Ein theoretischer Integrationsversuch
(29 Dezember 1996)
FÜNFTES KAPITEL:
PRINZIPIEN DER STRUKTURBILDUNG UND SOZIALEN
GESAMTORDNUNG KOLLOKALER SYSTEME
5.2 Raumdistanz und relationales Feld zwischen
menschlichen Personen
Selbst bei physikalischen Partikeln pflegen sich die wechselseitigen
Relationen in Abhängigkeit von ihrer räumlichen Distanz auf komplexe
Weise zu verändern: weil je nach Entfernung nicht nur die Intensitäten
gegebener Kräfte variieren, sondern auch völlig verschiedene Arten von
Kräften (Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache
Wechselwirkung) in den Vordergrund treten.
Auf biologischem Niveau liegen die Verhältnisse noch ungleich
komplizierter, weil anstelle der streng begrenzten Anzahl physikalischer
Kräftekategorien vielfältige spezifische Verhaltensfähigkeiten und
Sensibilitäten berücksichtigt werden müssen, die mit der genetischen
Struktur des Organismus kovariieren, je nach seinem inneren Zustand oder
seiner äusseren Situation aktiviert oder inhibiert sein können, und eine
unterschiedliche räumliche Reichweite besitzen.
Und im Falle menschlicher Personen sind die Kovarianzen zwischen
räumlicher Distanz und der Struktur des relationalen Feldes am
vielschichtigsten und am wenigsten kausal determiniert: weil die (nach wie
vor unausweichlichen) Wechselwirkungen physikalischer,
chemisch-physiologischer und senso-motorischer Natur in kulturell und
personell variable sinnhafte Erlebens- und Handlungshorizonte integriert
und von dieser Ebene der Intentionalität her mindestens partiell
gesteuert werden (vgl. 2.1),
Es lässt sich aber leicht zeigen, dass diese nicht-sinnhaften
Interrelationsebenen, die menschliche Personen mit andern physikalischen
Objekten und biologischen Organismen gemeinsam haben, mit zunehmender
räumlicher Nähe in immer breiterem Umfang und mit wachsender Intensität
wirksam werden, und sich der Steuerung durch autonom gewählte
Handlungsintentionen und eigenselektiv festgelegte erlebnismässige
Interpretationshorizonte in wachsendem Masse entziehen.
Wenn sich zwei Personen in jener maximalen Raumdistanz befinden, die
durch direkte sinnliche Wahrnehmung überhaupt noch überbrückbar ist,
werden sich ihre Interrelationen normalerweise auf visuelle Ebene
beschränken.
Charakteristisch für diese Grenzsituation ist, dass die Partner
- als Rezipienten im Prinzip frei darüber verfügen, ob sie
einander überhaupt wahrnehmen oder nicht: weil die visuelle
Wahrnehmung (zumindest relativ entfernter Objekte) sich nicht
zwangsweise und unkontrolliert, sondern über die Intentionalhandlung
des "Blickens" aktualisiert;
- als Emittenten in hohem Masse darüber verfügen, welche Kundgaben
sie den jeweils anderen wahrnehmen lassen: weil die Entfernung viel zu
gross ist, als dass z.B. spontane Ausdrucksweisen der Mimik und Gestik
registrierbar wären, hingegen dafür ausreicht, um (zum Beispiel)
absichtsvoll erzeugte Winkzeichen zu übermitteln;
- volle Autonomie behalten, um auf die Wahrnehmung des Anderen auf
irgendeine Weise (bzw. überhaupt nicht) zu reagieren: weil visuelle
Stimuli weit davon entfernt sind, in deterministischer Weise bestimmte
physiologische und motorische Abläufe in Bewegung zu setzen;
- sich im übrigen in einer je eigenen räumlichen Umwelt befinden, in
der es nur wenige Objekte (z.B. nächtliche Sterne) gibt, die sie aus
identischer Perspektive perzipieren, und nur wenige Ereignisse (z.B.
Regengüsse), die sie faktisch in genau gleicher Weise betreffen;
- ihre wechselseitige Reagibilität relativ gering halten, weil sie
einen Aufwand an Zeit und Anstrengung antizipieren, um zueinander in
ein intensiveres Interaktionsverhältnis zu treten (z.B. sieht A.,
dass dem weit draussen im Meer versinkenden B. nicht mehr zu helfen
ist, oder dass andere Personen dem in Ohnmacht gefallenen C. schneller
zu Hilfe eilen).
Räumlich weit distanzierte Partner werden sich also in einem wenig
differenzierbaren Verhältnis objektivierender Gegenständlichkeit
gegenüberstehen und sowohl beim eigenen Handeln, beim Erleben des Anderen
und beim Reagieren auf den Anderen in der Festlegung ihrer Sinnhorizonte
maximale, durch den dünnen Fluss der hereinkommenden Wahrnehmungsinhalte
nur unwesentlich eingeschränkte, Freiheitsgrade bewahren.
Diese Situation wird in allen Aspekten grundlegend gewandelt, wenn die
Partner auf Grund geringerer Raumdistanzen in die Lage kommen
- einander differenzierter wahrzunehmen,
- die interpersonelle Perzeption über die Visualität hinaus auf
andere Sinnesorgane auszudehnen,
- ihr Verhältnis durch ein breiteres Spektrum gemeinsamer
Umweltbedingungen beeinflussen zu lassen,
- rascher und widerstandsloser aufeinander zu reagieren.
1) Die visuell vermittelten Interrelationen verändern sich in der Weise,
dass die Partner voneinander auch all jene vielen feineren
Ausdruckskundgaben ihrer Körpererscheinung, Mimik und Gestik wahrnehmen
können, über die sie als Emittenten meist keinen vollständigen
Überblick und häufig auch keine bewusste Kontrolle haben.
Hinzu kommt, dass es angesichts des andauernden breiten Stroms derartiger
Äusserungen weitgehend dem Rezipienten überlassen bleibt, welche
Eindrücke er registriert oder ignoriert: und dass auch er normalerweise
wenig kontrollierbare, intuitive Verfahren kognitiver
Informationsverarbeitung anwendet, um seine Selektion zu treffen.
Selbst im (völlig unrealistischen) Grenzfall, dass EGO alle von ihm
ausgesandten Stimuli vollständig kennen und kontrollieren würde, könnte
er deshalb nicht vorhersagen, welche Eindrücke ALTER daraus gewinnt: Denn
zu diesem Zweck müsste er erleben können, wie ALTER sie erlebt: eine
reflexive Leistung, die nur höchst indirekt und partiell dadurch möglich
wird, dass EGO umgekehrt ALTERS Ausdruckskundgaben interpretiert: nur um
ALTER damit wiederum mit denselben kognitiven Problemen zu konfrontieren.
2) Die zum Gesichtssinn hinzukommenden, mit kürzerer räumlicher
Reichweite begabten Kanäle sinnlicher Wahrnehmung haben allesamt die
Eigenschaft, dass der Rezipient weniger Freiheitsgrade hat, sich
gegenüber dem Ob und Wie der Wahrnehmung eigenselektiv zu verhalten.
Während rein visuell verknüpfte Partner mühelos (und mittels eines
verstohlenen Seitenblicks leicht verifizierbar) voneinander wegblicken
können, gelingt es ihnen - wenn überhaupt - nur durch Anstrengung,
voneinander "wegzuhören": wobei ein solcher Akt für den
jeweils anderen immer zweifelhaft bleiben muss, weil weghören selbst
nicht wahrnehmbar ist und im Normalfall nicht erwartet werden kann.
Hinzu kommt, dass ALTER durch seine akustischen Stimuli ganz an EGO heran,
ja in ihn hineindringt: während er sich im visuellen Medium als ein rein
äusserliches Objekt darstellt, an dessen Oberfläche EGO's
Zudringlichkeit Schranken findet.
In noch ausgeprägterem Masse treffen all diese Merkmale auf die
olfaktorischen Wahrnehmungsreize zu, die sich häufig nur auf den
unmittelbaren Nahbereich des menschlichen Körpers erstrecken und dem
Rezipienten praktisch jeden Spielraum für autonom gesteuertes Erleben
streitig machen.
Selbst unter Aufbietung aller Kräfte kommt ein willentliches
"Wegriechen" normalerweise gar nicht in Frage, und die Koppelung
zwischen der Qualität des objektiven Geruchs und der Qualität des
subjektiven kognitiv-emotionalen Erlebens sind so eng, dass für
vermittelnde, sinnhafte Deutungshorizonte und Interpretationsmuster nur
ein geringer Entfaltungsspielraum bleibt.
"Indem wir etwas riechen, ziehen wir diesen Eindruck oder dieses
ausstrahlende Objekt so tief in uns, wie es durch keinen andern Sinn einem
Objekt gegenüber möglich ist - es sei denn, dass wir es essen. Dass wir
die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner, er
dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Sinnlich-Innerstes ein,
und es liegt auf der Hand, dass bei gesteigerter Reizbarkeit gegen
Geruchseindrücke überhaupt dies zu einer Auswahl und einem Distanznehmen
führen muss, das gewissermassen eine der sinnlichen Grundlagen für die
soziologische Reserve des modernen Individuums bildet." (Simmel
1908b:489).
Auf Grund ihrer Erlebnisintimität und Unausweichlichkeit sind gemeinsame
Geruchswahrnehmungen einerseits geeignet, verdichtete kollektive
Integration mitzutragen und - wie z.B. beim religiösen Gebrauch von
Weihrauch - der Verschmelzung des Individuums mit einer umfassenden Gruppe
oder Institution Ausdruck zu verleihen.
Mit jedem Schritt zur Individualisierung aber steigert sich das Risiko,
dass Gerüche als unvereinbar mit dem Autonomie- und
Differenzierungsstreben des einzelnen Subjekts empfunden werden und
deshalb überwiegend unlustbetonte Erlebnisgehalte induzieren (vgl. Simmel
1908b:490).
Im Medium ihres "unverwechselbaren Körpergeruchs" begegnen sich
Menschen vorwiegend als Träger zugeschriebener Eigenschaften, die sich
der individuellen Differenzierbarkeit und absichtlichen Gestaltbarkeit
weitgehend entziehen: sei es, dass sie in physiologischen Funktionsweisen
oder in unmanipulierbaren sozialen Zugehörigkeiten (Bauernstand,
Lumpenproletariat u.a.) ihre Ursache haben (vgl. Simmel 1908b: 489f.)
Schliesslich sind die im unmittelbaren Berührungsfeld wirksamen taktilen
Reize dadurch charakterisiert, dass die kausalen objektiven Abläufe sich
am unmittelbarsten und unausweichlichsten in innerpsychisches Erleben
übersetzen und auch auf direkteste und zwanghafteste Weise bestimmte
physiologische oder verhaltensmässige Reaktionen evozieren.
Dies zeigt sich einerseits am Beispiel jener zärtlichen
Körpermanipulationen, die mit der Erweckung sexueller Erlebens- und
Handlungsimpulse im unvermittelten Kausalzusammenhang stehen; und
andererseits natürlich bei Hieben, Stössen, Stichen und andern violenten
Körperattacken, die mit unbezwinglichen Schmerzempfindungen und
unwillkürlichen Verhaltensreaktionen (Ducken, Fliehen u.a.) einherzugehen
pflegen (vgl. Waldenfels 1980: 104ff.).
3) Mit wachsender räumlicher Annäherung wird es immer
wahrscheinlicher, dass sich menschliche Personen in gemeinsamen objektiven
Kausalzusammenhängen vorfinden, die in physischen Aspekten ihres
leiblichen Zustandes und ihres Verhaltens oder in der Betroffenheit durch
dieselben Umweltereignisse ihre Ursache haben und auf der Ebene ihres
intersubjektiven Verhältnisses und der sozialen Kollektivierung
mannigfache Veränderungen induzieren.
Erstens können die beteiligten Personen selber die Ursache für
Situationen oder Ereignisse sein, die - wenn sie entsprechend wahrgenommen
und attribuiert werden - ihr soziales Verhältnis affizieren: z.B. wenn
EGO dem ALTER in der Sonne steht oder ihm die Sicht auf die Kinoleinwand
verdeckt; wenn verschüttete, in engem Raum eingeschlossene Bergleute bald
einen Mangel an Sauerstoff oder Nahrungsvorrat erfahren, oder wenn
Passanten mangels Koordination ihrer Bewegungsrichtungen unabsichtlich
miteinander kollidieren.
Zweitens können exogene Ereignisse die Ursache sein, dass zwischen
Anwesenden zusätzliche kausale Bedingtheiten entstehen, die eine (oft
sehr dringliche) Neuorientierung ihrer wechselseitigen Erwartungshorizonte
und Interaktionsabläufe erforderlich machen. So kann es ganz plötzlich
von meiner ganz persönlichen Reaktionsbereitschaft (und nichts anderem)
abhängen, dass der neben mir ausrutschende Bergwanderkollege nicht zu
Tode stürzt oder der in Ohnmacht niedergesunkene Partner rechtzeitig
medizinische Hilfe kriegt. Und eine kooperative Fluchtbewegung in die
richtige Richtung kann erforderlich sein, um dem auf uns zurasenden Auto
zu entgehen.
Kollokale Sozialsysteme lassen sich niemals gegenüber derartigen
endogen oder exogen erzeugten Ereignissen immunisieren, die völlig
unvorhersehbar zu irgend einem Zeitpunkt und in irgendeiner Form auftreten
können und ganz plötzlich
- eine volle Mobilisierung der verfügbaren Ressourcen und
Handlungskapazitäten
- eine neue Übereinkunft über die gemeinsame Situation und die
wechselseitigen Erwartungen
erforderlich machen können.
Eine längere Teilnahme an kollokalen Interaktionssystemen wäre
völlig ausgeschlossen, wenn die Partner nicht fähig und bereit wären,
zugunsten einer generalisierten Bereitschaft zur Reaktion auf Unerwartetes
ihre Aufmerksamkeitsfelder und Handlungsressourcen teilweise in
"liquidem", leicht umorientierbaren Zustand zu belassen, anstatt
integral und irreversibel in die laufenden Vorgänge voraussehbarer,
geplanter Art zu "investieren".
Zu den unvermeidlichen "Fixkosten" kollokaler Interaktion
gehört es deshalb, dass
- ständig Ressourcen verbraucht werden müssen, um (z.B.
durch "Sorgfalt" oder "Rücksicht") endogene
Störereignisse zu verhindern und exogene Irritationen möglichst
rasch zu neutralisieren,
- ständig Ressourcen zur Disposition gehalten werden müssen, um auf
derartige Geschehnisse in adaptiver oder restitutiver Weise (und sei
es nur durch ein Wort der Entschuldigung) zu reagieren.
Kollokale Felder müssen deshalb vom individuellen Akteur als dauernde
Quellen unerwarteter Ereignisse mit unvorhersehbar- einmaligem Charakter
in Betracht gezogen werden, die eine sehr rasche Wahrnehmung, Beurteilung
und Antwortreaktion erfordern und auf Grund ihrer unbezwingbaren
Faktizität und Unabweisbarkeit die Kraft besitzen, alle übrigen
Handlungsintentionen und Verhaltensabläufe temporär zu suspendieren.
Daraus erklärt sich beispielsweise die komplizierte Rolle des
zufälligen Mitanwesenden ("bystander"), der sich als Zeuge
einer Notfallsituation (Unfall, Delikthandlung u.a.) aufgefordert fühlt,
in irgendeiner Weise zu intervenieren.
Die in derartigen Fällen erfolgenden Handlungen oder Unterlassungen
sind äusserst schwer vorauszusagen und pflegen auf einem breiten Spektrum
(zwischen kleinkariertem Egoismus und heldenhaftem Altruismus) zu streuen:
weil es sich um unerwartete und in ihrer Qualität singuläre
Einzelsituationen handelt, die eine sehr rasche Urteilsbildung und
Handlungsentscheidung erfordern und mit den übrigen (z.B. alokalen oder
translokalen) Handlungsreferenzen des Akteurs vermittelt werden müssen
(vgl. dazu: Latané/Darley 1970; Sheleff 1978).
Wenn EGO unsicher ist, ob er helfen soll, so erfährt ALTER
Unsicherheit darüber, wie EGO sich entscheiden wird, und EGO seinerseits
wieder Zweifel, inwiefern ALTER überhaupt mit seiner Hilfe rechnet, oder
seine nächsten Handlungsschritte ohne solche Erwartungen kalkuliert.
Indem die primäre Verhaltensunsicherheit sekundäre und tertiäre
Erwartungsunsicherheiten ins soziale System induziert, kann - vor allem
wenn für Verständigungen zu wenig Zeit verfügbar ist - die
Kontinuierung des sozialen Verhältnisses insgesamt in Frage stehen.
4) Schliesslich beruht die hohe Eigendeterminationskraft, aber auch die
charakteristische Labilität und Unkontrollierbarkeit kollokaler
Interaktionsprozesse auf der Tatsache, dass die einzelnen Verhaltens- und
Kommunikationsakte in dichter Rückkoppelung zueinander stehen.
EGO kann, ja muss zur Kenntnis nehmen, dass ALTER auf seine
Erzählungen mit ungläubiger Verwunderung, auf seine Weisungen mit
verhaltenem Murren oder auf seine körperliche Zudringlichkeit mit
sanftem, aber unerbittlichem Widerstreben reagiert: und komplizierteste,
unübersichtlichste Verschachtelungen von Erwartungserwartungen entstehen
dadurch, dass EGO und ALTER dieses Faktum wechselseitigen Reagierens
antizipieren und selbst diese Antizipation wiederum ex ante in ihr
Verhalten einbeziehen.
Abgesehen vom bereits früher diskutierten Blickwechsel erweist sich
vor allem der Händedruck als ein (nonverbales) intersubjektives
Geschehen, bei dem sich diese Rückkoppelung am vollständigsten
aktualisiert, weil
- der motorische Akt des Drückens
- die taktile Empfindung, die der Handelnde damit beim Partner erzeugt
- die taktile Empfindung, die der Handelnde dadurch gleichzeitig bei
sich selber evoziert
drei unauflöslich zusammengehörige Aspekte desselben Geschehens bilden,
und weil EGO überdies davon ausgehen kann, dass auch ALTER dieselbe
Synthesis von Handeln und Erleben aktualisiert und seinerseits erwartet,
dass EGO ihm dies unterstellt usw.
Generell sehen sich Interaktionspartner im Medium des körperlichen
Berührens am vollkommensten in geschlossene Schlaufen von Wahrnehmungs-
und Verhaltensakten verstrickt, die z.B. im Sexualverkehr zielstrebig
benutzt werden, um autokatalytische Prozesse emotionaler und
physiologischer Erregung zu induzieren.
Bei weniger dichter Annäherung bleiben vor allem visuell oder
akustisch vermittelte "looping Prozesse" erhalten: etwa von der
Art, wie sie nach Goffman das repressive Sozialklima in totalen
Institutionen mitkonstituieren.
Nach Goffman teilen Insassen von Gefängnissen und Irrenhäusern mit
Angehörigen von Internaten, Klöstern, Militärgarnisonen etc. das
Schicksal: sich 24 Stunden am Tag im selben kollokalen Interaktionskontext
aufhalten zu müssen, innerhalb dem all ihre Verhaltensäusserungen von
immer denselben anderen Personen beobachtet, bewertet und beantwortet
werden. Selbst harmloseste Äusserungen der Kritik oder des Unmuts (z.B.
über das Essen) können für den Insassen dann das Risiko enthalten, sich
im Verhältnis zum Aufsichtspersonal in ein Verhältnis eskalierender
Erregung und Aggressivität zu verwickeln und dem bereits etablierten
Cliché, dass er unangepasst, psychisch krank oder delinquent sei, neue
Nahrung zu geben (vgl. Goffman 1973: 43ff.).
Hier zeigt sich die allgemeinere Regularität, dass Spannungen und
Konflikte, die in kollokalen Interaktionsfeldern entstehen, innerhalb
dieser selben Felder kaum ausgetragen und einer Lösung entgegengeführt
werden können: weil mit jeder Artikulation eskalierende reaktive
Äusserungen evoziert werden, die das System noch weiter vom Gleichgewicht
entfernen.
Ein ähnlicher Mangel an "Selbstheilungskräften" kann auch
in innerbetrieblichen Arbeitsgruppen beobachtet werden, von denen
unabhängig von den oft beengten Raumverhältnissen gefordert wird,
dauerhaft ein Klima störungsfreier, effektiver Kooperativität
aufrechtzuerhalten. So zeigt sich in der Untersuchung von Euler, dass mit
abnehmender gemeinsamer Arbeitsfläche ein wachsendes Defizit an
Konfliktartikulation entsteht: weil das Ausmass an Arbeitunzufriedenheiten
zwar zunimmt, die Möglichkeit, sie offen auszutragen, gleichzeitig aber
sinkt:
"Die Modifikation (=Verringerung d.V.) der
Auseinandersetzungsbereitschaft kann u.U. dadurch erklärt werden, dass
bei hohen sozialen Kontaktchancen am Arbeitsplatz vom Einzelnen in
stärkerem Masse auf die zahlreichen, von den Kollegen erwarteten
Rollenleistungen Rücksicht genommen werden muss, so dass er infolge der
intensiven sozialen Kontrolle (z.B. ´Gruppendiktat´) mit grösserer
Vorsicht auf unzufrieden stimmende Arbeitssachverhalte reagiert als in
solchen Arbeitsfeldern, die sich durch eine geringere räumliche
Konzentration an Rollenbeziehungen auszeichnen." (Euler 1977:204).
Erschwerend kommt noch die aus der Attributionsforschung bekannte
Regularität hinzu: dass Interaktionspartner über das Geflecht ihrer
faktischen Interdependenzbeziehungen nicht nur einen unvollkommenen
Wissenstand, sondern systematisch verzerrte und dissensuale Auffassungen
besitzen.
Denn insofern jeder Partner seine eigenen Handlungen vorwiegend
situativ und diejenigen des Andern überwiegend dispositional zurechnet,
unterschätzt jeder das Ausmass, in dem er selbst die situativen
Handlungsdeterminanten des jeweils anderen mitkonstituiert, und vielleicht
den Grad, in dem sein eigenes Handeln durch die Anwesenheit und das
Verhalten des Anderen beeinflusst wird (vgl. z.B. Braver/Roher 1978;
Sillars 1981).
So lässt sich Reäquilibrierung häufig nur durch eine (zumindest
temporäre) Ausdünnung des Interdependenzfeldes realisieren, wie sie
erreicht wird
- durch die wohltuende Wirkung räumlicher Distanznahme, die
es erlaubt, seinem Unmut ohne Angst vor Sanktionen Ausdruck zu
verleihen oder weniger unmittelbare und vielleicht effektivere
Artikulationsweisen (z.B. Briefe an den Anstaltsdirektor anstatt
Anwürfe an das Küchenpersonal) zu wählen;
- durch den Einsatz von interdependenzunterbrechenden Mechanismen, die
den Aufenthalt im kollokalen Feld selbst erträglicher machen, weil
sie den Aktions-Reaktions-Verkettungen Grenzen setzen und den
Neubeginn "unbelasteter" Verhaltenssequenzen ermöglichen.
Genau dies ist eine Hauptfunktion jener regulativen
Strukturmechanismen (der Soziofugalität, Desensibilisierung,
Disziplinierung), die im folgenden diskutiert werden sollen.
Auch die vermittelnde (bzw. schlichtende oder richtende) Intervention
eines "unbeteiligten Dritten" muss als Spezialfall von
"Interdependenzunterbrechung" gedeutet werden. Denn seine
Hauptfunktion besteht darin, das dichte Interdependenzfeld zwischen EGO
und ALTER durch zwei weniger dichte, je separat von ihm zu einem der
Partner verlaufenden Interaktionssysteme zu ersetzen und diese beiden
Systeme nur in selektiver, kontrollierter Weise miteinander zu
verknüpfen.
Abschliessend bleibt die Frage, inwiefern dieselben dichten
Feedback-Schlaufen, die bei positiver, selbstamplifizierender
Rückkoppelung das System kumulativ aus dem Gleichgewicht tragen (bzw. auf
ein ganz anderes, "unwahrscheinlicheres" Organisationsniveau
heraufheben) nicht auch für die Einrichtung negativer,
reäquilibrierender Regelkreise nutzbar gemacht werden können.
Tatsächlich wären kollokale Sozialsysteme wohl nur sehr kurzlebig
(bzw. für ihre Teilnehmer unerträglich) wenn den hohen Risiken endogenen
Destabilisierung nicht sehr leicht zugängliche restitutive
Korrekturmechanismen gegenüberstehen würden: z.B. wenn man auf
beleidigende Wortausbrüche rituelle Formeln der Entschuldigung und der
Freundschaftsbekräftigung folgen lässt, oder wenn es der anwesenden
Ehefrau gelingt, einen sich anbahnenden Flirt ihres Mannes mit
missbilligenden Blicken im Keime zu ersticken.
Bei näherem Zusehen erweist sich allerdings, dass all diese
Mechanismen ihre reharmonisierende Funktion nur dann erfüllen, wenn sie
auch als Interdependenzunterbrecher wirksam sind, die das durch sie
herbeigeführte Ergebnis gegen weitere destabilisierende Auswirkungen
immunisieren.
So gehört es mit zur erfolgreichen "Entschuldigung", dass
sie eine unerfreuliche Interaktionssequenz endgültig und konsensual zum
Abschluss bringt und die Partner dafür freisetzt, "zur Tagesordnung
überzugehen": d.h. sich von diesem Aspekt ihrer
Interaktionsgeschichte abzukoppeln und unbelastet neue Handlungssequenzen
zu initiieren.
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