandlungen keiner spezifischen Motivation oder
Qualifikation bedürfen, sondern von den verschiedensten Individuen in
verschiedensten Situationen auf dieselbe Weise "ausgeführt"
werden können (vgl. Geser 1986b).
Die unübertreffliche Ubiquität und Funktionssicherheit soziofugaler
Ordnungen beruht eben darauf, dass es zu ihrer Konstitution hinreichend
ist, permanent derartige "Nichtereignisse" (Nichtkollisionen,
Nichtperzeptionen, Nichtverletzungen u.a.) zu "produzieren":
wobei man durchaus im Ungewissen bleiben kann, ob und inwiefern es
intentionale Unterlassungshandlungen oder objektive Situationsbedingungen
sind, die zu derartigen Nichtereignissen führen.
Im Vergleich dazu sind "Toleranzordnungen", die auf
Insensibilität gegenüber wahrnehmbarem Fremdverhalten beruhen, auf
ungleich höhere Disziplinierungsleistungen angewiesen: z.B. wenn
beträchtliche Selbstbeherrschung notwendig ist, um den penetranten
Körpergeruch seines Sitznachbars auszuhalten oder beleidigende
Unterstellungen mit stoischem Gleichmut zu "überhören".
Obwohl derartige "Nicht-Reaktionen" wohl viel häufiger als
soziofugale "Nicht-Penetrationen" den Charakter intentionaler
Handlungen besitzen, so tragen sie doch ebenfalls den Charakter
unspezifischer Unterlassungen, die keine besonderen Fähigkeiten oder
Kenntnisse erfordern, einer Vielzahl verschiedenster Motive entspringen
und auch auf ganz andere Weise als durch Handlungen zustandekommen
können.
Wer eine Beleidigung "überhört", mag dies - wie die
gebräuchliche Zweideutigkeit dieses Verbums bereits zum Ausdruck bringt -
genauso aus blosser Unaufmerksamkeit tun, und wer sich blind, taub,
alkoholisiert oder sonstwie anaesthesiert in Gesellschaft begibt oder sich
dort einer absorbierenden Nebentätigkeit hingibt, kann dort als
"Interdependenzunterbrecher" für konfliktträchtige kollokale
Interaktionskreisläufe wirksam sein, ohne sich auf anspruchsvolle
Charaktereigenschaften wie "Toleranz" oder "höfliche
Zurückhaltung" abstützen zu müssen.
Für die nachfolgend diskutierten Strategien der
Verhaltensdisziplinierung ist nun im Gegensatz dazu charakteristisch, dass
die kollokalen Partner
- einander permanent ihre Aufmerksamkeit zuwenden und eine
generalisierte Ansprechbarkeit und Reagibilität zueinander
aufrechterhalten;
- wegen dieses Verzichts auf Ausweichstrategien sich selber unter
Druck setzen, praktisch alle ihre spezifischen Verhaltensäusserungen
im Hinblick darauf zu steuern, wie sie von den Interaktionspartnern
wahrgenommen und interpretiert werden, und welche Wirkung sie auf das
kollokale Interaktionssystem als Ganzes haben.
Im Vergleich zu den übrigen beiden Systemformen sind kollokale
"Disziplinordnungen"
- weniger ubiquitär: weil anspruchsvolle Voraussetzungen
motivationaler und qualifikatorischer Art gefordert sind, die nicht
überall erwartet werden können;
- weniger stabil und zuverlässig: weil Individuen sowohl wegen ihrer
physischen und psychischen Kontingenzen wie auch infolge ihrer
übrigen sozialen Engagements nicht permanent willens und/oder in der
Lage sind, die erforderlichen Leistungen an Aufmerksamkeit, taktischem
Geschick, konformer Adaptation etc. zu erbringen.
Allerdings ist auch die Sphäre der Disziplinierungsstrategien in eine
Mehrzahl konzentrisch ineinander gelagerter Kreise von
Regulationsmechanismen gegliedert, die sich hinsichtlich des Grades der
erforderlichen Handlungsspezifikation und kommunikativen Akkordierung
stark voneinander unterscheiden.
An der äusseren Peripherie befinden sich jene der Soziofugalität und
Desensibilisierung noch stark ähnelnden (und entsprechend relativ
voraussetzungslos verfügbaren)Formen der Disziplinierung, die der
Vermeidung störender Verhaltensemissionen (also wiederum der Erzeugung
von "Unterlassungen", bzw. "Nichtereignissen") dienen:
z.B. wenn eng zusammengepferchte Theaterzuschauer unbeweglich
sitzenbleiben und mit Niesen, Schneuzen oder Husten an sich halten; oder
wenn das Organisationsprinzip der "Warteschlange" es erfordert,
dass die Schalterkunden in der Reihenfolge ihres Eintreffens stehen
bleiben.
Derartige "generalisierte Passivierungen" haben den Vorteil,
von Individuen unterschiedlichster Merkmale unter einem relativ breiten
Spektrum situativer Bedingungen praktizierbar sowie bei Verstössen
relativ leicht sanktionierbar zu sein: weil es nur darum geht, ein
missliebiges Aktivverhalten zu inhibieren anstatt ein erwünschtes
Verhalten zu evozieren. Sie bleiben deshalb häufig die einzige
Alternative, wenn - etwa auf öffentlichen Plätzen - Individuen sehr
heterogener und unvorhersehbar wechselnder Art in besonders dichte und
länger dauernde kollokale Verhältnisse treten. Ihr schwerwiegender
Nachteil besteht aber darin, dass mit der pauschalen Inhibierung allen
Aktivverhaltens auch alle Möglichkeiten produktiven Handelns und
kooperativen Interagierens zum Erliegen kommen: so dass z.B. ein
ausschliesslich durch gemeinsames Schweigen und Ruhigsitzen
zusammengehaltenes Kinopublikum bei plötzlichem Brandfall kaum in der
Lage ist, die zur geordneten Räumung des Saales nötigen
Minimalkommunikationen stattfinden zu lassen, und die horizontalen Hilfe-
und Solidaritätsbeziehungen in Grundschulklassen schwach entwickelt
bleiben, wenn man den Schülern jegliche Art von "Tuscheln",
"Blickewechseln" u.a. verbietet.
Die zweite, aber bereits voraussetzungsreichere und unzuverlässigere
Alternative besteht darin, bei den Anwesenden ein - meist relativ simples
- Aktivverhalten zu evozieren, es aber gleichzeitig in jene Formen
stereotyper Nivellierung und routinehaft-rhythmischer Wiederholung zu
kanalisieren, wie sie z.B. für den militärischen Taktschritt, das
Klatschen von Beifall oder für die skandierte Sprechchöre aufgebrachter
Demonstranten charakteristisch sind.
Damit gelingt es offensichtlich, alle Beteiligten in einen Zustand
aktiven Handelns zu versetzen, ohne den Zusammenhalt des kollokalen Feldes
zu gefährden oder Symptome interner Desorganisation und
interindividueller Erwartungsunsicherheit in Kauf nehmen zu müssen.
Die notwendige Voraussetzung dafür ist aber
- dass jeder genau dasselbe tut: so dass jeder in seiner
unmittelbaren Nähe einige andere Personen als Orientierungsmodelle
verfügbar hat, die ihm das erforderliche Verhalten präzise
vordemonstrieren (= soziale Nivellierung);
- dass jeder hintereinander oftmals dasselbe tut: so dass er die
Möglichkeit hat, seine bisherigen Handlungen als Modell für
zukünftige zu verwenden und dadurch selbstreferentiell einen
bestimmten Verhaltensmodus über die Zeit hinweg zu stabilisieren (=
individuelle Habitualisierung);
- dass unabhängig von der Spezifität der Situation und Zielsetzungen
nur auf jenes begrenzte Inventar von Verhaltensweisen zugegriffen
wird, die dank ihrer Simplizität oder vielseitigen übrigen Einübung
von allen Beteiligten ohne besondere Qualifikationen auf hinreichend
gleichartige Weise ausgeführt werden können (= interpersonelle
Standardisierung).
Nur bei hinreichender Selektivität und/oder Vorsozialisierung der
Teilnehmerschaft wird es dann möglich, durch geeignete autoritative
Signalisierungen
- im Zeitablauf diskontinuierlich von einem zu einem andern
Verhaltensschema überzuwechseln (z.B. beim militärischen Drill);
- das aktualisierte Schema zu einem komplexen Programm sequentieller
Teilschritte zu erweitern und bei diesem Prozess verschiedenen
Teilnehmergruppen unterschiedliche Rollen zuzuteilen (z.B. in Chören,
Orchestern, Ballett- oder Artistengruppen).
Als ungleich viel interessanter erweisen sich nun aber drittens jene viel
voraussetzungs-, variations- und risikoreicheren Formen der
Disziplinierung, die mit hochdifferenzierten Prozessen kollokaler
Kommunikation, Koordination und Kooperation vereinbar sind, und die
deshalb so gebaut sein müssen, dass sie entweder
- in die Konkretisierung des spezifischen Verhaltens
konstitutiv eingehen (z.B. indem man auf zivilisierte Weise Krebse
isst, seine Nase putzt oder seinen Gefühlsregungen Ausdruck gibt),
oder
- neben dem übrigen Verhalten zum Zwecke der Spannungsminderung,
Konfliktvermeidung u.a. herlaufen: z.B. wenn man in dem Blick, der den
verbalen Tadel begleitet, die Bereitschaft zum Verzeihen und Vergessen
ablesen kann, oder wenn der Zahnarzt seinen rein instrumental
begründeten schmerzhaften Eingriff mit begütigend-tröstendem
Zureden flankiert,
oder schliesslich
- als selbständige Handlungen in den Interaktionsablauf eingefügt
werden können: z.B. als Akte der Entschuldigung, mit denen man
schädliche interpersonelle Folgen eines Missgeschicks repariert, oder
als scherzhafte Zwischenbemerkungen, mit denen man einen Zustand
akkumulierter Spannung und Unsicherheit beendet (vgl. z.B. Goffman
1974: 138ff.)
In dieser innersten Sphäre, wo die mit dem konkreten Interagieren und
Kommunizieren am engsten verflochtenen, teilweise gar unauflöslich mit
ihm fusionierten Mechanismen der Disziplinierung angesiedelt sind, lassen
sich wiederum zwei konzentrische Teilsphären unterscheiden:
Erstens gibt es die noch relativ gut standardisierbare, teilweise gar
hoch ritualisierte Form des regelkonformen Verhaltens, das erwartbar
macht, wer sich bei welcher Gelegenheit wie verhält: Wenn zwei Autos
gleichzeitig die Kreuzung erreichen, dann darf das von rechts kommende mit
Vortritt rechnen; wenn ich Geschäftsfreunde zu einer Wochenendparty
einlade, werden sie in gediegener Festtagskleidung erscheinen; wenn ein
Teilnehmer in der Diskussionsrunde von einem Hustenanfall überwältigt
wird, wird er aus Rücksicht auf die andern temporär den Raum verlassen
etc. etc.
Derartige Konditionalisierungen haben die doppelte Funktion, einerseits
gewisse soziale Verhältnisse über Wandlungen in der Umweltsituation
hinweg invariant zu halten (z.B. wenn der Hustende den Raum verlässt, um
den weiteren ungestörten Fortgang der Kino- oder Opernvorstellung zu
ermöglichen), und andererseits besser voraussagen zu können, wie soziale
Verhältnisse mit sich wandelnden Situationsbedingungen kovariieren (z.B.
wenn man damit rechnen kann, im "Esplanade" nur festlich
angezogene und im "Weissen Kreuz" nur nachlässig gekleidete
Restaurantgäste zu finden).
Zweitens gibt es den schwer überblickbaren Residualbereich jener durch
keine spezifischen Normen konditionalisierten verhaltensmässigen
Disziplinierungsleistungen, zu deren Ausübung diffus umschreibbare,
subtile Charaktereigenschaften wie etwa "Menschenkenntnis",
"Vermittlungsfähigkeit" oder "Fingerspitzengefühl"
für unabdingbar gehalten werden.
Ihr Einsatzfeld erstreckt sich insbesondere auf jene singulären (oder
sich jedenfalls nie identisch wiederholenden) interaktiven
Konstellationen, die gleichzeitig bedeutsam genug sind, um - wie z.B. im
Falle von Verhandlungsprozessen, oder Vorstellungsgesprächen - die
Beteiligten zu einem überdurchschnittlichen Einsatz an Aufmerksamkeit,
Vorsicht, Rücksicht, strategischem Geschick und Einfühlung zu
motivieren.
Zwischen diesen beiden Sphären liegt eine weite Mischzone
semi-standardisierter Verhaltensregulationen, die relativ generalisierte,
aber dennoch gut sozialisierbare Qualifikationen wie z.B.
"Höflichkeit", "Taktgefühl" oder "Zuvorkommenheit"
erfordern und vor allem im Bereich korrektiv-restitutiver
Disziplinhandlungen (Entschuldigungen, Verzeihungen, Wiedergutmachungen,
Beschwichtigungen etc. ) eine grosse Bedeutung entfalten.
II
Die immense funktionale Bedeutung von Verhaltensdisziplinierungen
ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass Strategien der
Desensibilisierung weitgehend ungeeignet sind, wenn es gilt
- zahlreiche Menschen auf sehr engen Räumen zu konzentrieren und
solche Verdichtungen ohne Symptome psychischer Frustration und/oder
sozialer Desorganisation über längere Zeit aufrechtzuerhalten (1),
- im kollokalen Feld nicht bloss Verhältnisse ungestörter Koexistenz
und negativer Abgrenzung, sondern Beziehungen aufmerksamer
interpersoneller Zuwendung und positiver Kooperation zu realisieren
(2).
ad 1:
Die für Desensibilisierung unabdingbare Voraussetzung, die Rezeption
irritierender Reize selektiv steuern und intentional herabmindern zu
können, ist nur für den Gesichtssinn hinreichend erfüllt. So leicht man
sich - vor allem wenn das Gegenüber nicht zu nahe ist und deshalb nur
einen Teil des Gesichtsfeldes ausfüllt - durch blosse Blickabwendung von
visuellen Immissionen "schützen" kann, so aussichtslos
erscheint es, sich auf analoge Weise auch gegen akustische, olfaktorische
oder gar taktile und schmerzerregende Wahrnehmungen zu anaesthesieren. Da
menschliche Ohren, Nasen und Hautflächen im Gegensatz zu den Augen über
keinerlei Fähigkeiten zu aktivem Verhalten verfügen, bleibt dem
Rezipienten höchstens die Möglichkeit, die unvermeidlichen sensorischen
Reize bei ihrer intraneuralen Transmission ins Bewusstseinszentrum zu
inhibieren, d.h. ihnen - z.B. durch umso intensivere Hinwendung zu anderen
Stimuli - möglichst wenig Aufmerksamkeit und Bedeutung beizumessen. Mit
wachsender Intensität der Immissionen nehmen auch diese Spielräume
intentionaler Erlebensmanipulation ab, und vor allem intensive
Schmerzwahrnehmungen pflegen sich starr und alternativenlos in korrelative
Erlebensinhalte zu übersetzen und die Zuwendung voller Aufmerksamkeit zu
erzwingen (vgl. Waldenfels 1980: 106ff.)
Je näher nun Menschen zusammenrücken, desto stärker pflegt sich der
Schwerpunkt ihrer interpersonellen Wahrnehmung vom Gesichtssinn auf jene
für den näheren Umkreis zuständigen Sinnesorgane zu verschieben, die
weniger "rezeptive Autonomie" zulassen. Und bei dichtem
Gedränge pflegt jenes vielbeschriebene Unbehagen der Beengtheit ("crowding")
zu entstehen, das der Furcht entspringt. Fremdimmissionen taktiler,
schmerzhafter oder gar physisch-verletzender Art hilflos aufgeliefert zu
sein: also jenen Reizen, die ausschliesslich auf Null-Distanz wirken und
ihrem Rezipienten die allergeringsten Spielräume intentionaler
Erlebensvariation gewähren (vgl. Middlebrook 1980:470)
Über derartige physiologisch fixierte Basisparameter hinaus werden die
interpersonellen Sensibilitäten unter folgenden Bedingungen noch
beträchtlich erhöht:
- wenn die einzelnen Teilnehmer Tätigkeiten verrichten, die
aus sachlichen Gründen eine Absenz bestimmter Immissionen (z.B. einen
niedrigen Lärmpegel oder einen ungehinderten Bewegungsspielraum für
die Gliedmassen) erfordern (vgl. z.B. Euler 1977);
- wenn die Teilnehmer auf Grund ihrer Normen, Ziele, Wertvorstellungen
oder Geschmacksrichtungen spezifische sensorische Empfindlichkeiten
aufrechterhalten: z.B. wenn sie die leiseste Andeutung von verrauchter
Luft abscheulich finden oder sich am Strand über Nacktbadende - über
die sich so leicht hinwegschauen liesse - entrüsten;
- wenn Individuen auf Grund ihrer statusmässig oder sonstwie
abgestützten Ansprüche auf einer immissionsfreien Umwelt (z.B. auf
einer "ruhigen Wohnlage" oder auf Flugzeugsitze mit
genügend seitlichem Bewegungsspielraum) insistieren und die
Erwartung, dass sie sich selbst durch Aufbietung von Toleranz und
Duldsamkeit anpassen müssten, als inakzeptable Zumutung empfinden.
Manche Forschungsergebnisse legen beispielsweise den Schluss nahe, dass
Männer in solchen Hinsichten mehr Ansprüche als Frauen stellen. So
pflegen sie an Badestränden untereinander grössere Liegedistanzen
aufrechtzuerhalten (Edny/Jordan-Edny) 1974) und auf beengtes Zusammensein
in kleinen Räumen mit mehr Unbehagen und Stresssymptomen zu reagieren (Freedman
1975).
Ebenfalls scheinen mit steigendem sozialen Statusniveau regelmässig
höhere Intoleranzen gegenüber Einengungen des Bewegungsraums und dessen
Penetration durch andere Personen einherzugehen, wobei der symbolische
Prestigewert schallisolierender Doppeltüren oder abgeschirmter
Einzelbettzimmer zusätzlich dazu beitragen kann, derartige
Differenzierungen zu intensivieren (vgl. Goffman 1974: 54ff.).
ad 2:
Desensibilisierungsmechanismen sind mit allen anspruchsvolleren
Ausformungen interpersoneller Zuwendung, Kommunikation und Kooperation
grundsätzlich unvereinbar, weil sensorische Unempfindlichkeiten immer
einen generalisierten Charakter haben und sich deshalb gleichermassen auf
erwünschte Austausch- oder Kooperationsbeziehungen wie auf unerwünschte
Irritationen erstrecken.
Wer immer bestrebt ist, durch Abwendung der Blickrichtung, Vertiefung
in automanipulative Tätigkeiten, alkoholische Anaesthesierung oder
irgendeine andere Weise aus dem interpersonellen Wahrnehmungsfeld zu
"emigrieren"
- immunisiert sich im objektiven Sinne auch gegenüber allen
konstruktiveren sozialen Stimuli, wie sie für die Erweiterung von
Personenkenntnissen, für die Exploration von Konsenschancen, die
Generierung von Sympathiegefühlen, die Ingangsetzung koordinierter
Handlungen und in vielen anderen "prosozialen" Hinsichten
unentbehrlich sind;
- gibt vermittelst dieser selben Handlungen anderen demonstrativ zu
erkennen, dass er indisponiert und/oder unwillig ist, irgendwelche
Verhaltens- und Sprechäusserungen anderer zu rezipieren und selber
darauf zu reagieren.
Und umgekehrt gilt: wo immer kollokale Personen einander aus irgendwelchen
Motiven Aufmerksamkeit zuwenden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als
sich damit auch gegenüber beliebigen, unvorhersehbaren Störungsreizen
(von unkontrollierten Körpergeräuschen wie Räuspern und Rülpsen bis zu
voll beabsichtigten Invektiven) sensibilisiert zu halten.
Vor allem wenn kollokale Interaktionspartner einander als eifrige
Konkurrenten, argwöhnische Verhandlungspartner, missgünstige Rivalen
oder gar als bedrohliche Feinde gegenüberstehen, sehen sie sich in einer
schmerzhaften, unaufhebbaren Situation des "double bind"
gefangen: indem sie einerseits dauernd hoch motiviert sind, einander
intensiv im Auge zu behalten, andererseits aber mit Sicherheit
antizipieren, dabei vorwiegend frustrierende, enervierende oder gar
angsterregende Wahrnehmungen zu machen.
Je intensiver und kontinuierlicher kollokale Partner einander zum
Objekt der Wahrnehmung und Beurteilung machen (und dies auch voneinander
wissen), desto ausschliesslicher sind sie auf Strategien der
Verhaltensdisziplinierung verwiesen, um ihre wechselseitigen Beziehungen
sowie die Ordnung des gesamten Sozialsystems zu regulieren, weil jeder
Beteiligte
- wegen seiner unspezifischen Offenheit für Fremdstimuli
besonders verletzlich und deshalb darauf angewiesen ist, dass
irritierende Einwirkungen Anderer unterbleiben;
- sorgfältig darauf achten muss, nur die von ihm beabsichtigten
Äusserungen zu emittieren und keine ihm selbst ungelegenen
Eindrücke, Attributionen oder Reaktionen zu provozieren.
Die Tatsache, dass individuelle Aufmerksamkeit ein knappes (Nullsummen-)
Gut ist, trägt nun aber in zweierlei Hinsicht dazu bei, diese Problematik
zu moderieren:
- In dem Masse, wie die Teilnehmer selbstreferentiell mit der
bewussten Planung und Kontrolle ihres eigenen Verhaltens beschäftigt
sind, haben sie weniger Valenzen frei, um das Verhalten Anderer zu
registrieren. Möglicherweise kann die in einem kollokalen System
herrschende interpersonelle Sensibilisierung ein gewisses begrenztes
Mass nie überschreiten: weil die Mehrinvestitionen an
Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, die durch ihr Anwachsen nötig
werden, eine Bremswirkung (im Sinne eines "negativen
Feedbacks") erzeugen.
- In dem Masse, wie die Zahl der Anwesenden wächst, muss jeder sein
begrenztes Wahrnehmungspotential selektiv auf wenige Andere (bzw. auf
wenige ihrer Verhaltensweisen) fokussieren: so dass sich jeder nur
noch von einer geringen Zahl Anderer beobachtet fühlt.
So ist mit dem Eintauchen in eine grössere gesellige Gruppe oft eine
wohltuende Linderung des Disziplinierungsdrucks verbunden. Zum Beispiel
darf ich mich ungestraft den ganzen Abend über auch schweigsam in mich
gekehrt verhalten: weil keiner meiner zahlreichen potentiellen
Gesprächspartner aus der Tatsache, dass ich gerade mit ihm kein Wort
gewechselt habe, negative Schlüsse auf meine generelle Stimmung (oder:
gar meine introvertierte Charakterstruktur) ziehen kann.
Beide Kräfte (die den Bedarf nach Verhaltensdisziplinierungen
vermindern, bzw. nach oben hin begrenzen) sind umso wirksamer, je mehr
alle Teilnehmer gleichermassen als Agierende und Reagierende, als
Wahrnehmende und Wahrgenommene am kollokalen Interaktionsfeld
partizipieren.
Fast unlösbar hingegen sind die Probleme oft im entgegengesetzten
Extremfall, wo die meisten Anwesenden als Zuschauer oder Zuhörer ihre
Aufmerksamkeit radial einer Einzelperson (z.B. einem Vortragsredner) oder
einer kleinen Gruppe (z.B. einem Theaterensemble) zuwenden, die die Rolle
des aktiven Handelns bei sich monopolisiert.
Denn in diesem Fall
- können die rein rezeptiven Publikumsmitglieder ihre gesamte
Aufmerksamkeit ungehindert auf den Fokalakteur ausrichten, weil sie
durch keinerlei selbstreferentielle Anstrengungen (der eigenen
Verhaltenskontrolle) beansprucht werden;
- muss der Fokalakteur unter der Erschwernis operieren, dass die
wesentlichen Merkmale des gesamten Sozialsystems wie auch die
Qualität aller darin vorkommenden (radial-rezeptiven)
Kommunikationsbeziehungen völlig davon abhängen, ob und wie er sein
Verhalten diszipliniert.
"Als Lärmquelle betrachtet, ist das Podium selbst ein
vielgestaltiges Ding. Eine dieser Quellen verdanken wir der Tatsache, dass
Vortragsredner unweigerlich einen Körper besitzen, und dass von
menschlichen Körpern sehr leicht visuelle oder akustische Effekte
ausgehen können, die nicht mit dem Fluss der Rede in Zusammenhang stehen
und die Aufmerksamkeit ablenken können. Ein Sprecher muss atmen, ein
wenig zappeln, sich gelegentlich kratzen und verspürt manchmal das
Bedürfnis, zu husten, sein Haar zurückzustreichen, ihre Bluse zu
straffen, ein Glas Wasser zu trinken, ihre Perlen zu befingern, seine
Brille zu putzen, zu rülpsen, von einem Fuss auf den andern zu wechseln,
auf charakteristische Weise das Jackett auf- und zuzuknöpfen, die
Manuskriptseiten zu wenden usw."....(Goffman 1981: 183).
Generell ist jede Art von Zentralisierung sozialer Verhältnisse unter
kollokalen Bedingungen mit immens anwachsenden Enttäuschungsrisiken und
Destabilisierungsgefahren verbunden: weil sich das Sozialsystem als Ganzes
(wie auch jeder einzelne Teilnehmer) gegenüber der Existenz und dem
Verhalten weniger fokaler Akteurpersonen empfindlich macht, deren
geringste Indispositionen (schlechte Laune, Unkonzentriertheit,
Vergesslichkeit, körperliche Unkontrolliertheit) breiteste Störwirkungen
im gesamten kollokalen Feld nach sich ziehen: Irritationen
disfunktionalster Art, weil (im Gegensatz zu egalitäreren Verhältnissen
horizontaler Interdependenz) keine konkurrierenden Aufmerksamkeitszentren
verfügbar sind, um die Auffälligkeit "devianten
Bühnenverhaltens" zu mindern, und keine alternativen Quellen von
Verhaltensemissionen, um ihm korrigierend entgegenzusteuern.
In translokalen Sozialverhältnissen mag es leicht gelingen, derartige
Kontingenzen allein durch eine hinreichende kognitive Abschirmung der
zentralen Herrschaftspersonen und durch strenge Selektivität der an die
Öffentlichkeit abgegebenen Informationen unter Kontrolle zu bringen..
Unter kollokalen Bedingungen hingegen müssen Führerpersonen jeden
Zuwachs an Prominenz und Einfluss teuer damit bezahlen, dass sie
- noch intensiver und ausschliesslicher im Rampenlicht des Publikums
stehen,
- noch mehr Gefahr laufen, selbst durch geringste Unkontrolliertheiten
(z.B. unbedachte verbale Äusserungen, nicht hinreichend kaschierte
Verachtung für oppositionelle Redner etc.) schwerwiegendste
unbeabsichtigte Wirkungen auszulösen und an Reputation einzubüssen.
Völlig inegalitäre Verteilungsmuster von Rollen und Einflusschancen sind
meist nur praktikabel, wenn sie (wie z.B. bei der unvermeidlichen
Sprecher-Zuhörer-Asymmetrie innerhalb jedes Gesprächablaufs (vgl. 2.2.5)
kurzfristig und beliebig modifizierbar bleiben). Je länger sie hingegen
andauern, desto mehr wird sich der Fokalakteur zu einem fast
unmenschlichen Mass an Selbstdisziplin und/oder das Publikum zu einer
immer unzumutbareren Leistung der Toleranz gezwungen sehen.
So werden die in Kollokalgruppen endogen erwachsenden Führerpersonen
normalerweise das Bedürfnis haben, sich mit einer nur unvollständig
ausgeprägten, durch mancherlei egalisierende Einflüsse moderierten
Vorrangstellung zu begnügen; und exogene, von alokalen Institutionen
aufoktroyierte Führer werden im kollokalen Feld regelmässig
Schwierigkeiten haben, ihren formalen Status uneingeschränkt zur Geltung
zu bringen.
Ortspolizisten und Dorfpfarrer unterliegen ebenso wie Offiziere
innerhalb ihrer Truppe oder Professoren im Doktorandenkolloquium gewissen
Tendenzen "informeller Statuserosion", die oft nur durch eine
Verkürzung ihrer Verweildauer in tragbaren Grenzen gehalten werden kann.
Zwecks Geltungssicherung ihrer formalen Normstrukturen sehen sich
deshalb viele Institutionen genötigt, ihre Exponenten systematisch
zwischen verschiedenen Kollokalkontexten rotieren zu lassen: eine
Massnahme, welche nicht nur die Institution von Sanktionsanforderungen,
sondern auch ihre Repräsentanten von mühevoller Selbstkontrolle
entlastet.
III
Dauerhafte, hoch institutionalisierte kollokale Interaktionsfelder (wie
z.B. Klöster, Städte oder Königshöfe) haben sich in der Geschichte
immer wieder als Brutstätten neuartiger Verhaltensdisziplinierungen
erwiesen, die eine unerlässliche Basis für die Verkehrsformen der
heutigen urbanen Gesellschaft bilden und den Persönlichkeitshabitus des
"zivilisierten Individuums" entscheidend mitkonstituieren.
Wie Norbert Elias in seiner Analyse der "höfischen
Gesellschaft" deutlich macht, sind höchste gesellschaftliche Eliten
besonders dazu qualifiziert (bzw. motiviert), auf Zustände kollokaler
Verdichtung mit innovativen Verhaltensnormierungen, die sich auf Grund
ihres Modellcharakters nachher universell ausbreiten, zu reagieren.
Gesellschaftliche Oberschichten lassen sich normalerweise als soziale
Kollektive mit ausgeprägt soziofugalen Eigenschaften charakterisieren.
Sie bestehen aus Einzelpersonen oder Familien, die auf der Basis von
Landbesitz, Kapitaleigentum, politischer Führungsgewalt oder irgendeines
andern institutionellen Autoritätsstatus selbständige Zentren von Macht,
Reichtum oder Prestige darstellen, mit Hilfe ihrer Ressourcen relativ
umfassende Spielräume autonomen Handelns sicherstellen und keine
unkontrollierten Fremdpenetrationen solcher Autonomiesphären tolerieren.
Besonders drastisch trifft dies für feudale Landeliten agrarischer
Gesellschaften (z.B. des europäischen Mittelalters) zu, deren Angehörige
in geographisch weit voneinander entfernten patrimonialen Grosshaushalten
residierten und dort eine partikularistisch orientierte Lebensform
ausbildeten, wie sie im Individualismus der Ritterkultur und in der
rivalisierenden Streitlust der Adelsgeschlechter zum Ausdruck kam.
Umso faszinierender ist es, jenen tiefgreifenden sozialen
Transformationsprozess zu beobachten, der sich aus der kollokalen
Konzentration der Adelselite an den Höfen absolutistischer Herrscher
(insbesondere in Frankreich) ergab: jenem von Elias mit unübertrefflicher
Einfühlsamkeit und analytischer Präzision nachgezeichneten Vorgang, dem
wir die gemeinhin als "Höflichkeit" bezeichneten Formen der
Verhaltensdisziplinierung (charakterisiert durch gesteigerte
Aggressionshemmungen und systematisierte interpersonelle
"Rücksichtnahmen" bei allen alltäglichen Verrichtungen) zu
verdanken haben.
Beim Überwechseln zur verdichteten höfischen Lebensweise (bedingt
durch monarchistische Machtkonzentration und den damit einhergehenden
Verlust eigenständiger feudaler Existenzbasen) wurde es für die Adligen
notwendig, ihren Status, den sie vorher auf stabile Grundlagen des
Besitzes und der Familienabstammung gründen konnten, nun im Rahmen des
verdichteten Interaktionsfeldes bei Hofe zu verteidigen oder zu erhöhen:
durch möglichst grosses Geschick, im Konkurrenzkampf mit Rivalen die
Gunst des Königs oder dessen engster Vertrauten (Minister, Maitressen
u.a.) zu gewinnen und sich trotz der unvermeidlichen dauernden
Lebensgemeinschaft mit kompetitiven Statusgenossen einen eigenen
Autonomiespielraum und Einflussbereich zu wahren.
Soziofugale Regulationsmechanismen waren unter diesen Bedingungen kaum
verfügbar, weil die Unmöglichkeit, seine Statusposition irgendwo anders
als über die Beziehung zum absolutistischen Monarchen absichern zu
können, als ungeheurer soziopetaler Druck wirksam war, der für die
erzwungene Dauerkonzentration praktisch der gesamten Elite in der
Königsresidenz (z.B. in Versailles mit seinen zeitweise über 10 000
Bewohnern) sorgte:
"Die höfische Gesellschaft des Ancien Regime liess ihren
Mitgliedern jedoch überhaupt keine Ausweichmöglichkeiten. Denn sie hatte
an Prestige und als Prestigegeberin für den einzelnen Zugehörigen nicht
ihresgleichen. Es gab für den höfischen Menschen des Ancien Regime nicht
die Möglichkeit, den Ort zu wechseln, Paris oder Versailles zu verlassen
und dennoch, durch den Übergang in eine andere annähernd gleichwertige
Gesellschaft sein Leben als Gleichrangiger ohne Prestigeverlust für das
eigene Bewusstsein gleich wert- und sinnvoll fortzuführen." (Elias
1983: 151/152).
Andererseits war es auch völlig ausgeschlossen, die soziale
Organisation bei Hofe vorrangig (oder auch nur sekundär) auf Mechanismen
interpersoneller Desensibilisierung abzustützen, weil die Adelsmitglieder
- auf Grund ihrer herausragenden gesellschaftlichen
Statusposition (und wohl auch: wegen ihrer jahrhundertelangen
Vorsozialisierung im soziofugalen feudalen Milieu) nach wie vor hohe
Empfindlichkeiten gegenüber persönlichen Irritationen und
Fremdinfiltrationen aufrechterhielten und grossen Wert darauf legten,
zum Zwecke berechenbaren Agierens und Geniessens ein kontrollierbares,
von störenden Reizen freigehaltenes Umfeld um sich zu haben;
- auf Grund ihrer gemeinsamen Rivalität um die Gunst des Königs dazu
genötigt blieben, einander dauernd intensivste Aufmerksamkeit
zuzuwenden: sei es, um ihre eigenen Status- und Einflusschancen
argwöhnisch mit denen anderer zu vergleichen, sei es, um mittels
komplizierter taktischer Interaktionsmanöver um eine Verbesserung der
eigenen Position zu ringen:
"Das Leben in der höfischen Gesellschaft war kein friedliches Leben.
Die Fülle der in einem Kreis dauernd und unausweichlich gebundenen
Menschen war gross. Sie drückten aufeinander, kämpften um
Prestigechancen, um ihre Stellung in der Rangordnung des höfischen
Prestiges. Die Affären, Intrigen, Rang- und Gunststreitigkeiten brachen
nicht ab. Jeder hing vom anderen ab, alle vom König. Jeder konnte jedem
schaden. Wer heute hoch rangierte, sank morgen ab. Es gab keine Sekurität.
Jeder musste Bündnisse mit andern Menschen, die möglichst hoch im Kurse
standen, suchen, unnötige Feindschaften vermeiden, die Taktik des Kampfes
mit unvermeidlichen Feinden genau durchdenken, Distanz und Näherung im
Verhalten zu allen übrigen aufs genaueste dosieren." (Elias 1983:
158)
So sind höfische Gesellschaften in dem Sinne überaus labil, als die
Statuspositionen, die ihre wichtigsten, dominierendsten Repräsentanten
innehaben, nicht etwa auf der Basis dauerhafter Zuschreibungskriterien wie
"Umfang des Landbesitzes" oder "Qualität der
genealogischen Abkunft" verliehen werden, sondern auf der ungleich
schwankenderen Basis taktischer Interaktionserfolge, wie sie sich im
fluiden Medium des höfischen Kollokalfeldes täglich neu und anders
konstituieren.
Als Medium individuellen Statuserwerbs und kollektiver
Statusdistribution erfüllt das kollokale höfische Interaktionsfeld für
die Adelselite dieselbe Funktion wie für das merkantile Bürgertum das
translokale Austauschfeld des ökonomischen Marktes, wo finanzielle
Gewinne und Verluste zu ähnlich labilen und durch dramatische
Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken gekennzeichneten Positionsordnungen
führen.
Viele wesentliche Unterschiede zwischen "Bürgerkultur" und
"Adelskultur" werden gut verständlich, wenn man davon ausgeht,
dass in kollokalen Feldern eben nicht hoch internalisierte individuelle
Disziplinleistungen (vom Typus der protestantischen Ethik) den Ausschlag
geben, sondern charakteristische Formen interaktioneller
Verhaltensdisziplin, die weitgehend nur für den Umgang mit räumlich
mitanwesenden Statusgenossen Geltung haben.
So vermag eine Analyse der "höfischen Gesellschaft"
keineswegs nur über die besonderen konstituierenden Strukturmerkmale und
Funktionsweisen absolutistischer Gesellschaftsformen Auskunft zu geben,
sondern auch zur Aufhellung viel generellerer theoretischer
Gesetzmässigkeiten beizutragen.
Denn an ihr lässt sich besser als an irgendeinem andern
Illustrationsfall darstellen
- in welch fundamentaler Weise umfassende makrosoziologische
Gesellschaftsverhältnisse durch mikrosoziale Strukturen und Prozesse
innerhalb ausgezeichneter kollokaler Interaktionsfelder
mitkonstituiert werden können;
- welche Mechanismen dazu beitragen, einem praktisch ausschliesslich
auf Disziplinierungsstrategien verwiesenen kollokalen Sozialsystem zu
Ordnung und Dauerhaftigkeit zu verhelfen.
Dieser generellere, überhistorische Geltungsgehalt der von Norbert Elias
entwickelten Schlussfolgerungen zeigt sich vor allem darin, wie häufig
und wie weitgehend sie mit den Ergebnissen Erving Goffmans konvergieren:
obwohl diese beiden Autoren nicht nur ihre Forschungsinteressen äusserst
unterschiedlichen (gleichzeitig in historischer, geographischer und
schichtmässiger Hinsicht weit voneinander entfernten) sozialen
Interaktionsfeldern zugewendet haben, sondern auch äusserst divergierende
methodologische Ausgangspunkte und Verfahrensweisen zur Anwendung bringen.
Im folgenden soll aus diesen (natürlich völlig impliziten)
Konvergenzen Nutzen gezogen werden, um die im Rahmen kollokaler
Interaktion üblicherweise verwendeten Mechanismen der
Verhaltensdisziplinierung genauer zu identifizieren und auf Grund ihrer je
spezifischen Voraussetzungen, Funktionen und Folgeprobleme Schlüsse
daraus zu ziehen, in welchem Verhältnis (der Substitutivität,
Komplementarität u.a.) sie zueinander stehen.
1) Zwang zur interaktionsbezogenen Empathie und "Dezentrierung"
Für alle kollokalen Interaktionsfelder ist charakteristisch, dass die
Steuerung und Disziplinierung des individuellen Verhaltens nur in sehr
begrenztem Umfang auf interpersonelle Mechanismen (z.B. Tadel,
Androhungen, Revanche etc.) abgestützt werden kann: vor allem dann nicht,
wenn die Mitglieder längere Zeit zusammenbleiben und/oder in besonders
dichtgewobenen Interdependenzverhältnissen zueinander stehen.
Dies hängt damit zusammen, dass Kontroll- und Sanktionshandlungen auf
Grund
- des diffusen und unkontrollierbaren Charakters der
(nonverbalen und verbalen) Kommunikation
- der "doppelten Kontingenz" allen interpersonellen Handelns
und Reagierens
allzu viele unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben und ganz besonders auch
das Risiko selbsteskalierender Konflikte mit sich führen; z.B. wenn der
Getadelte seinerseits beleidigt und wütend reagiert, um dadurch noch
schärfere Sanktionen auf sich zu ziehen.
Die "Looping Prozesse" in geschlossenen Anstalten
("totalen Institutionen") bezeugen am deutlichsten, dass
kollokale Interaktionssysteme mit dem Dauerrisiko kumulativer innerer
Polarisierungs- und Desorganisationsprozesse umgehen müssen: Prozesse,
die mittels individueller Selbstdisziplinierung unterdrückt werden
müssen, wenn sie nicht durch simples Weggehen (Soziofugalität) oder
Abwendung der Aufmerksamkeit (Desensibilisierung) eliminiert werden
können (vgl. Goffman 1973: 43ff.).
Hinzu kommt das weitere Risiko, dass auch anwesende Dritte leicht in
eine offene Auseinandersetzung miteinbezogen werden können: weil sie sich
nach Massgabe ihrer sozialen Sympathie-, Solidaritäts- oder
Freundschaftsbindungen genötigt sehen, für die eine oder andere Seite
Partei zu ergreifen und dadurch eine grössere Konfliktausdehnung (sowie
unvorhergesehene Kräfteverschiebungen zwischen den Parteien) zu bewirken
(Nicht zuletzt aus derartigen Gründen waren absolutistische Herrscher wie
z.B. Richelieu oder Louis XIV bestrebt, ihre Hofadligen vom traditionellen
Brauch des Duellierens zu entwöhnen (Elias 1983: 355)).
Zur Vermeidung solcher Risiken wird es notwendig, einen grösseren Teil
der verhaltenssteuernden und verhaltenskontrollierenden Mechanismen von
der interpersonellen auf die intrapersonelle Ebene zu verlagern und den
Interaktionspartnern eine an den Stabilitätsbedürfnissen des kollokalen
Gesamtfeldes orientierte Empathie und Selbstdisziplin zuzumuten.
Generell gilt, dass aktive kollokale Interaktionsteilnehmer ungeachtet
ihrer Sachanliegen oder ihrer Stimmungs- und Gefühlslage immer einen Teil
ihrer gesamten (normalerweise noch durch einen "Interaktionstonus"
gesteigerten) Aufmerksamkeit dafür abzweigen müssen
- ihre bilateralen Beziehungen zu anderen Teilnehmern
- das Interaktionsfeld als Ganzes
in einer Art "harmonischem Fliessgleichgewicht" zu halten, wie
es als Voraussetzung für die Kontinuierung erfolgreicher Kommunikation
erforderlich ist.
Ungeachtet, wie immens wichtig ich meinen eigenen Diskussionsbeitrag
finde: immer muss ich mitberücksichtigen, dass andere auch zum Wort
kommen wollen oder sich von meinen allzu langfädigen Ausführungen
allenfalls irritiert und gelangweilt fühlen.
Und ich mag in Verhandlungsprozessen noch so massiv und unnachgiebig
auf meinen Maximalforderungen bestehen: immer muss ich wenigstens in der
Art und Weise, wie ich sie vortrage, mitberücksichtigen, dass
"unnötige Brüskierungen" zu vermeiden sind. Und oft genug
werde auch ich mich zu echten Sachkompromissen genötigt sehen, um den
Interaktionsprozess überhaupt am Leben zu erhalten.
Das Faktum, dass sich das gesamte soziale Feld in meinem sinnlichen
Wahrnehmungsbereich befindet und alle darin ablaufenden Vorgänge mir ohne
Zeitverzug registrierbar sind, erleichtert es mir, einen Teil der
Gesamtverantwortung für dieses soziale System mitzutragen und bei der
Spezifikation all meiner Handlungen
- selbstreferentielle Gesichtspunkte (was bedeuten sie für
mich, meine Interessen und Wertmassstäbe?)
- interreferentielle Aspekte (was bedeuten sie für diesen oder jenen
individuellen Partner?)
- suprareferentielle Rücksichten (was bedeuten sie für den Fortgang
des Diskussionsprozesses, für die Aufrechterhaltung des Teamgeists
oder "Verhandlungsklimas" u.a.?)
miteinander zu vermitteln.
"Es zeigt sich, dass die Teilnehmer gar nicht in erster Linie
aufgefordert sind, ihre je eigenen Standpunkte auszudrücken, sondern
vielmehr dafür Sorge tragen müssen, dass die umfangreichen
Ausdruckspotentiale, die die Mitglieder zur Verfügung haben, nicht
versehentlich in völlig unbeabsichtigter und unschicklicher Weise
verwendet werden. Es liegt ihnen daran, dass jeder sein eigenes Gesicht
wahren kann; und dementsprechend besteht ihre hauptsächliche Rolle
schliesslich darin, durch ihr Verhalten zu einem geordneten
Kommunikationsprozess beizutragen." (Goffman 1981).
Solche "Beziehungspflege" gewinnt in dem Masse an Gewicht,
als die Partner unter der Prämisse interagieren, dass sie sehr
langfristige soziale Beziehungen aufrechterhalten, sich bei vielerlei
Gelegenheiten immer wieder sehen und vielleicht gar unausweichlich
aneinander gebunden sind.
Dies erklärt die ausserordentliche Bedeutung von
"Förmlichkeiten" beim höfischen Feudaladel, wo alle diese
Voraussetzungen in höchstem Masse erfüllt waren. So wird der höfische
Adlige in maximalem Umfang dazu angetrieben, bei der Interaktion das
"Wie" vor das "Was" zu stellen: weil es für ihn
rational ist, möglichst viele Energien in die Qualität seiner
Beziehungen (zu Standesgenossen) zu investieren. Denn dieses
Beziehungsfeld fungiert für ihn als Substitut für akkumuliertes Kapital,
auf den der bürgerliche Mensch seine existentiellen Sicherheiten und
Statusprätentionen abzustützen pflegt.
So werden kollokale Interaktionspartner ziemlich unabhängig von ihren
verinnerlichten Moralvorstellungen und empathischen Fähigkeiten zu einer
gewissen Dezentrierung ihrer Handlungsperspektiven genötigt: allein
deshalb, weil die negativen Folgen rücksichtslos egozentrischen
Verhaltens unmittelbar (z.B. in der Form tadelnder Mienen, gelangweilter
Blicke usw.) wahrnehmbar werden. Bei translokalen (z.B. fernbrieflichen
oder telephonischen) Interaktionen wird es sehr viel stärker von
internalisierten Normorientierungen sowie von intraindividuell evozierten
(=erinnerten oder imaginierten) kognitiven Vorstellungen abhängen, ob ein
Akteur sich eher an selbstreferentiellen Gesichtspunkten, an vermuteten
Intentionen ALTERS oder an der (beide verbindenden) Struktur eines
integralen sozialen Systemzusammenhangs orientiert. Und häufig genug
werden allein schon die kognitiven Verhältnisse es nahelegen, der mittels
Introspektion unmittelbar, mühelos und detailliert zugänglichen
Eigenperspektive (anstatt den vergleichsweise spekulativen
Unterstellungen, was der ferne Partner meint oder welche Art von Beziehung
mich augenblicklich mit ihm verbindet) den Vorzug zu geben.
Im Einklang mit solchen theoretischen Vorstellungen hat sich bei
sozialpsychologischen Experimenten über
"Verteilungsgerechtigkeit" gezeigt, dass Partner, die
zukünftige Wiederbegegnungen antizipieren, ungeachtet ihres persönlichen
Leistungsbeitrags aus "Höflichkeit" nur einen relativ
bescheidenen Anteil am zu verteilenden knappen Belohnungsgut für sich
beanspruchen, während die andern auf einem streng leistungsbezogenen
Verteilungsmodus ("equity") insistieren (Shapiro, 1975;
Schwinger 1980: 107ff.)
Durch gezielte Akkumulation von "Dankbarkeitskrediten"
gelingt es, zukünftige kollokale Interaktionsphasen risikoloser und
berechenbarer zu gestalten: weil man dann durchaus auch einmal
"unbescheidene Wünsche" erfolgreich anbringen kann, ohne das
wechselseitige Wohlwollen zu gefährden oder gar bedrohliche Ressentiments
zu generieren.
Taktisch motivierte Zurückhaltung, Rücksicht, Umsicht (und häufig
genug auch Nachsicht) sind gegenüber jenen kollokalen Partnern in
erhöhtem Masse gefordert, die (z.B. auf Grund ihrer Einflusstellung)
über besonders umfangreiche Handlungs- und Wirkungskapazitäten verfügen
und deshalb gleichermassen als potentielle Quelle immenser Chancen und
Vorteile wie auch bedrohlicher Risiken und Sanktionen in Rechnung gestellt
werden müssen:
"Der oppositionelle Adlige sucht die Verbindung mit dem
Kronprinzen herzustellen, dessen Position selbst ihn einer oppositionellen
Haltung geneigt macht. Das Vorgehen ist gefährlich, besonders für
Saint-Simon. Er muss die Haltung des Prinzen sorgsam abtasten, um zu
wissen, wie weit er gehen kann. Saint-Simons Schilderung selbst lässt
zunächst einmal die ausserordentliche Bewusstheit, mit der er auf sein
Ziel losgeht, und zugleich die Freude an der Kunst, mit der er die Aufgabe
meistert, erkennen. Sie zeigt deutlich, wie und warum gerade der relativ
niedriger Rangierende im besonderen Mass zum Taktiker der Konversation
wird. Er ist, wie schon gesagt, bei einer solchen Unterhaltung der am
meisten Gefährdete. Der Prinz kann gewissermassen immer aus den
zweckgerichteten Spielregeln der höflichen Konversation ausbrechen; er
kann, wenn es ihm passt, die Unterhaltung und Beziehung aus einem
beliebigen Grunde beenden, ohne dabei allzu viel zu verlieren. Für
Saint-Simon dagegen hängt vom Ausgang einer solchen Unterhaltung
ausserordentlich viel ab, und für ihn ist es also lebenswichtig, bei
einer solchen Unterhaltung mit äusserster Beherrschtheit und
Überlegtheit, aber mit einer Beherrschtheit und Überlegtheit, die
niemals für den Gesprächspartner fühlbar werden darf, zu Werke zu
gehen." (Elias, 1983: 164/165).
Besonders einflussreiche Personen sind in kollokalen Systemen meist nur
erträglich, wenn sie sehr sporadisch anwesend sind: weil ihre
Dauerpräsenz die Untergebenen vor ungebührliche
Disziplinierungsforderungen stellt und sie oft daran hindert, neben dem
hohen Aufwand an subtil geplanter Interaktionstaktik und strategischem
"impression management" auch noch die ihnen eigentlich
zugedachten Sachaufgaben zu erfüllen.
So besteht eine der zahlreichen kontraproduktiven Wirkungen von
Grossraumbüros darin, dass ihre Insassen die zeitlich generalisierte
Präsenz ihres Vorgesetzten als eine äusserst restringierende und
demotivierende Situationsbedingung erleben: im Gegensatz zum
traditionellen Kleinbüro, wo solche Disziplinierungszwänge auf die
wenigen, zeitlich limitierten "Besuche" des "Chefs"
eingegrenzt bleiben (vgl. Fritz 1982: 153ff.)
Nimmt man die obige Feststellung (vgl. II) hinzu, dass auch die
anwesende Einflussperson selber mit Disziplinierungsanforderungen belastet
wird, gibt es nun einen doppelten Grund für die Hypothese, dass
- Verhältnisse kontinuierlich andauernder (bzw. sich häufig
wiederholender) Kollokalität mit Zuständen hoher systeminterner
Zentralisierung (von Macht, Einfluss, Prestige, Führerschaft u.a.)
unvereinbar sind;
- exogen vorgegebene (z.B. auf formale Autorität abgestützte)
Verhältnisse hoher Zentralisierung nur dadurch spannungsfrei
aufrechterhalten werden können, wenn und insofern die Fokalperson die
Zeiträume ihrer Anwesenheit reduziert.
2) Interreferentiell bestimmte Weisen individueller Selbstreflexion
und Identitätsbildung
Als Korrelat kollokaler Verhaltensdisziplinierung entsteht eine
charakteristische Weise individueller Selbstreflexion und
Identitätsbildung, die nicht an introspektiv erschlossenen
Erlebnisinhalten oder Intentionen festmacht, sondern an äusserlichen
Ausdruckskundgaben und Handlungsvollzügen: unter dem Gesichtspunkt, wie
andere diese wahrnehmen, deuten und darauf reagieren.
"Die Selbstbeobachtung und die Beobachtung der anderen Menschen
korrespondieren miteinander. Eine wäre zwecklos ohne die andere. Es
handelt sich hier also nicht wie im Falle einer primär aus religiösen
Motiven entspringende Selbstbeobachtung, um eine Beobachtung seines
"Inneren", um die Versenkung in sich selbst als eines isolierten
Wissens zur Prüfung und Disziplinierung seiner geheimsten Regungen um
Gottes Willen, sondern es handelt sich um eine Beobachtung seiner selbst
zur Disziplinierung im gesellschaftlich-geselligen Verkehr." (Elias
1983: 159/160).
In kollokalen Situationen sind Individuen bekanntlich (vgl. 4.4)
relativ wenig auf selbstreferentielle Orientierung (am eigenen
"Selbstbild" oder am "idealisierten EGO") angewiesen,
weil sie zu Fremdbeurteilungen einen fast ebenso leichten, umfassenden und
zuverlässigen kognitiven Zugang wie zu introspektiven Selbstbeurteilungen
haben (vgl. Schütz 1973: 227ff.)
Insofern überhaupt verselbständigte personale Selbsttypifikationen
und Identitätsattributionen entstehen, tragen sie den Mead'schen
Charakter des "generalisierten Anderen", in dem sich
Fremderwartungen, die gegenüber "typischen Kollokalpartnern"
ausgebildet wurden, in der Form von Selbsterwartungen wiederfinden. Man
wird sich selbst dann vorwiegend über Tugenden loben, die einem in
durchschnittlichen kollokalen Interaktionszyklen Erfolg und Anerkennung
verschaffen (z.B. "Taktgefühl", "Zuvorkommenheit"
oder "Unaufdringlichkeit"), während man seine privaten Scham-
und Schuldregungen für Verhaltensweisen aufspart, in denen sozial
missliebige oder demütigende Eigenschaften (z.B. "Naivität",
"Aufdringlichkeit", "Rücksichtslosigkeit") zum
Ausdruck gelangen.
Logischerweise sind auch die interpersonellen Wahrnehmungen und
Typifizierungen der Komplexität, Fluidität und den dichtgewobenen
kausalen Wechselbeziehungen kollokaler Felder nur dann angemessen, wenn
jeder Teilnehmer die jeweils anderen nicht als isolierte, durch endogene
Dispositionen (wie z.B. "Charakter", "Interesse",
"Stimmung" u.a.) determinierte Individuen perzipiert, sondern
als Exponenten eines sozialen Beziehungsfeldes, deren Erleben und Handeln
mannigfachen Umwelteinflüssen unterliegt.
Idealerweise müsste dann jedes Mitglied einerseits die Struktur und
Dynamik des gesamten Interaktionsfelds (mit allen in ihm aktualisierten
bilateralen und multilateralen Beziehungen) überblicken, um die auf jedes
andere Mitglied momentan wirksamen Kräftevektoren zu identifizieren.
In diesem Sinne hat sich bei der höfischen Feudalelite zu Versailles
ein äusserst subtiler, differenzierter Stil interpersoneller Wahrnehmung
entwickelt, der dennoch nicht "psychologisch" genannt werden
kann, weil eben "situative" gegenüber "dispositionalen"
Attributionen den Vorrang behaupten:
"Die höfische Kunst der Menschenbeobachtung ist umso
wirklichkeitsnäher, als sie niemals darauf abgestellt ist, den einzelnen
Menschen für sich allein zu betrachten, wie ein Wesen, das primär aus
seinem Inneren die wesentlichen Gesetze und Züge empfängt. Man
betrachtet vielmehr innerhalb der höfischen Welt das Individuum immer in
seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit: als Menschen in seiner
Beziehung zu anderen. Auch hierin zeigt sich die totale
Gesellschaftsverbundenheit des höfischen Menschen." (Elias 1983:
159).
Weil räumlich verdichtete Personengruppen der sinnlichen Wahrnehmung
als prägnant herausgehobene Objekte gegenübertreten, neigen
aussenstehende Beobachter bekanntlich dazu, die Ursachen vieler
individueller Verhaltensweisen eher dem "Miteinander" anstatt
der einzelnen "Person" zu attribuieren (vgl. 4.4).
Ebenso kommt die generellere Neigung der Individuen, bei der Zurechnung
ihres eigenen Verhaltens situative Zurechnungen vorzuziehen, der hohen
kontextuellen Determinationskraft kollokaler Sozialsysteme entgegen: auch
wenn der Einzelne oft nicht adäquat wahrnimmt, wie sehr er selber die
Situation (d.h. die Bedingungen, unter denen andere handeln und auf ihn
reagieren) mitkonstituiert (Sillars 1981).
Umgekehrt mag die ebenso generelle Tendenz sozialer
Interaktionspartner, das Verhalten Anderer dispositional zuzurechnen (vgl.
z.B. Walster 1966, Jones/Nisbett 1972). zu einer erheblichen
Unterschätzung der vom Feld der Mitanwesenden ausgehenden
Verhaltenseinflüsse führen: und andauernde Kommunikation mag notwendig
sein, um die sich ständig erneuernden Diskrepanzen zwischen externalen
Selbst- und internalen Fremdattributionen zu reduzieren.
3. Zwänge zur Deprofilierung und Konformität
Unter kollokalen Bedingungen sind soziale Handlungsprozesse dadurch
gekennzeichnet, dass
- die Personen, die als Verursacher unwillkürlicher oder
intendierter Verhaltensweisen in Betracht zu ziehen sind
- die Verhaltensvollzüge (z.B. Bewegungsabläufe, Sprechakte u.a.),
die sie mit Hilfe ihrer leiblichen Organe vollziehen
- die Wirkungen, die diese Verhaltensweisen bei Adressaten oder
sonstigen Betroffenen auslösen
im selben aktualen Erlebnisfeld der Beteiligten wahrnehmbar sind.
Im Medium sinnlicher Wahrnehmung pflegt sich die Synthese dieser drei
Handlungskonstituentien unkontrollierbar-spontan zu vollziehen, so dass im
Gegensatz zu vergangenen, fernverursachten oder fernwirkenden
Verhaltensweisen keine Notwendigkeit besteht, sie mittels artifiziell
erzeugter (und entsprechend umstrittener und variabler)
Zurechnungkonstruktionen zu sichern.
Jeder Akteur erlebt sich selbst zweifelsfrei als jemand, dessen
unbedachte Armbewegungen gerade jetzt genau dieser anderen Person ein
Schmerzerlebnis zugefügt und sie zu einer erschrocken-unwilligen Reaktion
veranlasst haben, oder dessen scherzhaft-ironische Einwürfe ganz
offensichtlich kein Verständnis finden.
Auf Grund solcher Rückkoppelungen sind die im kollokalen Milieu
vollzogenen Handlungsprozesse im Vergleich zu einsamen Privathandlungen
oder translokalen Kommunikationen (z.B. Telephongesprächen, Briefen u.a.)
besser dazu geeignet, einen Strom begleitender (bzw. unmittelbar
nachfolgender) Selbstattributionen zu induzieren. Ich vermag meinen
eigenen Zustand innerer Wut weniger leicht zu ignorieren, wenn Andere mir
Zornesröte oder ein bedrohliches Zittern in der Stimme attestieren; ein
spontanes Lob der Lehrerin vermag ein Kind leicht von den letzten
Selbstzweifeln über seine eigenen Fähigkeiten zu befreien; und ein
alkoholisierter nächtlicher Automobilist vermag sich vielleicht nur durch
Anfahren eines Fussgängers von seiner eigenen Fahruntüchtigkeit
überzeugen.
Noch wichtiger ist nun aber die Tatsache, dass die in Anwesenheit
Anderer vollzogenen Handlungen auch einen dauernden Strom von
Fremdzurechnungen erzeugen: wobei aus der Möglichkeit, ja
Wahrscheinlichkeit, dass Selbstattributionen und Fremdzurechnungen (bzw.
die letzteren untereinander) divergieren, vielfältige Unsicherheiten,
Konflikte und Koordinationsschwierigkeiten entstehen.
Fremdattributionen sind deshalb so ubiquitär, weil anwesende
Beobachter normalerweise mühelos feststellen können, welche Geschehnisse
in welchen Verhaltensvollzügen welcher Personen ihre Ursache haben. Jeder
Interaktionsteilnehmer muss also permanent mitberücksichtigen, dass all
seine Verhaltensweisen von anderen als Ausdruckskundgaben gewertet werden
(können), aus denen sich Schlüsse auf seine Absichten, Fähigkeiten,
Stimmungen oder Charaktereigenschaften ziehen lassen.
Durch geeignete Vehaltensdisziplinierung mag es jedem Partner teilweise
gelingen, die von ihm erweckten Impressionen und Typifikationen in
Übereinstimmung mit seinen Selbstattributionen zu halten oder in rein
taktischer Absicht eine ihm vorteilhafte personale Selbstdarstellung zu
evozieren.
Aber andererseits gibt es zahlreiche Gründe dafür, warum eine
derartige zweckhafte Manipulation von Fremdbeurteilungen niemals dauerhaft
und vollständig gelingt:
- Zumindest auf der nonverbalen Verhaltensebene besitzt kein
Akteur ein vollständiges Wissen darüber, welche Kundgaben er
andauernd emittiert: z.B. weil er seine eigenen Bewegungsabläufe
nicht adäquat wahrnehmen kann und viele gestisch-mimische
Begleitäusserungen sich seinem Bewusstsein überhaupt entziehen (vgl.
2.2.4).
- Selbst eine vollständige Kenntnis aller eigenen Verhaltensabläufe
würde noch nicht das Problem ihrer mangelhaften Kontrollierbarkeit
beseitigen: weil (im Gegensatz etwa zu translokal-schriftlicher
Kommunikation) immer auch leibliche Manifestationen einfliessen, die
sich (wie z.B. Niesen, Rülpsen, Zittern, Stolpern) auf Grund ihrer
physiologisch-anatomischen Mitdeterminiertheit einer intentionalen
Steuerung entziehen.
- Auch bei vollständiger Kenntnis und Kontrolle bliebe noch das
Problem, dass dieselben Verhaltensweisen je nach den situativen
Bedingungen unterschiedliche Kausalwirkungen entfalten, und dass es
eher diese objektiven Konsequenzen als die (beabsichtigten und auch
vollzogenen) Verhaltensabläufe sind, an denen Betroffene ihre
Zurechnungen festzumachen pflegen. Dies zeigt sich beispielsweise in
der Neigung von Verkehrsunfallopfern, den Verursachern unabhängig
davon, welche objektiven Situationsbedingungen zum Malheur geführt
haben, eine subjektive Schuld zuzusprechen (vgl. Walster 1966; Wortman
1976), oder in der Tendenz von Eltern unterer sozialer Schichten, bei
ihren Kindern nicht so sehr "böse Absichten", sondern
ausschliesslich die zu objektiven Störungen oder Schäden führenden
Handlungen zu sanktionieren.
Die Schwierigkeiten eines Akteurs, selbstinduzierte Fremdattributionen
hinreichend voraussehen und/oder kontrollieren zu können, nehmen in dem
Masse zu, als seine Verhaltensweisen Merkmale des Idiosynkratischen,
Unkonventionellen, Unerwarteten an sich tragen. Denn Handlungen dieser Art
sind aus zwei Gründen besonders dazu disponiert, dispositional
attribuiert und als "empirisches Rohmaterial" für personale
Typifikationen verwendet zu werden:
- weil sie - bei gegebener Sensibilität des Publikums - dank ihrer
Auffälligkeit besonders viel Aufmerksamkeit und spontanes Interesse
auf sich ziehen;
- weil es nicht gelingt, eine ausserhalb des Akteurs liegende,
übersubjektive Zurechnungsquelle (z.B. eine kollektive Erwartung,
Norm, Regel, Weisung, Gewohnheit u.a.) zu identifizieren: so dass es
zwingend ist, ihre Ursache in der Person des Handlungssubjekts zu
suchen.
Unabhängig davon, ob EGO sich in Anwesenheit Anderer durch virtuose
Fähigkeiten oder enttäuschende Fehlleistungen, durch "originelle
Einlagen" (wie z.B. Witze, Clownerien etc.) oder offensichtliche
Delinquenzen profiliert, muss er dafür mit einem höheren Mass an
(zwangsläufiger) sozialer Selbstdarstellung bezahlen. Er muss dann
hinnehmen, dass man
- von ihm mehr als von anderen spezielle Begründungen und
Erklärungen für sein Verhalten (bzw. dessen Ergebnisse) fordert;
- Fremdtypifikationen seiner Person (hinsichtlich Charakter,
Fähigkeiten, Interessen, Stimmungen u.a.) überdurchschnittlich stark
auf solche Darstellungsleistungen ("performances")
abgestützt werden (während z.B. objektive Statusmerkmale,
Erinnerungen an vergangenes Verhalten u.a.m. vergleichsweise
unwichtiger werden).
Hinzu kommt, dass jemand, der auf Grund eines einzelnen auffälligen
Verhaltens Aufmerksamkeit erregt hat, nun eine Zeitlang generell im
Zentrum des Interesses steht und sich deshalb genötigt sieht, auch seine
übrigen Handlungen stärker zu disziplinieren.
Dementsprechend werden sich kollokale Interaktionsteilnehmer in der
Regel genötigt sehen, ihre Verhaltensweisen (wie auch ihre äussere
Erscheinung) zu deprofilieren, um den Strom der von ihnen selbst
induzierten, aber nicht überblick- und steuerbaren Fremdattributionen zu
verdünnen und sich dadurch von den Begründungs- und
Disziplinierungszwängen, die mit der Aufmerksamkeitszuwendung der
Mitanwesenden einhergehen, teilweise zu entlasten.
Dazu stehen zwei Strategien zur Verfügung, die meist in kombinierter
Weise verwendet werden:
- Passivierung: durch Aufsetzen eines "beherrschten
Gesichtsausdrucks" kann man ebenso wie durch Starrheiten in der
Kleidung oder kosmetische Massnahmen (Schminke u.a.) dafür sorgen,
dass der Körper generell weniger (vor allem: weniger unerwünschte,
unbewusste und unkontrollierte) Ausdruckskundgaben emittiert. Im
Unterschied zum Mechanismus der Desensibilisierung (vgl. 4) geht es
hier darum, die Komplexität der Stimuli von der emissiven (anstatt
rezeptiven) Seite her zu reduzieren: was wohl umso dringlicher ist, je
stärker Mitanwesende dafür sensibilisiert sind, aus der Mimik oder
anderen Leibeskundgaben Schlüsse zu ziehen.
- Konformismus: die strikte Anpassung des individuellen Verhaltens an
(explizite oder unterstellte) soziale Erwartungen, Normen, Regeln und
Gewohnheiten stellt die weitaus effektivste Strategie
verhaltensmässiger Disziplinierung dar.
Denn EGO erhält dafür den dreifachen Gewinn
- dass er im objektiven Sinne die anderen nicht stört (und
sie nicht zu entsprechenden reaktiven Sanktionen nötigt);
- dass er sich nicht ins Scheinwerferlicht allgemeiner
Aufmerksamkeit manövriert (und dadurch einen entsprechend
generalisierten Disziplinierungsdruck erfährt);
- dass er seine "wahre Person" wie hinter einem Schutzwall
verbergen kann: weil die andern geneigt sein werden, sein Verhalten
primär nicht als individuelle Ausdruckskundgabe, sondern als
Korrelat personenunabhängiger sozialer Erwartungen, Verpflichtungen
u.a. zu interpretieren (vgl. Goffman 1971: 43).
Diese Tendenz wird wahrscheinlich durch das sog. "discounting
principle" gestützt: d.h. durch die Regularität, dass prädominante
situative Zurechnungen dazu tendieren, konkurrierende dispositionale
Attributionen nicht nur graduell, sondern grundsätzlich zu verdrängen
(vgl. Kelly 1972).
So gibt es eine äusserst potente und ubiquitäre Motivationsquelle
für Verhaltenskonformität, die keineswegs irgendeiner konsensualen
inneren Übereinstimmung mit den einzuhaltenden Normen und Regeln
entspringt, sondern allein dem Bestreben, sich den unerwünschten und
risikoreichen Implikationen einer irgendwie auffällig wirkenden
Selbstdarstellung zu entziehen. Als sachlich generalisierte (d.h. von den
konkreten Norminhalten unabhängige) Motivationsquelle vermag sie auch
jene erstaunlichen, teilweise gar erschütternden Phänomene kollokaler
Verhaltenskonformität zu erklären, wie sie beispielsweise in den
Ergebnissen des "Milgram-Experimentes" sichtbar werden (Milgram
1974).
Die vereinigte "attributionsdämpfende" Wirkung von
Verhaltenspassivierung und Verhaltenskonformität kann sehr gut am
Beispiel jenes Syndroms konventionalisierter Erwartungen, die man
"gepflegte Erscheinung" nennt, veranschaulicht werden. Als
hochdifferenziertes Produkt vorangegangener Disziplinierungsleistungen
(Auswahl und Anziehen der Kleider, Frisieren, Zähneputzen, Desodorieren,
Fingernägelreinigen, Rasieren, Schminken etc. etc.) wird sie ins
kollokale Interaktionsfeld fertig mitgebracht, um dort die Funktion einer
invarianten Basisrolle ("korrektes Auftreten") zu übernehmen.
Als solche dient sie dazu,
- günstige initiale Attributionen zu induzieren: indem sie
den Kollokalpartnern suggeriert, eine im generellen Sinne zur
Selbstdisziplin und sozialen Einpassung fähige und willige Person vor
sich zu haben (vgl. Goffman 1971: 36ff.)
- die laufenden Interaktionsprozesse von aktuellen
Disziplinierungszwängen etwas zu entlasten: indem unkonventionelle
Einzelhandlungen viel eher als "untypische Ausrutscher"
wegerklärt (anstatt als symptomatische Äusserung einer
Persönlichkeitsstruktur gedeutet) werden, wenn ein
"grundsätzlich seriöses, vertrauenswürdiges Individuum"
sie vollzieht.
Wenn man hinzunimmt, dass "korrekt erscheinende" Personen
generell weniger auffallen und im Zentrum irgendeines sozialen Interesses
stehen, so ergibt sich daraus die - nicht nur von professionellen
Gangstern und Spionen längst erkannte und ausgenutzte - Schlussfolgerung,
dass "gepflegtes Auftreten" der aussichtsreichste Weg ist, um
sich ein Reservat für "sanktionsfreie Devianzhandlungen" zu
sichern: oder gar einen gewissen "Idiosynkrasiekredit" für
relativ primitive Benehmensweisen oder Redensarten, die bei
nachlässigerer äusserer Erscheinung als Symptome unzweifelhafter
"Unkultiviertheit", ja "Asozialität" gewertet
würden.
Wesentlich ist die Einsicht, dass sich in der "korrekten
Erscheinung" das Element der Konformität immer mit Komponenten der
Passivierung verbindet: indem die "angemessene Kleidung" ebenso
wie die geforderte "gleichmässig freundliche Miene" immer die
Eigenschaft haben, vielerlei leibliche Ausdrucksformen abzuschwächen oder
zu kamouflieren.
Bei besonders disziplinbedürftigen Anlässen feierlicher Art können
Uniformen, Mäntel, Talare, Zylinderhüte, Roben, Messgewänder oder
andere deprofilierende Kleidungsformen die Wirkung haben, die leiblichen
Ausdrucksmöglichkeiten (und entsprechenden Selbstdarstellungsrisiken) auf
ein Minimum zu reduzieren.
Wenn kollokale Sozialsysteme einerseits bekanntlich dazu disponiert
sind, durch die selbsttragende Fluidität ihrer inneren Prozesse
konventionelle Festlegungen und traditionale Erstarrungen zu unterminieren
(vgl. 4.3), so erweisen sie sich hier andererseits genau umgekehrt als
Interaktionsfelder, die derartige Konventionalismen mittels ständiger
Reproduktion am Leben erhalten oder sogar - wie man wiederum an der
höfischen Gesellschaft Frankreichs illustrieren kann - zusätzliche
Rigidifizierungen endogen erzeugen:
"Den Panzer der Selbstzwänge, die Masken, die alle einzelnen
Menschen der höfischen Eliten nun in höherem Masse als zuvor als Teil
ihres Selbst, ihrer eigenen Person, entwickeln, distanziert auch in
höherem Masse als zuvor die Menschen voneinander. Verglichen mit der
vorangehenden Periode sind nun am Hof die spontanen Impulse der Menschen
beim Verkehr miteinander in höherem Masse gezügelt. Überlegungen, die
rasche Bestandesaufnahme der Situation, das Auspeilen des Handlungskurses,
kurzum Reflexionen schieben sich nun mehr oder weniger automatisch
zwischen den affektiven und spontanen Handlungsimpuls und die
tatsächliche Ausführung der Handlung in Wort und Tat. Oft genug sind
sich die Menschen auf diesem Plateau der Reflexion als Bestandstück
dieser Panzerung sehr wohl bewusst. Je nach ihrer Lage bewerten sie sie
positiv unter dem Namen "Vernunft" oder romantisch und negativ
als Fessel des Gefühls, als Störungserscheinung, als Entartung der
Menschennatur - wie immer sie sie bewerten, sie nehmen diese ihre
Selbstzwänge, ihre Panzerung und die Distanzierungsart, die ihnen
entspricht, nicht als Symptome einer bestimmten Stufe der
menschlich-gesellschaftlichen Entwicklung, sondern als ewige
Eigentümlichkeit der unveränderlichen Menschennatur wahr." (Elias
1983: 359/360).
Um die "Ianusgesichtigkeit" kollokaler Sozialsysteme (d.h.
ihre Eigenschaft, Konventionalismen einerseits zu erodieren und
andererseits zu konsolidieren) besser zu verstehen, muss man die
zusätzlichen Bedingungen identifizieren, unter denen eher die eine oder
eher die andere dieser beiden Eigenschaften vorrangig in Erscheinung
tritt.
An dieser Stelle sei nur auf vier solcher Bedingungen hingewiesen, die
mit einer erhöhten Tendenz zur Konformität und Rigidifizierung in
Zusammenhang stehen könnten:
1) Grad an "Öffentlichkeit"
Die Risiken, die mit unkonventionell-idiosynkratischem oder abweichendem
Verhalten verbunden sind, nehmen in dem Masse zu, als sich der Akteur ihm
unbekannten oder gar unkontrollierbar-wechselnden Mitanwesenden gegenüber
befindet.
Diese in allen öffentlichen Lokalitäten (oder bei grösseren privaten
Anlässen wie z.B. Cocktail-Parties) vorherrschende Situation ist dadurch
charakterisiert, dass jeder Akteur
- grosse Unsicherheit darüber verspürt, wie seine
Verhaltensweisen wahrgenommen, gedeutet und beantwortet werden: und
vor allem aus Unkenntnis darüber, wie der konventionellste,
intoleranteste oder vorlauteste "Grenzteilnehmer" darauf
reagieren wird, sich prophylaktisch zu strikter Konformität und
Unauffälligkeit genötigt sieht;
- damit rechnen muss, dass die Mitanwesenden sich ausschliesslich auf
seine aktualen Verhaltensweisen abstützen, um sich von seiner
Persönlichkeit ein Bild zu machen: weil sie ihn ja nicht aus
vergangenen Handlungen kennen und auch über seine formellen
Statusmerkmale nicht Bescheid wissen können.
Aus diesen zwei Gründen ist häufig allein schon mit anwachsender Zahl
von Anwesenden ein vermehrter Disziplinierungs- und Konformitätsdruck
verbunden. Er kann Individuen nicht nur an der Ausführung
negativ-devianter, sondern auch positiv-meritorischer Handlungen hindern:
z.B. wenn sie bei einer grösseren Zahl von "bystanders" weniger
geneigt sind, verunglückten Personen zu Hilfe zu eilen, weil jeder
befürchtet, sich (z.B. als jemand, der die Situation fehlgedeutet hat
oder zur Hilfeleistung zu ungeübt ist) unvorteilhaft zu profilieren (vgl.
Latané/Darley 1970).
2) Relevanz und "Sanktionsmacht" der Mitanwesenden
Der Bedarf nach Voraussicht und/oder Kontrolle der durch das eigene
Verhalten evozierten Fremdbeurteilungen und Fremdreaktionen ist umso
grösser, je mehr Bedeutung diese externen Zuschauer für den Akteur
besitzen: z.B. wenn sie in der Lage sind, an ihr Urteil erhebliche
Sanktionen anzuknüpfen oder gar das künftige Lebensschicksal EGO's
mitzudeterminieren.
Fast unerträglich wird die Last der Selbstdisziplinierung, wenn diese
relevanten Personen (noch) unbekannt und unvertraut sind: z.B. in
Anstellungsgesprächen, wo alles weitere davon abhängt, wie man eine
einzige, unwiederbringliche Gelegenheit zur persönlichen
Selbstdarstellung "besteht", oder beim ersten Rendez-Vous mit
einem Wunschpartner, dessen Ausgang mitentscheidet, ob es überhaupt noch
weitere Zusammenkünfte gibt.
Nicht zuletzt dank der vielgeschmähten hierarchischen Ordnung der
Gesellschaft ist aber gewährleistet, dass es sich bei derart
einflussreichen Beurteilern häufig um klar identifizierbare und
langfristig in denselben Rollen verharrende Personen handelt, zu denen man
sich mindestens nach und nach in ein vertrauteres Verhältnis setzen kann.
Nur wenige "Darstellungskünstler" brauchen sich deshalb
permanent einem gleichzeitig sanktionsmächtigen und
unvorhersehbar-variablen Publikum zu exponieren und jenes für Sänger,
Schauspieler, aber auch Vortragsredner charakteristische
"Lampenfieber" zu erleiden, das sich bei jedem Auftritt immer
wieder erneuert.
3) Exponiertheit
Unter besonders ausgeprägtem Disziplinierungsdruck befinden sich
Personen, die sich bereits aus Ursachen, die nicht mit ihrem konkreten
Verhalten zu tun haben, im Fokalpunkt kollokaler Aufmerksamkeit befinden:
- aus physischen Gründen: z.B. weil sie wegen ihrer Körpergrösse
herausragen oder wegen ihrer auffälligen Verkrüppelung
überdurchschnittliche Beachtung erregen, oder weil sie sich durch ihr
abweichendes Alter oder Geschlecht (z.B. als "einzige Frau unter
Männern") gegenüber allen übrigen Anwesenden profilieren;
- aus strukturellen Gründen: z.B. als Tagungsteilnehmer, der die
Rolle des Sitzungsleiters übernommen hat oder der gerade jetzt - aufs
Mikrophon zuschreitend - die Sprecherrolle in der Diskussion
übernimmt;
- aus ökologischen Gründen: z.B. als Kneipengast, der als einziger
einsam am Tische sitzt, oder als verspätet erscheinender
Sitzungsteilnehmer, der die Blicke der Anwesenden wie Spiessruten
empfindet, wenn er auf seinen Platz zustrebt.
Bekanntlich hat die radiale Aufmerksamkeitskonzentration Vieler auf einen
Einzelnen zur Folge, dass sich das Sozialsystem insgesamt destabilisiert:
weil es sich in allen wesentlichen Verhältnissen dafür empfindlich
macht, wie diese eine Fokalperson agiert (vgl. 2.2.5) Indem diese Person
unter einen entsprechend hohen Deprofilierungs- und Konformitätsdruck
gesetzt wird, mag es gelingen, diese Risiken wesentlich zu neutralisieren.
4) Zeitdruck
Ein grosser Vorzug der "korrekten persönlichen Erscheinung"
besteht darin, dass sie praktisch keine Zeit braucht, um als
Gestalteinheit intersubjektiv übermittelt und als Ansatzpunkt für eine
(allerdings eher intuitive und diffuse) personale Fremdtypifikation
wirksam zu werden.
Wer hingegen bestrebt ist, seine Verhaltensweisen und Leistungen als
Medien zu benutzen, um sich selbst auf eine selbstgewählte Art
darzustellen und bei andern ein bestimmtes Bild seiner Person zu
evozieren, muss daran interessiert sein, möglichst viel Darstellungszeit
zur Verfügung zu haben
- um durch geeignete Variation seiner Verhaltensweisen ein
möglichst vielseitiges, differenziertes Bild seiner selbst vermitteln
zu können,
- um das bei jeder einzelnen Handlung involvierte Risiko, durch
zufälliges Fehlverhalten oder situationsbedingte Misserfolge einen
"falschen Eindruck zu erwecken", über möglichst viele
Gelegenheiten hinweg zu streuen.
Je weniger Zeit verfügbar ist, desto mehr verschärft sich
- der Selektionsdruck: unter vielen möglichen jetzt gerade
die "richtigen", für die Selbstdarstellungsstrategie
optimalsten, Verhaltensweisen auszuwählen;
- der Disziplinierungsdruck: gerade in diesem Augenblick fehlerfrei
und erfolgreich zu agieren: um folgenschwere Fehlattributionen zu
vermeiden, zu deren Korrektur man vielleicht gar keine Gelegenheit
mehr findet.
Die Wahl wird dann verständlicherweise meist auf gut eingeübte,
konventionelle (und sicher nicht auf experimentell-innovatorische)
Verhaltensweisen fallen: weil man im voraus weiss, dass diese praktisch
nie misslingen und mit Sicherheit zumindest keine negative Typifizierung -
meist allerdings auch keine sehr positive - nach sich ziehen (vgl. z.B.
Bierhoff 1980: 156)
4. Bedarf nach habitualisierten und ritualisierten Verhaltensmustern
Wo immer Individuen (oder auch kollektive Akteure wie z.B. Organisationen)
genötigt sind, auf unerwartete Ereignisse ohne Zeitverzug und möglichst
erfolgssicher zu reagieren, fehlt jeglicher Spielraum um
- die spezifischen, vielleicht gar singulären Merkmale eines
Ereignisses oder einer Problemsituation differenziert wahrzunehmen,
- eine auf diese Spezifitäten zugeschnittene, vielleicht sogar
völlig innovative Verhaltensweise oder Problemlösungsstrategie zu
konzipieren,
- noch wenig erprobte Verfahrensweisen auszutesten, deren Ausführung
man nur unvollständig beherrscht und/oder über deren kausale
Wirkungen oder symbolische Konnotationen man zu wenig weiss.
Vielmehr sieht sich der Akteur auf einen "eisernen Bestand
habitualisierter Verhaltensroutinen" verwiesen: auf gut eingeübte
Reaktionsschemata, die dank ihrer simplifizierten und stereotypisierten
Struktur jederzeit mit einem Minimum an Reflexionsaufwand auf dieselbe
voraussehbare Weise reproduziert werden können (vgl. Fentress 1976: 162).
Autofahrer, Bergsteiger, Kriminalkommissare, Notfallärzte und
Katastrophenhelfer finden sich in derselben paradoxen Lage, dass gerade
die unaufhebbare Instabilität und Unvorhersehbarkeit ihrer Problemumwelt
dazu nötigt, ein Repertoire äusserst rigide programmierter
Reaktionsregeln und Verhaltensabläufe zu benutzen, die in
internalisierter Form (als habitualisierte "Reflexe") und im
externalisierten Aggregatzustand (z.B. als Regelhandbuch für
Polizeifunkstreifen) zugreifbar sind.
Wer innerhalb einer Umwelt, in der man nicht weiss, wann was geschieht,
dennoch effektiv und effizient handeln möchte, muss dies mit folgenden
Einschränkungen bezahlen:
- An die Stelle einer generalisierten, für beliebige Fälle
gerüsteten Problemlösebereitschaft tritt ein begrenztes Spektrum
sachspezifischer Reaktionsbereitschaften: je nach dem Repertoire
zugreifbarer Regeln und Routinen, die (sowohl im internalen wie im
externalen Speicherzustand) immer die Form eines Arsenals separierter
einzelner Verfahrensprogramme besitzen.
- Weil der unendlichen Mannigfaltigkeit und Variabilität empirischer
Situationen und Problemkonstellationen nur eine starr begrenzte Anzahl
von Reaktionsmustern gegenübersteht, wird es nötig, die konkreten
Ereignisfälle unter einen groben Kategorienraster zu subsumieren und
selbst auf offensichtlich verschiedenartige Einzelfälle dieselben
Verhaltensschemata zu applizieren.
- Weil sowohl institutionell verfertigte Regelhandbücher wie auch
intraindividuell verfestigte Habitualisierungen auf zeitliche
Stabilität hin angelegt und nur mit aufwendigen Verfahrensweisen
modifizierbar sind, bleiben die reaktiven Kapazitäten auf Bereiche
langfristig stabiler und sich häufig wiederholender
Ereigniskonstellationen eingeschränkt, während sehr selten
auftretende und qualitativ neuartige Fälle unbewältigt bleiben.
Eine Ergänzung des stereotypen Reaktionsrepertoires durch zusätzliche
Routinen gelingt nur, wenn die entsprechenden neuen Problemtypen vorerst
nicht unter Zeitdruck und Erfolgszwang bewältigt werden müssen.
Kollokale Interaktionsfelder haben nun die Eigenheit, dass die
Teilnehmer sich in ihnen sehr häufig unerwarteten Ereignissen, auf die
dringlich reagiert werden muss, gegenübersehen: so dass sie stärker als
in translokalen oder alokalen Sozialverhältnissen darauf verwiesen sind,
sich von starr programmierten (häufig in der Frühsozialisierung
erworbenen und der bewussten Reflexion kaum zugänglichen)
Verhaltensroutinen leiten zu lassen.
Allerdings sind hier zwei Determinationsquellen der
Verhaltensroutinisierung zu unterscheiden: je nachdem, ob sich das
Individuum nur in situativer oder auch in interaktiver Hinsicht auf die
Mitanwesenheit Anderer bezieht.
Auf der ersten, rein situativen Ebene stellen mitanwesende Personen
genauso wie unberechenbare Tiere, unübersichtliche Stromschnellen oder
böenartige Segelwinde eine Quelle unvorhersehbarer Kausalwirkungen und
Umweltereignisse dar, die dazu nötigen, ein Repertoire standardisierter
adaptiver Gegenreaktionen in Vorrat zu halten. Dazu gehören etwa
reflexartige Bewegungen des Ausweichens und Distanzhaltens, die im
Strassenverkehr überlebenswichtige Bedeutung gewinnen, oder jene geradezu
artistischen Fähigkeiten, die nötig sind, um sich in dichtgedrängten
Zuschauermassen einen privilegierten Standort und genügend
Ellbogenfreiheit zu verschaffen.
Auf der zweiten, interaktionellen Ebene findet man jene
Verhaltenskundgaben, die zwar auf denselben Mechanismen psychischer
Gewöhnung und motorischer Einübung basieren, zusätzlich aber auch
daraufhin ausgerichtet sind, im intersubjektiven Feld die Funktion von
symbolischen Ausdruckshandlungen zu erfüllen.
Dazu gehören z.B. jene fast perfekt automatisierten, nur mit einem
Sonderaufwand an Bewusstmachung und Verhaltensdisziplin überwindbaren
Gewohnheiten
- auf das Zusammentreffen mit einem guten Bekannten (wie zufällig und
unerwartet es auch sei) mit einem stereotypisierten Ritual des
Grüssens zu reagieren;
- bei kurzfristig sich wiederholenden Begegnungen mit derselben Person
zu abgeschwächten, aber immer noch merklichen Erkennungsreaktionen
überzugehen und schliesslich nur noch mit einem "stehenden
Lächeln" auf dem Gesicht an ihr vorüberzugehen (Goffman 1971);
- Interaktionsverhältnisse, die durch versehentliche körperliche
Übergriffe oder wechselseitige Verhaltensbehinderungen aus dem
Gleichgewicht geworfen sind, durch kurze "Korrektivrituale"
(Entschuldigungen, Erklärungen u.a.) zu reäquilibrieren (vgl.
Goffman 1974: 138ff.)
Im Grenzfall können derartige Ritualvollzüge einen ähnlichen Grad der
Zwangshaftigkeit, wie er bestimmten physiologischen Reflexen eigen ist,
erhalten: mit der Folge, dass eher ihre Unterlassung als ihre Ausführung
den Charakter einer bewussten, mit subjektiver Sinngebung ausgestatteten
Intentionalhandlung besitzt:
"In unserer Gesellschaft ist diese für Erkennungsrituale
charakteristische Regel normalerweise etwas so Eingefleischtes, dass ein
Individuum, das diesen Akt aus strategischen Gründen zu vermeiden sucht,
(geschehe dies nun einseitig, indem es so tut, als hätte es den andern
nicht gesehen, oder beidseitig, indem beide so tun, als ob sie nicht in
einem Grussverhältnis zueinander stünden) sich bewusst dazu zwingen
muss, seine Neigung zu grüssen, zu unterdrücken.
Und wenn ein Bekannter eines Individuums unmittelbar vor diesem
auftaucht und darauf besteht, gegrüsst zu werden, obwohl er vorsätzlich
übersehen wurde, ist eine ziemlich grosse Charakterstärke notwendig, um
ihn trotzdem konsequent nicht zu grüssen (Goffman 1974: 113/114).
Wenn individuelle Habitualisierungen als Interaktionsrituale in
Anspruch genommen werden, hat dies zweierlei Konsequenzen:
1) Die Verhaltensweisen werden teilweise oder ganz davon
entlastet, als hinreichende Ursachen physischer Bewirkungen zu fungieren.
Anstelle einer räumlichen Distanznahme kann eine blosse Abwendung des
Blicks genügen, um einer unerwünschten Begegnung "aus dem Wege zu
gehen"; und eine mit der Bitte um Nachsicht verbundene verbale
Entschuldigung, nicht die effektive Heilung der versehentlich getretenen
Zehe ist hinreichend, um das Interaktionsverhältnis zu reharmonisieren.
Deshalb wird es leichter möglich, als Medien ritueller
Symbolisierungen völlig voraussetzungslose (weil an keine
Kraftanstrengung oder Qualifikation gebundene) Verhaltensmuster zu
wählen, die von jedermann jederzeit in identischer Weise aktualisierbar
sind: ganz unabhängig von den variablen psychischen Dispositionen oder
situativen Umweltbedingungen, in denen sich ein zur Reaktionshandlung
evozierter Akteur gerade befindet.
2) Die Ritualhandlungen stehen dafür umso stärker unter der
Restriktion, dass nicht nur ihre Produktion ("Enkodierung"),
sondern auch ihre Rezeption ("Dekodierung") den Bedingungen
voraussetzungsfrei-universeller Zugänglichkeit, zeitlicher
Unmittelbarkeit und beliebig häufiger, präziser Wiederholbarkeit
genügt. Dementsprechend schrumpft die Sphäre geeigneter Verhaltensweisen
auf den relativ begrenzten Kreis besonders prägnanter, aus dem
(akustischen oder visuellen) Wahrnehmungsfeld durch klare Gestalt
profilierter körperlicher Ausdruckskundgaben (Kopfnicken,
Händeschütteln) oder Verbalformen zusammen, die auch von sehr
verschiedenartig vorsozialisierten, ja selbst sensorisch behinderten
Rezipienten auf identische Weise wahrgenommen und gedeutet werden können
und auch keine besondere Fokussierung der Aufmerksamkeit erforderlich zu
machen.
Zumindest im Bereich nonverbaler, gestischer Ausdruckskundgaben ist das
Repertoire an dafür geeigneten motorischen Ablaufmustern derart gering,
dass sich in praktisch allen Kulturen dieselben rituellen Verhaltensweisen
finden: ohne dass es zur Erklärung derartiger Konvergenzen notwendig
wäre, biologisch fundierte anthropologische Invarianzen zu postulieren
(vgl. Morris/Collett/Marsh/Shaughnessy 1979; Kendon 1983: 35).
Komplementär zu den übrigen Formen verhaltensmässiger
Disziplinierung machen habitualisierte Rituale eine Basisebene kollokaler
Systemregulation verfügbar: charakterisiert durch vier
Funktionsleistungen, die nicht durch die "höheren" Niveaus
intentionalen Handelns und Kommunizierens substituierbar sind.
1) Sie sind permanent aktualisierbar, ohne dass zu ihrer
Aktualisierung Zeit (für Situationsbeurteilungen, Entscheidungen,
Ausführungsplanungen) u.a. aufgewendet werden müsste. Deshalb sind sie
unentbehrlich, um den ununterbrochenen Fluss wechselseitiger
Kommunikationen und Kooperationen aufrechtzuerhalten, aus denen
Kollokalsysteme ihre charakteristische prozessuale Fluidität (vgl. 4.3)
gewinnen.
2) Sie sind ubiquitär verfügbar, ohne dass hinsichtlich der
Merkmale der Anwesenden oder der Bedingungen ihrer äusseren Situation
besondere Voraussetzungen notwendig wären. Deshalb sind sie dafür
mitverantwortlich, dass die zeitlich-räumliche Kopräsenz mehrerer
Personen fast unvermeidlicherweise zur Initiierung sozialer Beziehungen
führt (vgl. 3.2).
3) Dank der "Robustheit" der verwendeten Enkodierungs-
und Dekodierungsverfahren und der äussersten Standardisiertheit ihrer
Symbolgehalte konstituieren sie die zuverlässigste und
erwartungssicherste Ebene intersubjektiver Verständigung, die es gibt. So
dienen Akte der Begrüssung der "Einklammerung von Zeitphasen
erhöhter wechselseitiger Zugänglichkeit" (Goffman 1974: 116ff.):
weil durch ihren Vollzug eine völlig zweifelsfreie Verständigung
darüber geschaffen wird, dass jetzt gerade eine Situation wechselseitiger
Zuwendung und Kommunikationserwartung besteht (die durch einen ebenso
unmissverständlichen Akt des Abschiednehmens einen ähnlich prägnanten
Abschluss findet).
So konstituieren Interaktionsrituale (ähnlich wie formale Regeln bei
Organisationen) eine Art "Ausgangsplattform", von der dann die
problematischeren, weniger erfolgssicheren sozialen Kommunikationen
anspruchsvollerer Natur ihren Ausgang nehmen können.
4) Sie ermöglichen es, die für die kollokale Systemregulation
nötigen Verhaltensdisziplinierungen auf einen residualen
"Nebenschauplatz" abzudrängen: d.h. auf Prozesse, die praktisch
keine Aufmerksamkeitsleistungen oder Handlungsressourcen beanspruchen und
deshalb den Fortgang der viel wichtigeren thematischen Interaktion (z.B.
die Durchführung eines Gesprächs oder die kooperative Erzeugung eines
Produktes) nur wenig behelligen. Hingemurmelte "sorries", um
Verzeihung heischende Blicke oder entlastende Scherzworte können ganz
beiläufig eingestreut werden, um soeben erfolgte Störereignisse zu
neutralisieren, oder um im voraus sicherzustellen, dass intendierte
Normverstösse oder sonstige Irritationen klaglos hingenommen werden.
Wenn es einerseits zutrifft, dass Kollokalsysteme dank ihrer
interaktionellen Fluidität zu besonderen Flexibilitäts- und
Innovationsleistungen befähigt sind (vgl. 4.3), so ist es andererseits
ebenso zutreffend, dass Sozialsysteme mit derartigen Eigenschaften
paradoxerweise auf ganz besonders rigiden und irreversibel verfestigten
Strukturprinzipien und Funktionsweisen beruhen.
Ähnlich wie es gelingt, die revolutionärsten mathematischen Theorien
oder philosophischen Argumentationen mit sehr einfachen technischen
Mitteln (Papier und Bleistift) zu verfertigen, werden die innovativsten
Leistungen in Politik, Kunst, Wissenschaft etc. von informellen
Kollokalgruppen (z.B. Entscheidungsgremien, Diskussionszirkeln,
Forscherteams u.a.) erzeugt, in denen archaische rituelle Verhaltensweisen
und atavistische Formen nonverbaler Kommunikation grösste funktionale
Bedeutung haben.
Sie beruhen auf universell verbreiteten, selbst von
"asozialen" Menschen mit erstaunlicher Virtuosität beherrschten
Verhaltens- und Interpretationsregeln, die in unbeeinflussbaren, teilweise
nicht einmal identifizierbaren Sozialisationsprozessen zuverlässig
übermittelt werden (vgl. Goffman 1974: 9ff.), und die jene fundamentalste
generative Konstitutionssphäre aller sozialen Erscheinungen bilden, um
deren Erhellung sich Soziologen (bzw. Ethnomethodologen) erst in jüngerer
Zeit ernsthaft bemühen.
5. Aussegregation von "Vorderbühnen" und
"Hinterbühnen"
In dem Masse, wie sich ein Sozialsystem nach seiner eigenen Logik
entfaltet und seinen Teilnehmern eine an seinen eigenen
Integrationsbedürfnissen und Leistungimperativen orientierte
Verhaltensdisziplin aufzwingt, wird es in ein gewisses
Spannungsverhältnis zu
- den andern sozialen Einbindungen
- den psychischen und physiologischen Systemregulationen und
Bedürfnissen
seiner individuellen Mitglieder geraten.
Entsprechend sehen sich insbesondere die an Kriterien zweckrationaler
Effektivität und Effizienz orientierten Kollektive (z.B.
Betriebsorganisationen) gezwungen, sich im vornherein auf ein (in
zeitlicher und sachlicher Hinsicht) streng partialisiertes Engagement
ihrer Mitglieder zu beschränken und ihnen als Kompensation für diese
"Dienstloyalität" zu einer besseren Entfaltung ihrer
ausserorganisationellen Entfaltungschancen (vor allem durch finanzielle
Entschädigungen) zu verhelfen.
Insofern eine Organisation unselektiv verschiedenste Lebensbezüge
eines Individuums einbegreift und sich dem Idealtypus der "totalen
Institution" annähert, bekundet sie regelmässig grosse Mühe, ihre
formalen Regeln gegen die allerorts wuchernden Praktiken "informeller
Organisation" und "devianter Subkulturen" durchzusetzen
(vgl. z.B. Goffman 1973: passim; Lang 1965; Berk 1966 u.a.)
Auch für kollokale Interaktionsfelder gilt das Dilemma, dass eine
wachsende Binnendisziplinierung des Teilnehmerverhaltens eine schärfere
Abgrenzung des Sozialsystems gegenüber seiner Umwelt und seine striktere
Limitierung auf bestimmte Zeiträume, Sachthemen oder
Situationsbedingungen (bzw. auch eine selektivere Zusammensetzung der
Mitglieder) erzwingt.
Die Aussegregation konstituiert sich dann auf die doppelte Weise, dass
- Kollokalfelder mit hohem Disziplinierungsniveau inselförmig
separiert werden gegenüber Phasen und Situationen zwangloseren
Zusammenseins, wo die übrigen sozialen Rollen und die
psychisch-physischen Bedürfnisse der Mitglieder besser zur Geltung
kommen;
- gegenüber dem Gesamtbereich kollokaler Interaktion eine
"Privatsphäre" abgespalten wird, innerhalb der das
Individuum - von Fremdwahrnehmungen geschützt - unbelastet von
kommunikativen Implikationen und interaktiven Disziplinierungszwängen
agiert.
Goffmans an der Metaphorik des Theaters orientierte Unterscheidung
zwischen "frontstage" und "backstage" ist geeignet,
diesen beiden Modi sozialer Systemdifferenzierung Rechnung zu tragen.
Die "frontstage" stellt einen meist sowohl in zeitlicher wie
in sachlicher und sozio-struktureller Hinsicht scharf ausgegrenzten
Situationsrahmen dar, innerhalb dem kollokale Interaktionsprozesse von
überdurchschnittlich hoher Diszipliniertheit, Berechenbarkeit und
Normentreue stattzufinden pflegen.
Die Limitierungen derartiger Sozialsysteme ergeben sich aus den allen
Beteiligten abverlangten Anstrengungen, die notwendig sind, um den
Interaktionsablauf vor den unkontrollierten und unvorhersehbaren
Wechselwirkungen, die mit kollokalem Beisammensein unvermeidlich
verknüpft sind, zu schützen und auf jenen streng geordneten Bahnen zu
halten, die beispielsweise durch ein dramaturgisches Skript oder eine
formell institutionalisierte Statusordnung vorgezeichnet sind.
Es sind vor allem drei Bedingungen, unter denen sich eine derartige
Konstellation häufig ergibt:
1) Wenn eine Kollokalgruppe sich im Aufmerksamkeitsfokus eines
Publikums befindet, das von ihr einen nach bestimmten Regeln ablaufenden
und/oder in bestimmten Produktionsleistungen terminierenden kooperativen
Interaktionsablauf (z.B. die Aufführung eines Theaterstücks, die
Abhaltung einer Podiumsdiskussion, das Servieren einer Mahlzeit oder die
Zelebration eines standardisierten Ritus) erwartet.
Vor allem bei unvertrautem und/oder unkontrolliert fluktuierendem
Publikum (d.h. in öffentlichen Räumen) müssen die Akteuren davon
ausgehen, dass das Bild, das sie den Zuschauern von ihrer Persönlichkeit
und ihren Qualifikationen vermitteln, sich praktisch ausschliesslich aus
den von ihnen vorgezeigten "Darstellungskünsten" ergibt: so
dass sie unter dem doppelten Disziplinierungsdruck stehen, erstens zu
einer erfreulichen Gesamtaufführung des "Ensembles" beizutragen
und sich zweitens selbst dabei auf günstige Weise zu profilieren.
Die Spannungen und Widersprüche, die zwischen beiden
Darstellungsrollen möglich sind, werden beispielsweise in manchen
Mannschaftssportarten (Fussball, Handball u.a.) sichtbar, wo
offensichtlich ist, dass die Siegeschancen eines Teams durch die
Profilierungssucht ihrer einzelnen Mitglieder schwer beeinträchtigt
werden können.(vgl. Cachey/Fritsch 1983)
Die sich korrelativ zu derartigen "Inszenierungen"
konstituierenden Hinterbühnen haben dann die doppelte Funktion
- unbelastet von kritischen Fremdwahrnehmungen die
prosaischen Vorbereitungen (Herrichtung der Kulissen, Kostümierung
u.a.) und oft sogar peinlich wirkenden Erprobungen (von
Gesangsstimmen, Mikrophonen u.a.) zu ermöglichen, die zur
Gewährleistung eines tadellosen Publikumseindrucks und zur Sicherung
eines planmässigen, fehlerfreien Aufführungsablaufs unerlässlich
sind;
- nach dem anstrengenden "Bühnengeschehen" als ein
kompensativer Entspannungs- und Erholungskontext zu dienen, wo es
gelingt, aufgestaute physiologische und psychische Bedürfnisse sowie
die in Latenz versetzten sozialen Beziehungsaspekte (z.B. geselliger
oder sozio-emotionaler Natur) zu ihrem Recht kommen zu lassen.
Sicher sind auch die kollokalen Interaktionen "hinter der
Bühne" nicht völlig von kommunikativen Darstellungszwängen
befreit, und häufig genug kommt es vor, dass auch das dort aktualisierte
Verhalten eine - wiederum anstrengende und vielleicht die
Ausdifferenzierung einer sekundären "backstage" erfordernde -
Stilisierung zur "theatralischen Pose" erfährt (Goffman 1983:
123)
Das "Disziplinierungsgefälle" gegenüber der Vorderbühne
scheint zentral davon abzuhängen, dass die Mitglieder des Ensembles auf
Grund wechselseitiger Vertrautheit bereits stabilisierte Typifikationen
voneinander besitzen und deshalb davon dispensiert sind, auch ihr
Verhalten untereinander als Medium des "Impression management"
zu benutzen.
2) Wenn kollokale Interaktionssysteme von den Beteiligten als Vehikel
benutzt werden, um institutionalisierte (bzw. gar formalisierte)
Strukturverhältnisse oder Prozessabläufe zu aktualisieren.
Ein unaufhebbares Dilemma besteht darin, dass
- einerseits immer das Medium kollokaler Interaktion vonnöten ist, um
institutionell fixierten Statusordnungen (z.B. zwischen Lehrern und
Schülern, Soldaten und Offizieren) Realitätsgehalt zu verleihen oder
um vorprogrammierte Prozessabläufe (z.B. Gerichtsverfahren oder
organisatorische Produktionsvorgänge) in statuum operandi
überzuführen;
- diese selben Kollokalfelder aber mannigfache Gefahren der
Relativierung und Erosion derartiger Schemata in sich tragen: Risiken,
die nur im limitierten Rahmen einer disziplinierten
"Vorderbühne" unter Kontrolle gehalten werden können.
Das Durchhalten vorgezeichneter Statusordnungen, Rollenspezialisierungen
oder Verhaltenskoordinationen erweist sich deshalb als schwierig, weil den
hohen Differenzierungen individueller Identitäten und Verhaltensweisen
meist keine ähnlich grossen faktischen Unterschiede persönlicher
Motivationen oder Qualifikationen entsprechen, und weil die ex ante
stabilisierten Schemata unvermeidlicherweise durch "informelle",
aus der Eigendynamik interpersoneller Wahrnehmungen und Kommunikationen
hervorgehende Muster überlagert werden.
Systematisch bereitgestellte Nischen für Informalität (in der Form
von Pausen, geselligen Mahlzeiten, Betriebsausflügen u.a.) geben dann
Gelegenheit, jene Gleichartigkeiten (bzw. ganz andersartigen, z.B. auf
Persönlichkeitsmerkmalen beruhenden Differenziertheiten) zwischen den
Mitgliedern zur Geltung kommen zu lassen, die in der institutionellen
Vorderbühnensituation latent gehalten werden müssen. Soll aber "der
Schein gewahrt werden", bleibt den Angehörigen verschiedener
Statuskategorien oft nicht anderes, als sich auf separate Hinterbühnen
zurückzuziehen - und dort ohne kompromittierende Fremdwahrnehmung
einander ähnlich zu werden:
"Wenn die Schüler das Klassenzimmer verlassen und der
Vertraulichkeit und dem schlechten Benehmen freien Lauf lassen, merken sie
oft nicht, dass sich ihre Lehrer ins Lehrerzimmer zurückgezogen haben, um
auf ihrer Hinterbühne sich ganz ähnlich zu verhalten, zu fluchen und zu
rauchen." (Goffman 1983: 121)
Ebenso muss sich das Servierpersonal eines Restaurants meist in die
Küche zurückziehen, um seinen Bedürfnissen nach Speise, Trank und
geselliger Konversation, die denen der zu bedienenden Gäste völlig
vergleichbar sind, zur Befriedigung zu verhelfen.
3) Wenn Individuen der Kontrolle ihrer Verhaltensweisen und
Ausdruckskundgaben besonders hohe Beachtung schenken müssen, weil ihre
kollokalen Partner geneigt sind, solche Äusserungen dispositional zu
attribuieren und ihr Urteil über die Persönlichkeit des Akteurs (seine
Charaktermerkmale, Qualifikationen, Interessen u.a.) daran festzumachen.
Diese Konstellation kommt besonders häufig bei jenen Individuen vor,
denen man auf Grund ihrer hohen Statusposition oder aus anderen Gründen
die Möglichkeit zuschreibt, autonom zu entscheiden und zu handeln: so
dass es unausweichlich wird, die Art ihrer Beschlüsse oder
Verhaltensweisen ihrer Person (anstatt den von ihnen nicht zu
verantwortenden Situationsbedingungen) zuzurechnen.
Daraus ergibt sich das bisher selten beachtete Paradoxon, dass soziale
Akteure jeden Zuwachs an äusserlicher Handlungsautonomie damit bezahlen,
dass sie mehr Verhaltensdisziplin aufwenden müssen, um keine ihnen
missliebigen oder schädlichen Fremdbeurteilungen zu evozieren.
Diese Problematik wird allerdings in dem Masse abgeschwächt, als diese
selben Personen
- auf Grund ihrer sozialen Macht- und Autonomieposition es sich eher
leisten können, sich um die Meinung, die andere, niedriger Gestellte
von ihnen haben, zu foutieren;
- anderen erfolgreich suggerieren, dass ihr Verhalten
situationsbedingt (z.B. durch die "Gesetzeslage" oder die
"geschäftliche Konkurrenzsituation determiniert) sei und deshalb
nicht als Ausdruck ihrer Person gewertet werden dürfe.
Dennoch scheint es zutreffend, dass hochrangige Personen - schon weil sie
auf Grund ihrer Statusprominenz viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen -
besonders häufig rein dispositionale Verhaltenszurechnungen erfahren und
infolge der damit verknüpften Disziplinierungszwänge auch eine
umfangreichere "Backstage" benötigen (vgl. Meyrowitz 1985).
So mag es nicht nur auf Gründe der Statusrepräsentation
zurückzuführen sein, dass hochrangige Personen normalerweise stärker
auf einer umfangreichen und gut abgeschirmten Privatsphäre (z.B. in der
Form von doppeltürig gesicherten Büroräumen, alleinstehenden Villen
oder von Einzelbettzimmern in Hotels oder Kliniken) insistieren. Vielmehr
mag auch der sachlichere Wunsch mitspielen, sowohl zur Vorbereitung ihrer
"Auftritte" wie auch zur persönlichen Entspannung genügend
Raum und Zeit für kommunikativ unbelastetes, privates Verhalten
verfügbar zu haben.
Weitere Voraussetzungen für diese dritte Art von Disziplinierungsdruck
bestehen darin, dass
- aktuale Verhaltensäusserungen tatsächlich dazu benutzt
werden, um Personen zu beurteilen und zu typifizieren: z.B. weil ALTER
keine anderen (z.B. aus früheren Begegnungen stammende oder aus der
objektiven Positionsrolle hergeleitete) Kriterien zur Verfügung hat,
um sich über EGO ein Bild zu machen;
- ALTER's Beurteilung für EGO besonders wichtig ist, weil bedeutsame
Konsequenzen (z.B. die Zuweisung einer Stelle, die Gewährung von
Geldkrediten oder die Vergabe eines lukrativen Geschäftsauftrags)
davon abhängen können.
Daraus ergibt sich beispielsweise, dass sich Angehörige mobiler
bürgerlicher Eliten unter weit umfassenderen Disziplinierungszwängen als
etwa die Mitglieder des Feudaladels befinden, weil sie
- ihren Status nicht im Sinne einer zugeschriebenen
genealogischen Qualifikation (und auch nicht als einen vom Monarchen
verliehenen Amtstitel) sichtbar und unangreifbar mit sich tragen,
sondern gezwungen sind, ihn unter Einsatz all ihrer persönlichen
Fähigkeiten (worunter auch verschiedenste Fertigkeiten des "impression
management" gehören) ad personam zu erwerben und durch ständig
neue Anstrengungen aufrechtzuerhalten;
- dank ihrer räumlichen und sozialen Mobilität sehr häufig mit
neuen, noch unvertrauten Partnern in (meist spezifische und
transitorische) Beziehungen treten, bei denen es darauf ankommt,
gerade jetzt durch kontrolliertes Benehmen, sorgfältige Wortwahl und
tadellose äussere Erscheinung einen vorteilhaften Eindruck zu
erwecken.
Wiederum erweist sich hier das Dilemma, dass gesteigerte
Handlungsfreiheiten ein Anwachsen individueller
Selbstdisziplinierungszwänge nach sich ziehen. Denn in dem Masse, wie ich
autonom immer wieder neue Interaktionspartner wähle, häufen sich die
kritischen Initialstadien sozialer Beziehungen, in denen es darauf
ankommt, durch diszipliniertes Verhalten einen günstigen "ersten
Eindruck" zu erwecken, der das Bild, das sich der Partner von mir
macht, und seine Entscheidung, ob und wie er weiter mit mir umgeht,
grundlegend determiniert.
So ist es gut verständlich, warum das Aufkommen des Bürgertums eng
mit einer Ausweitung und schärferen Ausdifferenzierung der Privatsphäre
korreliert, und warum sich Wohnungseinrichtungen mit einer ausgeprägten
Differenzierung zwischen "frontstage" (Wohnzimmer) und "backstage"
(Küche, Schlafzimmer) vor allem in Mittelschichtmilieus finden, in denen
es üblich ist, gegenüber variablen Freunden und Bekannten das Ritual der
"Gastlichkeit" zu zelebrieren (vgl. Goffman 1983: 112).
Private Refugien, in denen man mit sich selbst und den vertrautesten
Familienangehörigen allein ist, können als "institutionalisierte
Hinterbühnen" betrachtet werden, die Gelegenheit bieten, sich
unbelastet von kommunikativen Darstellungszwängen auf die anstrengenden
täglichen "Vorderbühnenauftritte" vorzubereiten und sich von
ihren Mühseligkeiten zu erholen.
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