UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY

Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 


 

DRITTES KAPITEL:

"SINNLICHE WAHRNEHMUNG" ALS MEDIUM SYSTEMISCHER AUSDIFFERENZIERUNG UND INTEGRATION

 

3.3 Der "gemeinsame Ort" als Medium dauerhafter und generalisierter sozialer Integration

 

Dörfer und Städte, Bauernhöfe und Familienhaushalte, Kliniken und industrielle Betriebsstätten sind Kollokalsysteme, die sich - sei es aus Gründen technischer Effizienz, autoritativen Zwangs oder symbolischer Identifikation - an einen fixen geographischen Raumabschnitt gebunden haben.

Die Einheit des "gemeinsamen Ortes" mit seiner charakteristischen Prägung landschaftlicher und/oder architektonischer Art stellt zusätzlich zur "gemeinsamen Anwesenheit" eine zweite physisch verankerte soziale Integrationsbasis dar, die sich dank ihrer voraussetzungslosen, universellen Sichtbarkeit ebenfalls dazu eignet, um dem Kollektiv eine gleichzeitig umfassende und generalisierte, von allen spezifischen Strukturverhältnissen, kulturellen Mustern und Sachthemen unabhängige Bestandesbasis zu verleihen.

"Anwesenheit" und "Standort" können als zwei im Prinzip voneinander unabhängige, dank ihrer gemeinsamen Fundierung in sinnlicher Wahrnehmung aber recht verwandte soziale Konstitutionsbasen angesehen werden, die von ortsgebundenen Kollokalsystemen teils kumulativ, teils substitutiv und komplementär zueinander benutzt werden können, um ihre Abgrenzung nach aussen und ihre Einheit nach innen sicherzustellen.

Allerdings sind die Bedingungsverhältnisse meist derart, dass "gemeinsame Anwesenheit" einerseits eine notwendige, oft sogar hinreichende Bedingung für "gemeinsame Ortsbezogenheit" bildet, während das Umgekehrte viel weniger gilt. Denn wenn mehrere Individuen einander wechselseitig als Anwesende registrieren, ist es sehr leicht möglich, ja zwingend, dass sie , sondern auch die objektiven Merkmale der gemeinsamen Raumumgebung konsensual perzipieren; während ein simultaner Aufenthalt in derselben Raumgebung (z.B. Stadt, Flughafen, Kathedrale, Universitätsbibliothek) noch keineswegs bestimmte interpersonelle Wahrnehmungen impliziert.

Dementsprechend verläuft die Kausalität meist so, dass vorgängig konstituierte Kollokalsysteme sich durch nachträgliche Fixierung an einen Ort (z.B. Haushalts- oder Betriebsgründung) eine zusätzliche (gleichzeitig faktische und symbolische) Stabilitätsbasis erwerben: wobei der "gemeinsame Ort" dann allerdings meist zu einem eigenständigen Integrationsfaktor wird, der die kollokalen Interaktionsbeziehungen teilweise verstärkt, teilweise modifiziert oder sogar ersetzt.

Der funktionale Zugewinn besteht vor allem darin, dass der "gemeinsame Ort" einen Fundus konvergenter Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten eröffnet, der allen Mitgliedern unabhängig von ihren persönlichen, sozialen und kulturellen Merkmalen zu jedem beliebigen Zeitpunkt und über beliebig lange Zeiträume hinweg zur unmittelbaren Verfügung steht. Deshalb kann die Systemintegration auf ein höheres Niveau sachlicher, zeitlicher und sozialer Generalisierung abstellen, als dies über den Mechanismus "gemeinsamer Anwesenheit" erreichbar wäre: ohne andererseits der grossen Vorteile einer über sinnliche Wahrnehmung vermittelten (d.h. ohne strukturelle und kulturelle Arrangements auskommenden) "sozialen Selbstintegration" verlustig zu gehen:

-   die höhere sachliche Generalisierung beruht darauf, dass mit dem blossen "Ort" (vor allem wenn man ihn als neutralen physikalischen Raumabschnitt konzeptualisiert) nur wenige Konnotationen bezüglich der an ihm möglichen, erlaubten oder geforderten Handlungsinhalte und Sozialbeziehungen verbunden sind: während konkrete anwesende Personen immerhin relativ spezifische "Horizonte möglicher Kommunikation und Kooperation" mit sich tragen;

-   die überragende zeitliche Generalisierung entsteht dadurch, dass die physischen Strukturen der Örtlichkeit ununterbrochen da sind, langfristig dieselben bleiben oder gar (wie wiederum beim nackten physischen Raum oder Territorium) das Merkmal völliger Unzerstörbarkeit besitzen (vgl. Simmel 1908: 460ff.): während Menschen kommen und gehen, und manchmal schlafen, krank werden können oder sterben - und deshalb nicht nur durch ihr "Dasein", sondern auch durch ihr aktuelles "Sosein" die innersten Bestandesbedingungen des Sozialsystems affizieren;

-   der ausserordentlich hohe Grad sozialer Generalisierung beruht auf der Eigenschaft des Ortes, wirklich allen Anwesenden ohne Anstrengung und ohne selektive Kontrollen sinnlich zugänglich zu sein: während die integrative Reichweite reiner Anwesenheitssysteme dadurch begrenzt ist, dass jeder alle andern wahrnimmt und von allen andern wahrgenommen werden kann: ganz zu schweigen von den vielfältigen Tendenzen der Marginalisierung und Fragmentierung, die vor allem auf dem verbalen Kommunikationsniveau  (vgl. 2.5) unvermeidlich sind.

 Was berechtigt uns, beispielsweise Städte, wie Zürich oder London nicht nur im ökologischen oder politisch-administrativen, sondern auch im soziologischen Sinne als Systemeinheiten zu behandeln, und ihnen eine über Jahrhunderte hinweg irgendwie invariant bleibende, vielleicht überhaupt nur durch ihre völlige physische Vernichtung zerstörbare, Identität zuzuschreiben? Was bleibt denn "identisch" an einem Gebilde, das durch keine explizit fixierten Werte, Ziele oder Zwecke charakterisiert werden kann und im historischen Sinne nicht nur seine personelle Zusammensetzung, sondern auch seine inneren Strukturdifferenzierungen, Aktivitäten und architektonischen Erscheinungsformen bis zur völligen Unkenntlichkeit verändert?

Es bleibt wohl nur die Antwort, dass seine solche Stadt sich zu jedem Zeitpunkt ihres Bestehens als geographisch fixierte Siedlungseinheit präsentiert, deren unproblematische, ja sich aufzwingende Sichtbarkeit Menschen immer wieder dazu einlädt, sich an dort bereits stattfindenden kollokalen Interaktionsprozessen mitzubeteiligen und an bereits vorgesponnene Muster historisch erzeugter Sozial- und Artefaktstrukturen anzuknüpfen.

Auf der Basis spontan-unbeeinflussbarer - weil von den einzelnen Individuen autonom bereitgestellter - Wahrnehmungs- und Zurechnungsprozesse erfahren Städte und Dörfer eine gewissermassen "selbsttätige", sich normalerweise völlig bruchlos und ungefährdet vollziehende Reproduktion ihrer Identität: so dass sie davon entlastet sind, ihre Einheit durch zusätzliche kulturelle Embleme explizit zu machen oder mittels spezieller Prozeduren individueller Sozialisierung oder Kontrolle zu implementieren. Darin unterscheiden sich kommunale Gemeinwesen drastisch von den räumlich extensiveren Staaten, die normalerweise einen viel grösseren Aufwand an symbolischer Selbstdarstellung, ja zwangsweiser Indoktrination veranstalten müssen, weil ihr Territorium eine zu ausgedehnte und abstrakte physische Basis darstellt, als dass sie zum Gegenstand spontaner sinnlicher Anschauung werden könnte.

Dies bedeutet natürlich, dass ortsgebundene Kollokalsysteme mannigfache Ressourcen, die in alokalen Systemen für Zwecke der "pattern maintenance" aufgewendet werden müssen, für andere (z.B. adaptive oder produktive) Ziele freisetzen können: vielleicht ein Erklärungsgrund für die Tatsache, dass Stadtstaaten über verschiedenste historische Epochen hinweg immer wieder günstige Überlebensnischen gefunden haben.

Viele gesellschaftliche Institutionen entlasten sich gern vom anstrengenden Geschäft symbolischer Selbstdarstellung, indem sie kollokale "Filialsysteme" ausdifferenzieren, die über die genannten "selbstintegrativen" Fähigkeiten verfügen: ganz besonders an ihren äussersten Peripherien, die für zentralistische Integrationsmassnahmen schwer zugänglich sind:

"Für Kirchen ist es in ihrer Diaspora eine äusserst kluge Politik, überall da, wo auch nur die kleinste Zahl von Anhängern innerhalb eines Bezirks lebt, sogleich eine Kapelle und eine feste Seelsorgestation einzurichten. Diese räumliche Fixierung wird zu einem Drehpunkte für die Beziehungen und den Zusammenhalt der Gläubigen, so dass sich nicht nur religiöse Gemeinschaftskräfte an Stelle bloss isolierter entwickeln, sondern die Kräfte, die von solchem anschaulichem Zentrum ausstrahlen, erwecken auch in solchen dem Bekenntnis Zugehörigen, deren religiöse Bedürfnisse in ihrer Vereinzelung seit langem geschlafen haben, wieder das Bewusstsein der Zugehörigkeit." (Simmel 1908: 474).

Das äusserst hohe Gewicht kollokaler Subeinheiten in der Familieninstitution (Haushalte) sowie im Bildungsbereich (Schulklassen) hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es in diesen Bereichen keine Übertragungsmedien mit translokaler Reichweite zur Verfügung stehen: so dass sich die Werte und Normen solcher Institutionen ausschliesslich im Medium kleiner lokaler Interaktionszirkel reproduzieren, in denen sie für die Beteiligten zur unmittelbarer sinnlichen Anschauung gelangen (vgl. z.B. Luhmann/Schorr 1979).

 Einen analogen "Dezentralisierungsdruck" können politische Institutionen erfahren, bei denen es mangels zentraler Gewalt- und Autoritätsmittel unvermeidlich ist, einen hohen Anteil verbindlicher öffentlicher Entscheidungen und Vollzugsaufgaben auf die kommunale Ebene zu verlagern. Selbst konsolidierte moderne Zentralstaaten machen von den (von ihnen selbst nicht konstituierten, und manchmal nicht einmal modifizierbaren) historisch gewachsenen kommunalen Gemeinwesen Gebrauch, um sich von gewissen Legitimationsproblemen zu entlasten und um die mit dem sinnlich-anschaulichen Charakter der Kommunalpolitik verknüpften positiven Motivierungs- und Integrationswirkungen auf die Bürger auszunutzen.

Genau in dem Masse aber macht sich ein Staat von Gebilden abhängig, die eine unproblematischere, meist historisch langfristigere und vielleicht auch zukunftsträchtigere Identitätsbasis als er selbst besitzen und den zentralistischen Durchgriffen ihre lokalen Traditionen und Solidaritäten entgegensetzen können (vgl. auch: 43).

Höchstes Interesse verdient die Hypothese, dass örtliche Bindung ein funktionales Aequivalent für soziale Strukturbildung darstellt: weil sie eine integrative Wirkung erzeugt, die andernfalls durch Festlegung gemeinsamer Werte, Ziele oder Normen, durch Homogenisierung der Mitgliederselektion, oder auf irgendeinem andern Wege hergestellt werden müsste.

Dadurch wird beispielsweise die Beobachtung verständlich, dass gerade anarchisch-freiheitliche, jegliche Fixierung von Konsenszwängen, Führung und Autorität ablehnende Gruppierungen ihre soziale Libertinage mit umso drastischeren ökologischen Restriktionen bezahlen: indem der gemeinsame Wohnsitz zum einzigen und deshalb völlig unentbehrlichen Fokus wird, um den herum sich die Identität gerade dieser Gruppierung (im Unterschied zu allen andern) kristallisiert:

"Das Gebäude, (oder besser: ein besonderer Gebäudeteil, wie z.B. die sorgfältig dekorierte Eingangshalle in Fern Hill, wo die Mitglieder die gelungendsten Erzeugnisse ihrer Handwerkertätigkeiten aufgestellt haben) wird zum fokalen Symbol für die Existenz und die Wertbedeutung der Kommune.

Dies ist wahrscheinlich ganz besonders in den Entstehungsphasen der Kommune der Fall, wenn die Gebäude in mühsamer Arbeit hergerichtet werden und "eine Kommune gründen" praktisch synonym ist mit "einen Platz herrichten" (place-making). In dieser Phase ist das architektonische Projekt für die Gruppe das Medium, mit dessen Hilfe sie ihr soziales Projekt realisiert.

Aber sogar in gut etablierten Kommunen behält die Wohnung (bzw. die Idee, "etwas für die Wohnung zu tun") eine kritische symbolische Funktion. Das Wohngebäude wird zum Emblem einer neu entstehenden Solidarität, sogar einer Solidarität im Angesicht der vielen Spannungen, Interessenkonflikte und Streitigkeiten, die das Alltagsleben mit sich bringt" (Abrahams/McCulloch 1976: 186).

 So mag die enttäuschende Kurzlebigkeit dieser mit so viel hoffnungsvollem Elan begonnenen Experimente gemeinschaftlichen Zusammenlebens auch damit zusammenzuhängen, dass derart irdische Kontingenzen wie die Kündigung eines gemieteten Hauses oder die berufliche Mobilität ihrer Mitglieder hinreichend sind, um ihnen die Überlebensbasis zu entziehen.

 


Inhalt


Prof. Hans Geser
Email: hans@geser.net.      
URL: http://www.geser.net/