UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 


 


VIERTES KAPITEL:

EIGENDETERMINIERTHEIT DER INTERAKTIONSPROZESSE ALS SUBSTITUT FÜR SUBJEKTIVATIONEN UND OBJEKTIVATIONEN


4.1 Einleitung

Die "Soziologie des Raumes" hat Georg Simmel eine Fülle kühner intuitiver Einsichten zu verdanken, deren Systematisierung aber dadurch behindert wird, dass sie auf nicht-deduktive, impressionistische Weise gewonnen wurden und deshalb in erster Linie als anregende heuristische Leithypothesen wertvoll sind, die nicht nur der empirischen Überprüfung, sondern zuallererst einer konzeptuellen Klärung und umfassenderen theoretischen Explikation bedürfen.

Ein gutes Beispiel dafür bietet jene unscheinbare Textstelle, in denen die nachfolgenden theoretischen Argumentationen dieses Kapitels ihre gemeinsame genetische Wurzel haben: jene Zeilen, in denen Simmel auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen soziale Beziehungen auch ohne die physische Präsenz ihrer Mitglieder lebensfähig sind, eine überraschende doppelte Antwort formuliert:

"Gerade den in seelischer Einsicht entgegengesetzten Polen menschlicher Verknüpfungen

  • den rein sachlich-unpersönlichen und den ganz auf die Intensität des Gemütes gestellten - gelingt dieser Erfolg am leichtesten; den einen, etwa gewissen wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Transaktionen, weil ihre Inhalte in logischen Formen und eben deshalb schriftlich restlos ausdrückbar sind, den andern, wie religiösen und manchen Herzensvereinigungen, weil die Gewalt der Phantasie und die Hingegebenheit des Gefühls die Bedingungen von Zeit und Raum in einer oft genug mystisch erscheinenden Weise überwindet.

In dem Masse, in dem diese Extreme ihre Reinheit verlieren, wird die örtliche Nähe erforderlicher: wenn jene objektiv begründeten Beziehungen Lücken zeigen, die nur durch logisch nicht fassbare Imponderabilien auszufüllen sind, oder wenn die rein innerlichen sich einem Beisatz äusserlich sinnlicher Bedürfnisse nicht entziehen können." (Simmel 1908a: 480).
 
 In modernerer Formulierung mag dies heissen, dass soziale Systeme in dem Masse von kollokaler Interaktion (bzw. von sozialen Interaktionsprozessen überhaupt) unabhängig werden, als es gelingt, die elementaren, auf interpersoneller Wahrnehmung und Kommunikation beruhenden sozialen Integrationskräfte durch Stabilisierungsgrundlagen nicht sozialer Art zu substituieren: wobei zwei völlig gegensätzliche, aber unter dem genannten Gesichtspunkt dennoch funktional äquivalente Wege zur Verfügung stehen:

  • Externalisierung: durch Einprägung sozialer Erwartungen in physischen Trägersubstraten (Schrifttexten, Emblemen, Gebäuden u.a.), die dank ihres konstitutiven Beitrags zur äusseren Handlungssituation eines Akteurs geeignet sind, individuelles Verhalten unabhängig von der Anwesenheit anderer Personen in vorstrukturierte soziale Bahnen zu kanalisieren.

  • Internalisierung: durch Verankerung sozialer Erwartungsstrukturen im psychischen System von Individuen, so dass diese in der Lage und willens sind, sich über das Medium subjektiver Vorstellungen (Erinnerungen, Imaginationen u.a.) auf abwesende Personen zu beziehen.

Auf eine in der abendländischen Denktradition höchst ungewohnte Weise rücken hier die beiden Kategorien der "Subjektivierung" und der "Objektivierung" aufs engste zusammen, weil sie funktional äquivalente Lösungen darstellen für das Problem, soziale Beziehungen raumunabhängig zu stabilisieren, und weil sie dementsprechend in einem gemeinsamen Gegensatz stehen zu einem "mittleren" Fall kollokaler Interaktion, wo sowohl objektive Fremdreferenzen wie subjektive Selbstreferenzen nicht im selben Masse verselbständigt sind.

Ist es wirklich hinreichend, diese Situation der Kollokalität - wie Simmel glaubte - als eine Mischung von Subjektivem und Objektivem, von "Innerlichen" und "Äusserlichem" zu charakterisieren, oder haben wir vielleicht ein irreduzibles drittes Phänomen "sui generis" vor uns, bei dem diese gebräuchlichen Opposita ihren Dienst zum vornherein versagen?

Es erscheint lohnend, ja geboten, sich an diese fundamentale Frage auf dem Umweg über allgemeinere Überlegungen phänomenologischer Art heranzupirschen. Dabei wird von der "sinnlichen Wahrnehmung" als einer nicht hintergehbaren primären Gegebenheit ausgegangen, in der alle Prozesse der Subjektivierung und der Objektivierung ihren gemeinsamen genetischen Ursprung haben.

Die besonderen Komplikationen bei der sinnlichen Wahrnehmung fremder Personen und die noch schwierigeren Verhältnisse bei reziproken interindividuellen Wahrnehmungsprozessen liefern dann Ausgangspunkte, um kollokale Interaktion unter einem bisher nicht benutzten Blickwinkel erneut als Ursprung humaner Sozialität zu begreifen und über ihr sowohl komplementäres wie substitutives Verhältnis zu translokaler und alokaler Sozialität neue Einsichten zu erschliessen.


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