UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 



VIERTES KAPITEL:

EIGENDETERMINIERTHEIT DER INTERAKTIONSPROZESSE ALS SUBSTITUT FÜR SUBJEKTIVATIONEN UND OBJEKTIVATIONEN


4.2 Die sinnliche Wahrnehmung als gemeinsamer Ursprung internaler und externaler Repräsentationen

Jeder Akt der sinnlichen Wahrnehmung ist nach Edmund Husserl "janusgesichtig" in dem Sinne, dass er für das Subjekt immer unter zwei völlig verschiedenen Gesichtspunkten thematisch werden kann:

  1. In selbstreferentieller Inneneinstellung kann sich das Subjekt (im Sinne eines "immanent gerichteten Aktes") auf die Cogitatio der Wahrnehmung richten: d.h. auf die Inhalte des innerpsychischen Erlebens, die völlig der geschlossenen Sphäre des subjektiven Bewusstseinsstromes angehören und - da "Wahrnehmung und Wahrgenommenes wesensmässig eine unvermittelte Einheit bilden" - in unzweifelhafter Evidenz gegeben sind.
  2. In fremdreferentieller Ausseneinstellung kann das Subjekt (mittels eines "transzendent gerichteten Aktes") das Cogitatum des Perzeptionsvorgangs zum Thema machen: d.h. das im Medium hyletischer Sinnesempfindung appräsentierte reale Objekt oder Ereignis, das ebenso ausschliesslich der subjektunabhängigen Sphäre der objektiven Wirklichkeit angehört: weil es sich mit allen übrigen Phänomenen der einen immerfort anwesenden äusseren Welt in einem durchgängigen zeitlich-räumlich-kausalen Zusammenhang befindet (vgl. Husserl 1976: 77ff.).
"Vor mir liegt im Halbdunkel dieses weise Papier. Ich sehe es, betaste es. Dieses wahrnehmende Sehen und Betasten des Papiers, als das volle konkrete Erlebnis von dem hier liegenden Papier, und zwar von dem genau in diesen Qualitäten gegebenen, genau in dieser relativen Unklarheit, in dieser unvollkommenen Bestimmtheit, in dieser Orientierung zu mir erscheinenden - ist eine cogitatio, ein Bewusstseinserlebnis.

Das Papier selbst mit seinen objektiven Beschaffenheiten, seiner Ausdehnung im Raume, seiner objektiven Lage zu dem Raumdinge, das mein Leib heisst, ist nicht cogitatio, sondern cogitatium, nicht Wahrnehmungserlebnis, sondern Wahrgenommenes. Nun kann Wahrgenommenes selbst sehr wohl Bewusstseinserlebnis sein; aber es ist evident, dass so etwas wie eine materielles Ding, z.B. dieses im Wahrnehmungserlebnis gegebene Papier, prinzipiell kein Erlebnis ist, sondern ein Sein von total verschiedener Seinsart." (Husserl 1976: 71).
 
 

Die Inhalte der sinnlichen Wahrnehmung erfüllen alle die einzigartige Bedingung, dass sie simultan als Bauelemente zweier völlig verschiedener selbstsuffizienter, "autopoietischer" Ordnungen fungieren, und dass das Subjekt im Zustande der Perzipierens die volle Autonomie hat, widerstandslos und reversibel von der einen zur andern Orientierung überzuwechseln.
 
 

"Im Cogito lebend, haben wir die cogitatio selbst nicht bewusst als intentionales Objekt; aber jederzeit kann sie dazu werden, zu ihrem Wesen gehört die prinzipielle Möglichkeit einer reflektiven Blickwendung und natürlich in Form einer neuen cogitatio, die sich in der Weise einer schlicht-erfassenden auf sie richtet." (Husserl 1976: 77).
 
 

Dem wahrnehmenden Subjekt fällt die Autonomie zu, die mit dem Doppelcharakter der sinnlichen Wahrnehmung verknüpfte "intentionale Unterdeterminiertheit" dadurch zu beseitigen, dass es sich über das Prioritätsverhältnis zwischen selbstreferentieller oder fremdreferentieller Einstellungsweise permanent neu entscheidet In einer kognitiven Orientierung z.B. kann es das subjektive Erleben auf den rein instrumentalen Status eines unerlässlichen Mediums zurückdrängen, das ihm dazu verhilft, einen objektiven Gegenstand besser zu erkennen. Und z.B. in einer rein ästhetischen Einstellung kann es umgekehrt den Gegenstand nur als ein reizauslösendes Medium behandeln, das dazu da ist, ihm bestimmte innere Erlebniszustände zu verschaffen.

Durch wiederholtes Hin- und Herpendeln zwischen beiden Perspektiven kann ein beliebig steigerbarer dynamischer Prozess in Gang gesetzt werden, in dessen Verlauf beide Aspekte an Reichhaltigkeit und Spezifität ständig hinzugewinnen: denn

  • indem sich die kognitiven Kenntnisse vom äusseren Gegenstand vermehren, steht ein immer reichhaltigeres Ausgangsmaterial zur Verfügung, an das innere Erlebniszustände, Gefühlsreaktionen u.a. anschliessen können;
  • aktuelle oder antizipierte psychische Erlebniszustände können dazu motivieren, die Sinnesorgane zu schärfen und das Wissen über äussere Gegenstände oder Ereignisse zu mehren.
Allerdings wird die Symmetrie (und damit auch: die Produktivität) derartiger positiver Rückkoppelungen dadurch gemindert, dass einzelne Sinnesorgane zugeschriebenermassen eine mehr selbstreferentielle, andere eine eher fremdreferentielle Primärorientierung besitzen.

So sind vor allem der Geschmackssinn und das Schmerzempfinden darauf angelegt, in erster Linie psychische Erlebniszustände zu vermitteln, ohne dass durch deren Vermittlung die sie auslösenden objektiven Gegenstände (bzw. "Zustände") präzise Konturen gewinnen.

Und umgekehrt ist die fremdreferentielle Orientierung des Gesichtssinns derart ausgeprägt, dass alle Wahrnehmungen bereits vor der bewussten Dechiffrierung in objektivierender Weise entzerrt und mit einem reichen "Horizont von Verweisungen" ausgestattet werden: so dass sich das "wirklich Gesehene" auf unkontrollierbare Weise mit dem "zusätzlich Gewussten" amalgamiert.

Gerade dank dieser komplementären Innen- oder Aussenspezialisierung der einzelnen Sinnesqualitäten stellt sich der Gesamtbereich der sinnlichen Wahrnehmung als eine Sphäre dar, innerhalb der fremdreferentiell-kognitive und selbstreferentiell-reflexive Orientierungen einen gleichrangigen Platz behaupten.

Und die Konvergenzen der Synästhese bestätigen den bereits bei jeder elementarsten Einzelwahrnehmung gewonnen Eindruck: dass es eine Ebene primärer empirischer Erfahrungen gibt, bei der es sich erweist, dass subjektive Erlebnis- und objektive Realitätsgehalte unabweisbar miteinander korrelieren: als zwei polare Aspekte desselben sensorischen Vollzugs, die bei all ihrer wechselseitigen Unselbständigkeit ihre exklusive Zugehörigkeit zu verschiedenen selbstsuffizienten Ordnungen in maximaler Schärfe aufrechterhalten.
 
 

Jeder Akt sinnlicher Wahrnehmung erfüllt die doppelte Funktion, dem Subjekt Informationen über die äussere Umwelt und Bezugsmaterialien für selbstreferentielle Orientierung an die Hand zu geben, und liefert ihm eine erneute Wahlmöglichkeit, entweder über die intentionale Bezugnahme auf ein objektiv Gegebenes zu einem subjektiven Erlebnis oder über das Medium des innerpsychischen Erlebens zur Erkenntnis des Objektiven zu gelangen.

Diese doppelte Funktionalität erhöht die Sicherheit, dass Subjekte andauernd motiviert sind, Wahrnehmungakte zu vollziehen, aber sie verringert andererseits die Voraussehbarkeit, wie und in welcher Absicht sie dies tun: eine Quelle von Unsicherheit, in der mannigfache Chancen und Risiken kollokaler Interaktion ihren Ursprung haben.
 
 

Nun lässt sich die Vorstellung einer "reinen sinnlichen Wahrnehmung" allerdings nur im Sinne eines heuristisch wertvollen abstrakten Gedankenmodells und keineswegs als Deskription irgendeiner vorfindbaren Wirklichkeit aufrechterhalten. Idealtypisch würde sie bedeuten, dass Cogitatio und Cogitatum als zwei völlig unselbständige Aspekte desselben intentionalen Vollzugs miteinander kovariieren: die aktuell wahrgenommenen Gegenstände und Ereignisse sind hinreichend, um mein ganzes innerpsychisches Erleben zu bestimmen, und meine inneren Erlebnisse sind suffizient, um alle Aspekte der von mir für wahr gehaltenen realen Situation zu identifizieren.

Damit ist ein äusserst instabiler Grenzzustand minimalster Subjekt-Objekt Differenzierung bezeichnet, der sich -entwicklungspsychologisch betrachtet - vielleicht im frühen ontogenetischen Reifestadium der "primären zirkulären Reaktion " annäherungsweise vorfindet (vgl. z.B. Flavell 1963: 62 ff, Piaget 1969: 49), und der in dem Masse verlassen werden muss, als es darum geht,

  • die internalen Korrelate verschiedener Wahrnehmungen als Konstituenten eines subjektiven Bewusstseinsstromes und biographischen Prozesses in Anspruch zu nehmen: d.h. an die innere Systemordnung des Subjekts zu assimilieren, das sich im beliebigen Wechsel externaler Bedingungen als Identisches aufrechterhält;
  • die externalen Korrelate verschiedener Perzeptionen in die Interdependenzordnung einer objektiven äusseren Wirklichkeit zu integrieren, von der man unterstellt, dass sie sich wahrnehmungsunabhängig nach eigenen Gesetzen perpetuiert.
Je nach dem absoluten Gewicht und der relativen Dominanz der internal-subjektiven oder der external-objektiven Integrationsbestrebungen geht dann mit jedem Wahrnehmungsakt das Streben einher, die Positivität des sinnlich Gegebenen in zwei entgegengesetzte Richtungen zu überschreiten:
 
 

1) Subjektivierend:

indem die Wahrnehmungsinhalte durch endogen konzipierte oder imaginierte Vorstellungen überlagert werden, deren Funktion darin besteht, die Assimilation des Erlebten an die subjektiven Bewusstseins-, Gedächtnis- und Identitätsstrukturen zu erleichtern. So werden vage, divergente Wahrnehmungsinhalte durch Akzentuierung der einen und durch Abschwächung oder Ignorierung anderer Merkmale zu prägnanten "Gestalterlebnissen" verdichtet, und/oder es werden aus der Erinnerung bereits vorgefertigte Assimilationsschemata mobilisiert, um mangelnde Wahrnehmungsdaten zu ergänzen oder gar bestehende Sinneseindrücke zu überspielen.

Ähnlich wie schriftliche Akten in einer bürokratischen Organisation dienen intra-individuell verfertigte Gestaltbilder dem Zweck, ein neues aktuales Ereignis

  • in die Termini eines bereits vertrauten systemeigenen Codes zu kleiden, damit das System in selbstreferentiellen Prozessen darauf Bezug nehmen kann;
  • mit andern (simultanen oder vergangenen) Ereignissen in ein klar definiertes Verhältnis (der Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit u.a.) zu bringen: d.h. auf ein Kategorienraster zu projizieren, das dem mit dem kognitiven Differenzierungsvermögen des wahrnehmenden Systems in Übereinstimmung steht;
  • derart prägnant zu stilisieren, dass sie (im Unterschied zu amorph-unspezifizierten Erlebnissen) als zusammenhängende Ganzheiten leicht wiedererinnert werden können.
Vor allem aber wird erreicht, dass das Subjekt nun auf ein bestimmtes Objekt oder Ereignis unabhängig von dessen räumlich-zeitlicher Anwesenheit Bezug nehmen kann: weil es nun durch das verselbständigte innerliche Bild eine Virtualpräsenz gewonnen hat, an die dieselben Reaktionen (der Erinnerung, des Gefühls, des Verhaltens u.a.) wie an seine Realpräsenz geknüpft werden können. So zeigt sich die wachsende Ausdifferenzierung des Persönlichkeitssystems im Laufe des ontogenetischen Reifungsprozesses vor allem darin, dass sich das kindliche Verhalten immer mehr an autonom evozierten inneren Vorstellungen anstatt an exogenen, unkontrollierbar variierenden Wahrnehmungsreizen orientiert (vgl. Piaget 1969).

Als beliebig ausbaubarer Bestand jederzeit abrufbarer "Virtualkognitionen" können internale Repräsentationen flexibel jene Orientierungslücken auffüllen, die aus der Abwesenheit, übergrossen Entfernung oder sonstwie behinderten Wahrnehmung intendierter Gegenstände oder Ereignisse entstehen: wobei ihre substituierende Wirkung bei dauerhaften (d.h. jederzeit erneut wahrnehmbaren) Gegenständen natürlich weniger benötigt wird als bei punktuellen Ereignissen, auf die sogleich nach ihrem Geschehen nur noch über das Medium internal gespeicherter Erinnerungen Bezug genommen werden kann.

Dank der Substitutionswirkung internaler Repräsentationen kann es einem Subjekt gelingen, innere Erlebniszustände (und entsprechende Verhaltensdispositionen) unabhängig vom Wechsel situativer Bedingungen zu stabilisieren: und entsprechend kann es mit wachsendem Ausbau dieser Virtualisierungsfähigkeiten immer besser in der Lage sein, in einer komplexen und variablen Umwelt relativ stabilere und einfachere Erwartungsstrukturen aufrechtzuerhalten.

Im Verhältnis zu vorübergehend abwesenden Objekten entstehen dann häufig charakteristische Probleme der "referentiellen Überdetermination": in dem Sinne, dass die mit seinem Wiedererscheinen assoziierten Sinneseindrücke durch das Virtualbild, das man sich in seiner Abwesenheit von ihm gemacht hat, überlagert werden.

Die meisten Wahrnehmungen vollziehen sich so als Akte des "Wiedererkennens", bei denen immer wieder neu darüber entschieden werden kann, ob die Überstrukturiertheiten

  • assimilativ: durch Angleichung der Perzeptionen an die internale Repräsentation,

  • oder
  • akkommodativ: als Ajustierung der Repräsentation an die Wahrnehmung
aufgelöst werden sollen.
 
 

2) Objektivierend:

indem die externale Komponente des Wahrnehmungsinhalts als selektive Appräsentation (bzw. indirekte zeichenhafte Repräsentation) eines Stücks objektiver Realität begriffen wird, die nicht nur die aktual gegebene, sondern auch die in der Vergangenheit vollzogene und zukünftig denkbare Wahrnehmung bei weitem transzendiert.

Über die phänomenalen "Verweisungszusammenhänge" gelingt es dem Subjekt mühelos wie auf Gleitschienen, von seiner subjektzentrierten Anschauung zum perspektivenfrei konzipierten "Gegenstand an sich" zu gelangen: d.h. zu einem idealisierten Inbegriff unendlich vieler und variabler Wahrnehmungen, die hier und dort, jetzt und später, von mir oder von andern vollzogen werden können.

Vor allem visuelle Wahrnehmungen werden durch Mechanismen, die dem Bewusstsein vorgeschaltet und einer intentionalen Steuerung nicht zugänglich sind, in objektivierender Weise dezentriert: z.B. wenn entfernte Personen so gross wahrgenommen werden, wie sie "in Wirklichkeit sind", oder wenn unter beliebigen Lichtverhältnissen dieselben Farbrelationen erhalten bleiben (vgl. Gehlen 1950: 171; Merleau-Ponty 1976).

Bei andern Sinnesorganen ist man fast ausschliesslich auf einen artifiziellen Fundus von Verweisungsregeln angewiesen, die auf der Akkumulation eigener Erfahrung oder - häufiger - auf der Übernahme eines intersubjektiv gesicherten Wissensbestandes beruhen: z.B. wenn man gelernt hat, den Schmerz als Anzeichen einer inneren Krankheit, den Brandgeruch als Anzeichen für ein nahes Feuer oder ein charakteristisches saures Geschmackserlebnis als "typisch für Zitronensaft" zu interpretieren.

Eigentlich trifft es nur für visuelle, und in verminderter Form für taktile sowie akustische Erlebnisse zu, dass sie im Regelfall mit einem starr gekoppelten "Horizont an externen Verweisungen" ausgestattet sind, durch den das Individuum ohne die Mobilisierung zusätzlicher Wissensbestände oder Verstandestätigkeiten dazu gebracht wird, von der Spezifität des subjektiven Erlebnisses auf die korrelative Spezifität eines Real-Gegenständlichen zu "schliessen".

Sowohl Schmerz- wie auch Geruchs- oder Geschmackswahrnehmungen werden dem Subjekt primär vor allem als immanente Erlebnisinhalte bewusst. Gerade dadurch bleiben sie offen, um sekundär mit beliebigen, intentional konstruierten und je absichtlich manipulierbaren Deutungshorizonten verbunden zu werden, die im Unterschied zu den starr programmierten visuellen Verweisungszwängen variabel bleiben und deshalb sowohl personellen wie auch kulturellen Bedingtheiten unterliegen.

"Objektivierung" bedeutet, dass ich mit einem Gegenstand nicht mehr auf dem direkten Wege der aktuellen Wahrnehmung und auch nicht auf dem indirekten subjektiven Wege eines internal vorgestellten Bildes, sondern auf dem noch mittelbareren Wege des abstrakten Wissens von ihm Umgang habe: eines Bestandes veräusserlichter symbolischer Repräsentationen, die mich von Wahrnehmungs-, Imaginations- oder Erinnerungstätigkeit in gleicher Weise entlasten.

Mittels Objektivationen - und nur durch sie - vermag ein Subjekt seinen Bezug zu der aktual nicht wahrgenommenen äusseren Welt sicherzustellen, ohne dass es genötigt wäre, sein Aufmerksamkeitsfeld durch mentale Erinnerungs- oder Phantasiebilder zu besetzen. Umso mehr ist es stattdessen gezwungen, "objektive Gesetzmässigkeiten der Realität" zu postulieren und/oder die Verlässlichkeit übersubjektiv geltender Symbole, Wissensbestände oder Institutionen in Anspruch zu nehmen.

Wenn ich mich den naturwissenschaftlichen Gesetzen der Substanzerhaltung und Schwerkraft anvertraue, brauche ich mich über das Weiterbestehen und zukünftige Wiedererscheinen des gegenwärtig unsichtbaren Mondes nicht zu sorgen; und wenn mein Vertrauen in kartographische Experten und Verlage ausreicht, finde ich es risikolos, meine Reiseroute mit Hilfe von Landkarten und Stadtplänen vorauszuplanen.

So mag man unter "externaler Repräsentation" die Gesamtheit aller Mechanismen verstehen, die dazu dienen, die auf ein "objektives Sein" verweisende Komponente von Wahrnehmungsakten aus ihrer Koppelung an Prozesse subjektiven Erlebens zu befreien, um sie derart zu dezentrieren, dass sie spannungsfrei in einen übersubjektiven Geltungszusammenhang integriert werden können.
 
 

Eine derartige Formulierung ermöglicht es, die "objektive Wirklichkeit" als nur eine unter vielen Ordnungen mit übersubjektiver Geltungskraft zu thematisieren, neben der vor allem auch die institutionellen Regelsysteme der Gesellschaft berücksichtigt werden müssen. So werden Individuen beispielsweise durch das formale Recht und die zugehörigen Vollzugsorgane davon entlastet, ihr Eigentum andauernd selbst zu überwachen, oder sich in ihrer Abwesenheit alle Risiken, denen es ausgesetzt sein könnte, innerlich vor Augen zu halten.
 
 

Die besondere Bedeutung von kulturellen Artefakten liegt in diesem Zusammenhang darin, dass sie sich als Trägermedien für besonders stabilisierungsbedürftige Erwartungsstrukturen eignen, bei denen sich die Stabilität institutioneller Autoritäten und Regelungen mit der exogen vorgegebenen Dauerhaftigkeit physischer (vor allem anorganischer) Substrate verbindet. So horte ich Geldscheine, weil ich gleichzeitig an die langfristige Aufbewahrbarkeit des gedruckten Papiers und an die Weiterführung einer nichtinflationären Wirtschaftspolitik glaube; und selbst auf schlecht beleuchteter nächtlicher Strasse kann ich zügig fahren, weil mein gesammeltes Vertrauen in die Vernunft von Institutionen und die Dauerhaftigkeit von Landschaften und Bauwerken die Unterstellung rechtfertigt, dass die asphaltierte Fahrbahn über die momentane Reichweite meines Scheinwerferlichts hinaus in voraussehbarer Weise kontinuiert.
 
 

Wenn sich das Verhältnis eines Subjekts zu einem wahrgenommenen Objekt dadurch konstituiert, dass es unabweisbar vorgegebene, nicht manipulierbare Kovarianzen zwischen Cogitatio und Cogitatum akzeptiert, so entsteht seine Beziehung zu einem nicht wahrnehmbaren Gegenstand dadurch, dass es verselbständigte Subjektivierungen und Objektivierungen auf eine eigenselektive Weise miteinander kombiniert.

Wenn mir zum Beispiel ein bewegter Gegenstand wegen wachsender Entfernung immer undeutlicher vor Augen steht, werde ich feststellen, dass

  • das internal gespeicherte Erinnerungsbild, wie er vorhin ausgesehen hat,
  • das external abgestützte Urteil, wie er nach generellen physischen Gesetzmässigkeiten weiterhin aussehen muss,
gemeinsam dazu verhelfen, die zunehmenden Wahrnehmungslücken aufzufüllen und mein Verhältnis zu ihm auch über den Zeitpunkt seines völligen Verschwinden hinweg zu stabilisieren.
 
 

Dank ihrer wechselseitigen Verselbständigung ist es möglich, dass internale und externale Repräsentationen spannungsvoll voneinander divergieren: das Haus meiner Kindheit kann sich unter dem Eindruck verklärender Rückerinnerungen mit der Zeit ganz anders darstellen, als es damals war: während es doch auch zutrifft (und ich es wissen kann), dass unterdessen Alterungs- und Witterungseinflüsse dazu beigetragen haben, es in ganz andere Richtung bis zur Unkenntlichkeit zu verändern.
 
 

Sind internale und externale Repräsentationen für die Revokation von Abwesendem normalerweise höchst komplementär, so sind sie andererseits auch in weitem Umfang substitutiv.

Der Grenzfall einer ausschliesslich internalen Repräsentation liegt nur in jenen seltenen Randfällen vor, wo sich mit dem evozierten Erinnerungsbild ausschliesslich subjektzentrierte Erlebnisinhalte und keine dezentriert-objektiven Wissensinhalte verbinden: also regelmässig z.B. bei der Wiedervergegenwärtigung von Schmerzerfahrungen oder gastronomischen Genüssen (d.h. Sinneserlebnissen, aus denen normalerweise keine verselbständigbaren Objektivierungen entstehen).

Der entgegengesetzte Extremfall einer rein externalen Repräsentation bedeutet, dass ein Individuum faktisch mit Abwesendem "rechnet", ohne es zu kennen und/oder sich im mindesten darum zu bekümmern. Die implizite Hintergrundsgewissheit, dass morgen die Welt noch existieren und die Sonne aufgehen wird, mein Haus nach der Ferienreise noch steht und mein Steueramt mich auch dieses Jahr nicht vergisst - solch unthematisierte, aber im faktischen Entscheiden und Handeln dennoch immens wirksame Fundamentalprämissen sind allein durch die Verlässlichkeiten auf objektiver (bzw. übersubjektiver) Ebene abgesichert. Ihnen verdanke ich es, dass ich meine knappe Aufmerksamkeit umso mehr jenen privateren abwesenden Dingen zuwenden kann, zu denen ich nur dadurch, dass ich sie virtuell vergegenwärtige, in Beziehung treten kann.
 
 

Über alle Gegensätzlichkeiten ihrer Konstitutionsweise hinweg besitzen internale und externale Repräsentationen einige bedeutsame Isomorphien, dank denen sie sich in gemeinsamer Kontraststellung zur sinnlichen Wahrnehmung befinden.

Insbesondere gilt für beide, dass sie die dynamische Bipolarität des Innen und Aussen, die für perzeptive Prozesse so charakteristisch ist, durch eine spannungslosere Unipolarität ersetzen: indem sich die sinnhaften Referenzen ausschliesslich entweder um ein subjektives Cogitatum (Vorstellungsbild, Erinnerung u.a.) oder um einen subjektunabhängigen Bezugskern (z.B. einen physischen Gegenstand, einen Begriff oder ein Symbol u.a.) kristallisieren.

So kann ich meine Referenz zu einer abwesenden Person dadurch sicherstellen, dass ich entweder das aus vergangenen Begegnungen gewonnene Erinnerungsbild reaktualisiere, oder indem ich eine Fotographie von ihr in der Tasche trage: und selbstverständlich können beim Betrachten des Fotobildes die beiden Repräsentationen in komplexe Wechselwirkungen zueinander treten. Die dadurch realisierte Koppelung von Internalität und Externalität ähnelt aber nur ganz oberflächlich derjenigen, die sich in der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung ergibt. Der drastische Unterschied besteht darin, dass bei der Koppelung von Erinnerungsbild und Fotobild zwei verselbständigte, nach je eigenen Prinzipien konstituierte und verfestigte Sinnstrukturen miteinander in Beziehung treten, ohne zueinander jenes Verhältnis flüssiger Osmose und wechselseitiger Spezifizierung einzugehen, das zwischen der Cogitatio und dem Cogitatum des direkten Wahrnehmungsaktes typischerweise besteht.

Zwar sind bescheidene reziproke Spezifikationen z.B. in dem Sinne denkbar, dass mich das Foto über die Fehlerhaftigkeit meiner Gedächtnisvorstellung belehrt oder meine Erinnerung präzis genug ist, um im physischen Abbild Unzulänglichkeiten zu entdecken. Aber niemals kann ich jenen Prozess unerschöpflicher Erweiterung und Verfeinerung von Erlebnissen und Erfahrungen in Gang setzen, der die Sphäre sinnlicher Perzeption so einzigartig und unersetzlich macht: weil (a) Inaktualität, (b) Selektivität und (c) limitierte Differenziertheit der internalen Erinnerungsbilder wie auch der externalen Repräsentationsobjekte mich daran hindern.
 
 

a) Inaktualität

Sowohl mentale Erinnerungs- wie physische Fotobilder sind in parasitärer Weise und unauflöslich an vergangene Situationen unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmbarkeit gebunden: und beides sind Speichermedien mit dem Zweck, Vergangenes in erstarrter Form aufzubewahren und für beliebige zukünftige Gegenwarten zugriffsbereit zu halten.

Beide Repräsentationsweisen können eine von der Realität längst überholte Vorstellung der - inzwischen älter gewordenen oder gar gestorbenen - Person vermitteln: und Reaktualisierungen müssen artifiziell hinzubeschafft werden, weil sowohl Erinnerungen wie Fotos selbstgenügsame, in abgekapselter Form perpetuierende Wesenheiten sind, die zwar diversen exogenen Erosionseinflüssen, niemals aber selbsterzeugten Reaktualisierungszwängen, unterliegen.
 
 

b) Selektivität

Sowohl Erinnerungen wie Fotos fixieren das Intentum in einer ganz spezifischen Perspektive, stabilisieren eine selektive Auffassungsweise, die bei späteren Reaktualisierungen nicht mehr willkürlich verändert werden kann. Bei internalen Repräsentationen sind es die damaligen, durch manche subjektiven Dispositionen mitbestimmten Qualitäten selektiven Wahrnehmens, inneren Erlebens oder emotionalen Reagierens, die dem nachträglich stabilisierten Erinnerungsbild ihre irreversible Prägung und Färbung verleihen; bei Fotoaufnahmen die zufälligen Standort- und Zeitbedingungen der Aufnahme, die auf alle Zeiten über sichtbare und unsichtbare Einzelheiten entschieden haben.

Nur aktual anwesende, der sinnlichen Anschauung zugängliche Gegenstände sind "Inbegriffe unendlicher Erfahrungsmöglichkeiten", die dem Subjekt die Autonomie gewähren (bzw. es auch dazu zwingen), seine selbstgewählten Auffassungsperspektiven ins Spiel zu bringen und über deren Beibehaltung oder Wechsel jeden Augenblick neu zu befinden. Sowohl bei internalen wie bei externalen Repräsentationen muss das Subjekt seine Freiheit, sie situationsunabhängig und zu beliebigen Zeitpunkten reaktualisieren zu können, teuer damit bezahlen, dass es immer nur selektiv präformierte "Bilder" vorfindet, die es dazu nötigen, sich an

von ihm selbst früher gewählte und/oder von anderen Subjekten festgelegte Weisen des Erlebens, Erfahrens, Betrachtens oder Wissens zu binden.
 
 

c) Limitierte Differenziertheit

Die Schärfe menschlichen Erinnerungsvermögens ist ebenso wie die Empfindlichkeit eines Farbfilms oder die Exaktheit einer verbalen Beschreibung auf jeweils charakteristische und unüberwindliche Weise begrenzt.

Je nach dem "Auflösungsvermögen" des verwendeten Speichermediums und Enkodierungsprozesses ist die Komplexität des Repräsentationsbildes sowohl faktisch wie theoretisch auf ein unüberschreitbares Maximalniveau reduziert: während ein leibhaftiger Gegenstand mit einem Horizont unendlicher zusätzlicher Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten vor mit steht und mich dazu einlädt, mit immer sensibleren Erfahrungsinstrumenten kognitiv in ihn einzudringen und in immer subtilerer Weise subjektiv auf ihn zu reagieren.

Solche Nachteile werden aber teilweise durch eine umso höhere Fungibilität und Rekombinierbarkeit der wahrnehmungs-unabhängigen Repräsentationen kompensiert. Sowohl auf dem Weg der Internalisierung wie der Externalisierung gelangen Individuen dazu, sich aus der unerbittlichen irreversiblen Sequentialität realer Wahrnehmungsprozesse zu befreien: indem Aktualwahrnehmungen durch verselbständigte Schemata substituiert werden, die zu beliebigen Zeitpunkten, in beliebiger synchroner Kombination oder diachroner Reihenfolge evoziert und miteinander verbunden werden können. Unabhängig davon, ob man im eigenen Gedächtnis oder im Fotoalbum nach "Erinnerungsbildern" kramt: immer findet man Arsenale von wechselseitig wohlabgegrenzten, gestalthaften Einzelelementen vor, die man völlig unabhängig von der Zeitfolge und den Begleitumständen ihrer Entstehung seligieren und Revue passieren lassen kann (vgl. z.B. Husserl 1928: 459; Schütz 1974:53). Nur dadurch wird es beispielsweise möglich, beliebige Mengen irgendwann und irgendwo akkumulierter disparater Realwahrnehmungen für Lernprozesse verfügbar zu machen: indem man sie in Hinblick auf neuartige Problemlösungen systematisiert und in innovativer Weise miteinander kombiniert (vgl. Flavell 1963: 118).
 
 

Die sowohl den internalen wie den externalen Repräsentationen eigenen Merkmale (retrospektive Orientierung, erstarrte Perspektivität, begrenztes Auflösungsvermögen, Verlust an Eigenaktivität) haben im allgemeinen zur Folge, dass sie im allgemeinen nicht imstande sind, als vollwertige Substitute für sinnlich Wahrnehmbares zu fungieren.

Abwesendes erscheint im Vergleich zu Anwesendem in einem Modus defizienter Gegebenheit: sei es, dass meine begrenzte Einbildungskraft mich daran hindert, einer imaginierten Flasche Wein ebenso viel Erlebniskraft wie einer trinkbereit vor mit befindlichen Flasche zuzusprechen; sei es, dass ich dafürhalte, ein realer Aufenthalt in Amerika würde mir unendlich viele zusätzliche, über alles Bücherwissen und alle bisherigen Reiseerzählungen früherer Touristen hinausreichende, Kenntnisse vermitteln.

Dieser Defizienzgrad des Abwesenden ist aber durchaus relativ, und sein Ausmass variiert völlig danach

  1. wie die Objekte oder Ereignisse beschaffen sind, auf die ich mich (in erlebens- oder erkenntnisbereiter Weise) intentional ausrichte,
  2. mit welchen Motiven und Fähigkeiten der Differenzierung, Klassifizierung, Konzeptualisierung u. a. ich derartige Ausrichtungen vollziehe.
Am besten lässt sich sinnliche Wahrnehmung überall dort durch internale oder externale Repräsentationen ersetzen, wo sie sich auf statische ,einfach strukturierte Objekte ohne jede Eigenaktivität bezieht: sei es, dass die Gegenstände ihrer intrinsischen Natur nach so sind, oder sei es, dass das Subjekt sie durch die Selektivität seiner sinnhaften Einstellung, Erwartungshorizonte und Wahrnehmungsdispositionen darauf reduziert.

So sind alle idealisierten logischen und mathematischen Konstrukte (Zahlen, geometrische Figuren, formale Operationen) im Medium ihrer internalen oder externalen Repräsentation in vollständig suffizienter Weise gegeben: kein physisch vor meinen Augen liegendes Dreieck könnte mich über zusätzliche geometrische Dreieckseigenschaften belehren, die ich nicht auch an einem virtuell vorgestellten oder symbolisch gezeichneten Dreieck identifizieren könnte.

Bereits bei dreidimensionalen Referenzobjekten geht diese perfekte Äquivalenz von Repräsentation und realem Gegenstand teilweise verloren, weil

  • internale Repräsentationen immer nur in der Form perspektivisch vereinseitigter Gestaltbilder evozierbar sind: und es fast nicht möglich ist, im Geiste jene "einheitliche Mannigfaltigkeit perspektivischer Einzelbilder" zu generieren, wie sie sich beim Herumgehen um den real daseienden Gegenstand "von selbst" ergibt;
  • externale Repräsentationen ebenfalls nur als projektive Abbildungen, oder dann aber als höchst unanschauliche mathematische Modellvorstellungen (z.B. Gleichungssysteme höherer Ordnung) gegeben sind, deren kognitive Adäquatheit damit bezahlte werden muss, dass sie nicht mehr sinnlich-gestalthaft vorgestellt werden können.
In dem Masse, wie ich einem Gegenstand neben räumlicher Ausdehnung auch andere physische Eigenschaften (Materialzusammensetzung, Farbe, Härte u.a.) zuschreibe, wächst die Defizienz der Repräsentationen gegenüber dem "leibhaftigen Gegenstand" bereits in Unermessliche an: weil kein noch so detailliertes Vorstellungsbild und keine noch so hochauflösende Bilddarstellung ausreichend ist, all seinen partikulären Feinstrukturen und all seinen variablen Anschauungsweisen (z.B. unter wechselnden Lichtbedingungen oder Kontrastwirkungen mit andern Gegenständen u.a.) Rechnung zu tragen.

Immerhin steht es bei allen anorganischen, mit keinerlei Eigenaktivität begabten Gegenständen noch in der Hand des Subjekts, sie in derart starrer, unperspektivischer und simplifizierter Weise wahrnehmungsmässig aufzufassen, dass internale oder externale Repräsentationen als adäquate Statthalter seiner leibhaftigen Realpräsenz empfunden werden.

So mag ein konventioneller Ägyptentourist die Pyramiden in ganz ähnlicher Weise sehen, wie er sie bereits aus Fotobüchern und Ansichtskarten kennt; und bei der mentalen Vergegenwärtigung meines vertrauten Wohnzimmers kann ich die Erlebnisinhalte praktisch vollständig vorwegnehmen, die sich bei seinem x-ten Wiederbetreten unweigerlich einstellen werden.

Diese Souveränität des Subjekts, Wahrnehmungs- und Repräsentationsbilder durch eigene Synthesebemühungen miteinander in Deckung zubringen, muss sich allerdings auf statisch-inaktive Objekte beschränken, die der doppelten Bedingung genügen, dass sie

  • den selbstgewählten Auffassungsgesichtspunkten und Differenzierungskriterien des wahrnehmenden Subjekts keinerlei eigensinnigen Widerstand entegensetzen;
  • dank ihrer invarianten Eigenschaften ein für allemal erkennbar sind und deshalb nicht weiter als Quelle unvorhersehbarer Überraschungen in Betracht gezogen werden müssen.
Nur unter solchen Voraussetzungen verfügt das Subjekt nämlich
  1. über die Freiheit, die Komplexität des Wahrgenommenen durch selektives Ignorieren verschiedenster Mitgegebenheiten auf das Komplexitätsniveau internaler oder externaler Repräsentationen "herunterzutransformieren",
  2. über die Fähigkeit, adäquate und verlässliche kognitive Repräsentationen des Wahrgenommenen zu kristallisieren.
In dem Masse nun, wie das wahrgenommene Objekt als eine ursächliche Quelle eigenselektiv erzeugter Ereignisse, Reaktionen, Verhaltensweisen oder Handlungen aufgefasst wird oder ihm gar die Fähigkeit zugestanden wird, sich gegenüber dem Beobachter auf selbstgewählte Weise darzustellen, lässt sich dieser Hiatus zwischen Realpräsenz und Repräsentation in keiner Weise mehr überbrücken. Bereits bei niedrigen Lebewesen macht es einen grösseren Unterschied als bei unbelebten Gegenständen, ob sie im Wahrnehmungsfeld anwesend sind oder nicht: weil sie durch die Aktualität ihres Verhaltens eine Komplexität und Spontaneität entfalten, denen - im Unterschied zu den invarianteren Merkmalen ihrer Anatomie oder Physiologie - in den internalen oder externalen Repräsentationsbildern auf keine Weise Rechnung getragen werden kann.

Bereits gegenüber Tieren und Pflanzen also befindet sich deshalb ein wissenschaftlicher Beobachter in einem Verhältnis reduzierter epistemischer Souveränität, weil diese Wesen ihm durch ihr unberechenbares Verhalten aufdiktieren, welche ihrer Aspekte er ignorieren darf und welche nicht: unabhängig davon, mit welchen vorgefassten, auf seine Repräsentationsbilder abgestimmten Auffassungsperspektiven er ihnen begegnet. Im scharfen Gegensatz zu mathematischen Gegenständen ist eine permanente Realpräsenz solcher Objekte erforderlich, damit ein adäquates kognitives Verhältnis zu ihnen aufrechterhalten werden kann: weil Repräsentationen der Mannigfaltigkeit, unvorhersehbaren Variabilität und evolutiven Entwicklung ihrer Eigenschaften und Verhaltensweisen niemals gerecht werden können - und deshalb im Zustand relativer Unbestimmtheit und ständiger Revidierbarkeit gehalten werden müssen.

Diese relative Insuffizienz internaler und externaler Repräsentationen im Verhältnis zum realen Gegenstand erreicht sein unüberbietbares Maximum, wenn der Beobachter das Wahrnehmungsobjekt als ein ALTER EGO konzipiert d.h. als ein anderes Subjekt, das auf gleiche Weise wie er selbst in der Lage ist, eigenselektiv zu erleben und zu handeln und seiner selektiven Sichtweise eine völlig gleichrangige eigene Auffassungsperspektive gegenüberzustellen.
 
 

Weil externale oder internale Abbildungen menschlicher Personen denselben Schranken wie alle andern Repräsentationen unterliegen, sind sie aus vier Gründen vollständig ungeeignet, um als Substitut für ihre Realpräsenz zu fungieren:

  1. Sie sind viel zu simpel strukturiert, um der ungeheuren Heterogenität und Variabilität aller Merkmale, Verhaltensweisen und psychischen Erlebnisinhalte u.a. gerecht zu werden.
  2. Sie sind überaus spekulativ: weil sie sich auf nicht direkt beobachtbare, sondern aus leiblichen Ausdruckskundgaben nur höchst indirekt zu erschliessende Gegebenheiten (Erlebnisse, Motivationen, Fähigkeiten u.a.) beziehen.
  3. Sie sind notwendigerweise desubjektivierend, weil ihnen (wenn man vom problematischen Repräsentationsmodus des Träumens absieht) die pygmaleonische Eigenschaft fehlt, neben den objektiven Eigenschaften auch die spontane Subjektheit der Person in sich aufzunehmen.
  4. Sie sind asozial: indem der objektivierende Beobachter alle jene Aspekte der Person ausser Acht lassen muss, die sich erst in der Kommunikation mit ihr erschliessen würden.
So kann bereits bei einem rein unilateralen Verhältnis sozialer "Fremdeinstellung" (im Sinne von Schütz 1974: 204ff.) - ganz zu schweigen vom noch ungleich komplexeren Fall einer intersubjektiven Beziehung - niemals der Zustand eintreten, dass der kognitiv interessierte Beobachter glaubt, auf Grund der Adäquanz seiner inneren Vorstellungsbilder oder seiner externalen Abbildungen (Beschreibungen, Fotos u.a.) auf die weitere Realpräsenz einer Person verzichten zu können. Immer wird er ihre Anwesenheit als notwendige Rahmenbedingung für den Zugang zu weiteren neuartigen Erlebnissen und Erkenntnissen empfinden und mit ihrer Abwesenheit immer das Gefühl eines äusserst prinzipiellen, durch Erinnerungen, Briefe, Fotos u.a. in keiner Weise eliminierbaren "Realitätsverlusts" verbinden.

Anorganische Objekte können meine Aufmerksamkeit ungemein fesseln, solange sie neuartig sind, lästig fallen, unerwarteten Widerstand bieten, knapp sind oder mein Überleben bedrohen: aber sobald ich mich ihrer Existenz, sowie ihrer verlässlichen Eigenschaften und Funktionsweisen versichert habe, sinken sie zu trivialen Selbstverständlichkeiten des Alltags ab, um die ich mich selbst dann nicht weiter zu kümmern brauche, wenn ich (wie z.B. bei Trinkwasser, Brücken Fahrzeugen, etc.) täglich dazu gezwungen bin, mein physisches Überleben von ihnen abhängig zu machen.

Menschliche Personen, die in meinem Leben wichtig sind, werden im Unterschied dazu immer als aktual anwesende Interaktionspartner Bedeutung beibehalten; und sei es nur deshalb, weil ihre undurchschaubare Komplexität und die mit ihrer Handlungsautonomie zusammenhängende Unberechenbarkeit dazu nötigen, mich ihrer andauernd neu zu vergewissern.

So bleiben kognitive Verhältnisse zu menschlichen Personen unauflöslicher als alle andern kognitiven Akte ans urtümliche Medium direkter sinnlicher Wahrnehmung gebunden: an eine besonders "erfüllte Wahrnehmung" überdies, bei der die beiden Aspekte des Internal-Erlebnishaften und des External-Erkenntnishaften gleichgewichtig und undifferenziert zusammenwirken.

Entsprechend stellen wir in unseren Verhältnissen zu anderen menschlichen Subjekten fest, dass wir in äusserst komplexer und intuitiv-ganzheitlicher (gleichermassen kognitiver und emotionaler) Weise auf sie reagieren:
 

"In das Subjekt hineinwirkend, löst der Sinneseindruck eines Menschen Gefühle von Lust und Unlust in uns aus, von eigner Gesteigertheit oder Herabgesetztheit, von Erregung oder Beruhigung durch seinen Anblick oder den Ton seiner Stimme oder durch seine blosse Gegenwart in demselben Raume. .......Nach der entgegengesetzten Dimension streckt sich die Entwicklung des Sinneneindrucks, sobald er zum Mittel der Erkenntnis des anderen wird; was ich von ihm sehe, höre, fühle, ist jetzt nur die Brücke, über die ich zu ihm als meinem Objekt gelange.

Gegenüber den nicht-menschlichen Objekten pflegt dies beides weit auseinanderzuliegen. An ihrer sinnlichen Gegenwärtigkeit betonen wir entweder ihren subjektiven Gefühlswert: den Duft der Rose, die Lieblichkeit eines Klanges, den Reiz der Zweige, die sich im Winde biegen, empfinden wir als ein im Inneren der Seele sich abspielendes Glück. Oder wir wollen die Rose oder den Ton oder den Baum erkennen - so setzen wir dafür völlig andere Energien ein, oft mit bewusster Abwendung von jenen. Was hier ziemlich zusammenhangslos miteinander abwechselt, ist dem Menschen gegenüber meistens zu einer Einheit verwebt. Unsere Sinneseindrücke von ihm lassen ihren Gefühlswert auf der einen Seite, ihre Verwendung zu einer instinktiven oder gesuchten Kenntnis seiner auf der andern - zusammenwirken und praktisch eigentlich unentwirrbar zur Grundlage unserer Beziehung zu ihm werden." (Simmel 1908b: 483/484).
 

Deshalb pflegen sich auch Urteile über Personen aus dem unkontrollierten Zusammenfliessen beider Orientierungsquellen zu konstituieren: so dass nie ganz klar wird, inwiefern ich aus objektiver sachlicher Kenntnis oder spontaner subjektiver Regung dazu gelangt bin, meinen Partner attraktiv, liebenswert, ehrgeizig oder hohlköpfig zu finden.

Spezielle Vorkehrungen individueller Selbstdisziplin oder institutioneller Normierung sind notwendig, um dieses diffuse Ineinanderwirken fremdreferentieller Objektivierung und selbstreferentieller Subjektivierung in Richtung auf eine höhere Differenziertheit und klarere Prioritätsordnung beider Orientierungen zu überwinden: z.B. wenn Ärzte und Psychotherapeuten selbst gegenüber attraktiven jungen Patientinnen strikte affektiv-neutrale Sachlichkeit walten lassen, oder wenn umgekehrt der Code der "romantischen Liebe" mich dazu anleitet, meine Zuneigung zur Geliebten nicht auf deren empirisch verifzierbare Merkmale, sondern rein auf die durch sie in mir ausgelösten Gefühlsreaktionen abzustützen.

Erwartungsgemäss kann man bei Kleinkindern in sehr frühen Stadien ontogenetischer Reife einen Zustand maximaler Undifferenziertheit zwischen Selbst- und Fremdreferenz finden, der als "empathischer Altruismus" (Hoffmann 1976) bezeichnet werden kann. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist das Kind, das - wenn es ein anderes Kind weinen hört - selber zu weinen anfängt und damit gleichzeitig auch die dazugehörige selbe Stimmungslage in sich evoziert. Externale Wahrnehmungs- und internale Erlebensprozesse sind in dieser frühen Entwicklungsphase also auf starre Weise miteinander gekoppelt und konstituieren ein undifferenziertes Einheitsphänomen, über dessen Grad an endogener oder exogener Bedingtheit sich das Subjekt keinerlei Rechenschaft geben kann.

Demgegenüber beruht der viel später erworbene "sympathische Altruismus" auf der Fähigkeit, relativ stark verselbständigte Selbstreferenzen und Fremdreferenzen wiederum in ein (im Vergleich zur Empathie künstlicheres und labileres) Koppelungsverhältnis zu bringen.

Er setzt voraus, dass EGO und ALTER gelernt haben

  1. ihr kognitives Verhältnis zueinander (als unabhängige Subjekte, die einander kennenlernen und mittels role-taking sich die Perspektive des jeweils anderen zu eigen machen müssen),
  2. ihr motivationales Verhältnis zueinander (als Personen, die im jeweils anderen subjektive Reaktionen wie Wohlwollen, Liebe, Freundschaft, Antipathie u.a. wecken)
scharf voneinander zu unterscheiden und ihre Interaktionen (z.B. Hilfeleistungen) von einer anspruchsvollen Synthese beider Orientierungen leiten zu lassen (Hoffmann 1976).
 

Wie alle andern Wahrnehmungsprozesse unterscheiden sich also auch interpersonelle Wahrnehmungen danach, wie stark die internalen Erlebnisgehalte und die externalen Kognitionsgehalte wechselseitig ausdifferenziert und verselbständigt sind, die im perzeptiven Akt in eine Synthese zueinander gebracht werden müssen.

Auch auf diesen höheren Differenzierungsniveaus behalten typische Interaktionspartner ihre Neigung bei, sich gleichzeitig in erkennender wie auch erlebender Weise auf den jeweils anderen zu beziehen, und sie bewahren sich normalerweise die Freiheit, das (sowohl komplementäre wie substitutive) Wechselverhältnis beider Orientierungen unnormiert-fluide und ständig neu respezifizierbar zu belassen.

Nur in marginalen, transitorischen Grenzfällen degeneriert ein ALTER EGO für mich zu einem rein kognitiv erfassten Gegenstand, den ich ohne Beimischung subjektiver Perspektiven und Affektreaktionen in die Welt des Objektiv-Faktischen einordnen kann; und umgekehrt wird er auch kaum jemals zu einem reinen Auslösestimulus subjektiver Erlebnisinhalte (z.B. sexueller Natur) verkommen, weil seine eigensinnige Realpräsenz mich immer wieder dazu zwingt, die Faktizität seiner Merkmale und Verhaltensweisen zu respektieren.

Im nichtsozialen Bereich werden Wahrnehmungsprozesse normalerweise dadurch differenziert und in ihrer Leistungsfähigkeit erhöht, dass eine der beiden Orientierungen absoluten Vorrang erhält und zum Gegenstand immer raffinierterer und subtilerer Durchgestaltung wird. So wird es als kultureller Fortschritt gefeiert, wenn es im Zuge der Ausdifferenzierung von Wissenschaft möglich wird, zu allen Objekten (selbst zu Leichen, nächsten Familienmitgliedern oder eigenen religiösen Überzeugungen) eine streng erkennende, von allem subjektiven Erleben abstrahierende Auffassungsperspektive zu gewinnen, oder wenn die von kirchlichen Bindungen emanzipierte Malkunst seit der Renaissance dazu übergeht, alle Gegenstände (selbst Schlachttiere oder Bergwerksarbeiter) unter dem ausschliesslichen Gesichtspunkt ihres ästhetischen Erlebenswerts bildhaft zu thematisieren. Und die Reife heranwachsender Kinder bemisst sich nicht zuletzt an ihrer wachsenden Fähigkeit, beide Orientierungen scharf voneinander zu trennen und beispielsweise zu begreifen, dass dieselben Gartenblumen unter erkenntnis- wie auch unter erlebnishaftem Blickwinkel thematisch werden können: je nachdem, ob sie als Gegenstände des Botanikunterrichts oder als dekorativer Zimmerschmuck fungieren.

Nur in interpersonellen Verhältnissen scheint es häufig erlaubt, ja geboten zu sein, eine undifferenziertere Mischorientierung beizubehalten und auf die Leistungssteigerungen, die offensichtlich nur mittels Spezialisierung erreichbar sind, zu verzichten. Die Funktionalität einer derartigen Minderdifferenziertheit wird allerdings rasch deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass typische soziale Interaktionsverhältnisse unter vergleichsweise prekären Bedingungen stattfinden müssen; indem es auf der Basis eines chronisch unzureichenden Kenntnisstandes nötig ist, sofortige Entscheidungen zu treffen (a), sich aus oft unzureichenden Gründen motivational zu binden (b) und mit den Problemen doppelter Kontingenz zurechtzukommen (c).
 
 

ad (a):

Personen sind unter allen Objekten dadurch ausgezeichnet, dass sie füreinander den geringsten Grad an relativer Erkennbarkeit besitzen. Meine empirischen Kenntnisse vom ALTER EGO beschränken sich auf eine ganz kleine, meist untypisch verzerrte Stichprobe seines gesamten Verhaltensstroms sowie auf wenige "Ausdruckkundgaben", in denen wenige Bruchstücke seinen Innenlebens auf indirekte Weise sichtbar werden. Diese Insuffizienz des kognitiven Zugangs steht im härtesten Kontrastverhältnis zum Zwang, gerade jetzt mit dem vor mir stehenden ALTER EGO umzugehen und auf seine Äusserungen ohne Zeitverzug zu reagieren.

Überaus naheliegend wird es dann, diesen Mangel an fremdreferentieller Information durch einen umso stärkeren Rekurs auf selbstreferentielle Orientierungsquellen zu kompensieren. Die reflexive Einsicht, dass ich ALTER sympathisch finde und mich in seiner Gegenwart "wohlfühle", kann ein hinreichender Grund sein, um zu ihm eine Beziehung aufzunehmen und mich von der unlösbaren Frage zu befreien, ob ALTER auf Grund seiner Charaktermerkmale objektiv "wert" sei, geachtet oder geliebt zu werden.

Und "persönliches Vertrauen" stellt sich höchst selten erst als ein Ergebnis langwieriger Recherchen und empirischer Charakterprüfungen ein, sondern wird auf Vorschuss gespendet, indem man sich dabei ertappt, einen Partner "vertrauenswürdig" zu finden, ohne sich über die genauen Gründe (Aussehen, Benehmen u.a.) Rechenschaft geben zu können. Je weniger objektive Informationen ich über meinen Partner habe, und je schwieriger und aufwendiger es ist, derartige Informationen zu beschaffen, desto ausschliesslicher werde ich mich auf meine (jederzeit, widerstandslos und in voller Evidenz zugänglichen) inneren Erlebnisreaktionen verlassen, die der Partner in mir evoziert: ähnlich wie Individuen bei der Beurteilung ihrer Lebenssituation ihre momentanen Stimmungen als Orientierungsquelle verwenden, wenn man ihnen externale kognitive Strukturierungen entzieht (vgl. z.B. Schwarz 1985).

Deshalb werden reflexive, dem inneren Erleben abgewonnene Orientierungshilfen vor allem in den Anfangsphasen einer sozialen Beziehung viel Gewicht erhalten: wenn ohne zureichende objektive Kenntnisse entschieden werden muss, ob, wie, in welcher Absicht und mit welchen Erfolgsaussichten man eine Kontaktaufnahme initiiert.

Die bei der Konstituierung nichtformalisierter Sozialverhältnisse so wichtige Rolle der "spontanen Sympathie" besteht darin, dass ohne sie viele Beziehungen interpersoneller Wahrnehmung und Kommunikation überhaupt nie entstehen würden, die zum allmählichen Erwerb objektiver Kenntnisse voneinander die unerlässliche Voraussetzung bilden.

Und umgekehrt können Antipathiereaktionen die noch viel unentbehrlichere Funktion erfüllen, primäre, von objektiven Koognitionen unabhängige Gründe für das Nichteingehen sozialer Beziehungen zu liefern und meine knappen Kapazitäten für Aufmerksamkeits-, Interaktions- und Bindungskapazitäten für andere, vielleicht erfolgversprechendere Partner offenzuhalten.

Ohne derartige Abwehrreaktionen wäre ich gezwungen, mich in alle sich bietenden Interaktonsgelegenheiten "vorurteilslos" zu engagieren, um sie a posteriori "mit guten Gründen" vielleicht wieder aufzugeben: ein hoffnungsloses Unterfangen vor allem in modernen, urbanen Gesellschaften, wo die Vielzahl alternativer Ansprechpartner dazu zwingt, immer oberflächlichere, undifferenziertere und subjektivere Abweisungsgründe (unsorgfältige Kleidung, schlechter Geruch, unsympathische Stimme u.a.) gelten zu lassen. Simmel hat wohl richtig erkannt, dass der Geruchsinn dem modernen Menschen viel mehr unangenehme als angenehme Empfindungen vermittelt: wohl auch deshalb, weil er immer mehr für die Rechtfertigung von Nichtkontakten Verwendung findet (vgl. Simmel 1908b: 489f.)

Die funktionale Bedeutung von Sympathie für das Zustandekommen einer Sozialbeziehung ist relativ beschränkt: weil sie ja gerade die Bedingungen schafft, dass im realisierten Interaktionsverhältnis objektive Kenntnisse akkumuliert werden und mit der Zeit die Führung übernehmen können. Die Funktionswirkung von Antipathie für das Unterbleiben einer Sozialbeziehung hingegen ist quasi absolut: weil ich über eine Person, die ich abweise, und somit nicht kennenlerne, ausgerechnet jenes Wissen nicht erwerben kann, das mir ein Urteil darüber erlaubt, ob meine primäre Negativeinstellung gerechtfertigt war oder nicht. Nichtkontakte sind deshalb immer weniger gut als Kontakte auf objektive kognitive Begründungsfaktoren abgestützt: so dass es wohl schon um der besseren Annäherung an die Wahrheit willen vernünftiger sein mag, seine entfernteren Artgenossen im christlichen Sinne vorsorglich eher zu "lieben", anstatt ihnen (allein um den Nichtumgang mit ihnen zu rechtfertigen) allerhand Negatives und Hassenswertes zu unterstellen.

Auch bei bereits initiierten und selbst bei gut konsolidierten Sozialbeziehungen kann es nützlich sein, die Doppelorientierung am objektiven Erkennen einerseits und am subjektiven Erleben andererseits voll aufrechterhalten. Vor allem muss man sich darauf einstellen, dass sich "kognitive Insuffizienzen" in der Beziehung immer wieder reproduzieren und einen erneuten Rückgriff auf "Erlebnisorientierung" nötig machen können: z.B. wenn sich die Partner in ungewohnt-neuartigen Situationen begegnen, oder wenn sie im Zeitablauf (etwa als Folge ontogenetischer Reifung und Sozialisation) komplexere Persönlichkeitsstrukturen und variablere Verhaltensrepertoires erlernen.
 
 

ad (b):

Ein zweiter Grund für die eigentümliche Bivalenz interpersoneller Wahrnehmungsbeziehungen liegt darin, dass sie zur motivationalen Stabilisierung von Sozialbeziehungen beitragen, die unter Bedingungen hoher Autonomie (und Unberechenbarkeit) der Teilnehmer stabil gehalten werden müssen.

Nicht nur Freundschaften und Ehen, sondern auch Arbeitsgruppen und freiwillige Vereinigungen können unter einem breiteren Spektrum widriger Umweltbedingungen oder innerer Konflikte erfolgreich überleben, wenn ihre Mitglieder wahlweise auf "subjektive" oder "objektive" Gründe rekurrieren können, um sich für die Kontinuierung ihres Zusammenhalts zu motivieren.

So mag ein Ehemann seiner Anvermählten über bedrohliche Gefühlsschwankungen hinweg die Treue halten, wenn er der Überzeugung ist, "im Prinzip" die für ihn optimale Gattin gefunden zu haben; und umgekehrt kann eine affektive Zuneigung eine Partnerbeziehung gegenüber Einbrüchen von Dissens oder "begründetem Misstrauen" unempfindlicher machen.

Obwohl jede dieser Integrationsbasen in ihrer sachlichen, zeitlichen oder sozialen Reichweite recht eingegrenzt sein kann, gewinnen Sozialsysteme aus der simultanen Wirksamkeit beider eine überaus generalisierte innere Stabilität: einen Zustand überdeterminierter "Hyperintegration", der dazu eingesetzt werden kann, den Bestand und die Funktionsfähigkeit besonders wichtiger und schwer zu ersetzender Sozialverhältnisse (z.B. Mutter-Kind-Beziehungen oder Solidaritätsnetzwerke innerhalb der Eliten) abzusichern.
 
 

ad (c):

Wenn Interaktionspartner ausschliesslich auf Grund objektiver wechselseitiger Kenntnisse und Informationen aufeinander reagieren, entsteht wegen der doppelten Kontingenz ihrer Interdependenzbeziehung ein Zustand dauernder Unterbestimmtheit, Erwartungsunsicherheit und Fluktuation.

Denn jeder Partner wird bei der Konkretisierung seines Handelns immer mitberücksichtigen, dass andere ihn wahrnehmen und diesen überdies unterstellen, dass sie um dieses Wahrgenommensein wissen (usw.). Immer kann ich so handeln, dass ich die "objektiven Erwartungen" der Partner absichtlich falsifiziere: und unendlich sind die Möglichkeiten, durch gezielte Strategien der Selbstdarstellung auf das "Wissen", das andere über mich zu haben glauben, Einfluss zu nehmen.

Weil: "objektive Personenkenntnisse" also schlecht geeignet sind, um im oszillierenden interaktiven Rückkoppelungsprozess als verlässliche Haltepunkte zu dienen, müssen derartige "Interdependenzunterbrecher" anderswo gefunden werden: in erster Linie sicher auf der Ebene kontrafaktisch stabilisierter Werte und Normen, die zwar sehr wohl diffus oder dissensual sein können, aber selbst dann nicht der hohen Labilität und Manipulierbarkeit, wie sie den sozialen Kognitionen eigen ist, unterliegen.

Substitutiv zu normativen Prämissen können nun auch die intrapersonellen Erlebniskorrelate sozialer Wahrnehmungen als Interdependenzunterbrecher dienen, insofern sie infolge ihrer Bindung an innerpsychisch stabilisierte Affektdispositionen und Charakterstrukturen eine geringere Variabilität und Kontingenz als die external-kognitiven Wahrnehmungskorrelate besitzen und teilweise gar ein integrales und kaum reversibles "Engagement der Persönlichkeit" mitimplizieren.

Wenn ich ALTER beispielsweise für vertrauenswürdig halte, so drücke ich dadurch keineswegs nur ein kognitives Urteil über ihn aus, sondern ich engagiere mich ihm gegenüber in einer bestimmten Weise, und ich teile ihm mein Engagement gleichzeitig mit (Luhmann 1973b). Entsprechend hängt sein faktisches Verhalten von jetzt an nicht mehr nur davon ab, ob meine anfängliche Charakterattribution gerechtfertigt war oder nicht, sondern vor allem auch davon, wie er auf die Tatsache, dass ich mich durch der Vertrauenserweis von ihm abhängig (bzw.: durch in verletzbar) gemacht habe, nun reagiert. Denn wenn ALTER mich enttäuscht, so stehe ich da als jemand, der sich offenbar nicht auf seine eigenen Urteile über andere Personen verlassen kann und der deshalb Grund hat, kein Vertrauen mehr zu sich selber zu haben. Und vielleicht wird nun ALTER gerade deshalb mein Vertrauen honorieren, um mir diesen schwerwiegenden Bruch meines Selbstvertrauens zu ersparen (Luhmann 1973b).

Zweitens gehen von interpersonellen Erleben auch deshalb grössere soziale Stabilisierungswirkungen als vom interpersonellen Erkennen aus, weil Erlebnisse in der Privatwelt des einzelnen Subjekts verbleiben und deshalb nicht ins endlose Wechselspiel intersubjektiven Reagierens und Rereagierens einbezogen sind:

Weil Du nicht weisst, wie sehr ich Dich liebe, kommst Du auch nicht auf die Idee, mich schamlos auszunutzen; und weil wir einander nicht eingestehen, wie sehr wir uns momentan auf die Nerven gehen, halten wir unsere Beziehung aufrecht, bis wir vielleicht wieder bessere Tage erleben.

Andererseits können dieselben Bedingungen doppelter Kontingenz auch zur Folge haben, dass aus dem diffusen Nebeneinander von Erlebens- und Erkennensorientierung auch mannigfache Unsicherheiten entstehen, dank denen kollokale Systeme im Zustand ständiger Dynamik und Respezifizierbarkeit verbleiben und niemals jenen Zustand der Konsolidierung, ja Erstarrung erreichen, wie er sich bei manchen (alokalen) Institutionen findet.

Wenn nämlich EGO sich als jemand vorfindet, der auf die Wahrnehmung von ALTER in bivalenter Weise (d.h. gleichzeitig objektivierend und subjektivierend) reagiert und über das Prioritätsverhältnis beider Aspekte ständig neu entscheidet, so weiss er auch, dass ALTER ihm in genau derselben Weise begegnet, und überdies weiss er, dass ALTER von dieser Unterstellung EGO´s weiss.

Selbst in jenem unwahrscheinlichen Grenzfall, wo EGO und ALTER über die wechselseitig mitgeteilten Stimuli und Informationen völlige Kontrolle haben, wird deshalb ein Zustand der Unsicherheit und Unvoraussehbarkeit aufrechterhalten bleiben: weil keiner der Partner sicher sein kann, ob der gemeinte Adressat (geschweige denn der zufällige Zuschauer) eher auf die kognitiven oder eher auf die erlebnishaften Implikationen seiner Anwesenheit, äusseren Erscheinung oder Verhaltensweisen reagiert.

Wer in der Diskussion seine brillante Intelligenz und fundierten Kenntnisse zum Tragen bringt, mag auf Grund der objektiv gezeigten Überlegenheit Respekt und Bewunderung erfahren, gleichzeitig aber Reaktionen reservierter Distanznahme bei all jenen evozieren, die das korrelative Gefühl ihrer Unterlegenheit nicht gut ertragen.

Und wenn eine alternde Frau aufwendige Schönheitspflege betreibt, so hofft sie wohl, dass die Männer nachher ausschliesslich auf den beglückenden Erlebniswert ihres Anblicks reagieren: und nicht auf die nüchterne Einsicht, dass dieser Anblick das Ergebnis mühevoller Anstrengungen darstellt, die nur zu dem Zwecke unternommen wurden, um bestimmte maskuline Erlebnisreaktionen zu evozieren.

Selbst in institutionell normierten Kollokalsituationen (Arbeitsgruppen, Vorstandssitzungen Verhandlungsgremien, u.a.) vor allem aber in informellen Begegnungen werden die Partner einander wechselseitig die Neigung attribuieren, in labil-veränderlicher, teilweise beeinflussbarer und teilweise unvorhersehbarer Weise auf Erkenntnis und Erlebnisaspekte der interpersonellen Wahrnehmungen zu reagieren. Wenn diese Disposition sowohl faktisch besteht wie auch interpersonell zugeschrieben wird, so wird das kollokale Sozialverhältnis dauerhaft in einem fluiden, durch immer wieder neue Überraschungen, Chancen und Risiken gekennzeichneten Zustand verbleiben, deren Registrierung, Beeinflussung und Bewältigung von den Teilnehmern ein hohes Mass an ständiger Aufmerksamkeitszuwendung erfordert.

So entstehen einerseits immer wieder neue interaktionstaktische Chancen: weil jeder Partner erwarten darf, die Aufmerksamkeitsrichtung seiner Adressaten in die eine oder andere gewünschte Richtung beeinflussen zu können. Ein Individuum mit hässlich deformierter Körpererscheinung mag beispielsweise darauf hoffen, spontane Reaktionen der Distanznahme oder des Abscheus durch Ausspielen objektiv-unabweisbarer geistiger Brillanz oder charakterlicher Liebenswürdigkeit zu neutralisieren.

Und andererseits entstehen auch kaum beherrschbare Interaktionsrisiken, weil die Partner immer disponiert bleiben, ihre Aufmerksamkeit auf spontane, teilweise von ihnen selbst nicht kontrollierbare Weise zwischen dem Cogitatum und der Cogitatio der personellen Fremdwahrnehmung pendeln zu lassen oder eine bisher dauerhaft beibehaltene Orientierungsrichtung abrupt zu diskontinuieren.

So mögen manche Liebes- und Sexualbeziehungen zumindest in ihren Initialphasen dadurch charakterisiert sein, dass kognitiv-objektivierende Aspekte im interpersonellen Wahrnehmungsprozess unterbelichtet bleiben: weil dieser nur als ein Medium dient, um einander wechselseitig genussreiche innere Erlebniszustände (des Geliebtwerdens, der physiologischen Befriedigung u.a.) zu verschaffen. Erst mit wachsender Dauer und Vielseitigkeit des Interaktionsverhältnisses mögen die unterdessen unmerklich akkumulierten objektivierenden Beurteilungen ihr Eigenrecht verlangen; und die schwer behebbare Doppelkrise mag dann darin bestehen, dass erstens jeder sich nur noch am "wahren Charakter" des andern orientiert, und dass zweitens jeder unterstellt, dass der andere genau dies tut.
 

Der in kollokalen Sozialverhältnissen generell festzustellende Zustand des erhöhten "Interaktionstonus" (Goffman 1971: 35ff.), bzw. der "social facilitation" (Zajonc 1965) mag vor allem dadurch bedingt sein, dass die Partner andauernd viel Aufmerksamkeit und Energie darauf verwenden müssen, um einerseits Einfluss darauf zu nehmen und andererseits herauszufinden, wie sie von den jeweils anderen wahrgenommen, erlebt und beurteilt werden.

So sind kollokale Sozialsysteme im strengen Wortsinne eigendynamisch und autokatalytisch, weil dieselben Wahrnehmungskapazitäten, die die Ursache für die sich permanent erneuernden Zustände der Labilität und Ungewissheit bilden, auch für deren Bewältigung intensiv beansprucht werden müssen: so dass oft nur eine drastische Reduktion des Sensibilisierungsgrades (bedingt durch Müdigkeit, Schlaf, räumliche Distanzierung, Ablenkung durch andere soziale Engagements u.a.) helfen kann, die eskalierenden Prozesse zentripetaler Interdependenzverdichtung und "Selbsterhitzung" abzustoppen (vgl. Kap. 5).


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Prof. Hans Geser
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