Ein theoretischer Integrationsversuch
(29 Dezember 1996)
VIERTES KAPITEL:
EIGENDETERMINIERTHEIT DER INTERAKTIONSPROZESSE ALS
SUBSTITUT FÜR SUBJEKTIVATIONEN UND OBJEKTIVATIONEN
4.4 Kollokale Interaktion im Spannungs- und
Substitutionsverhältnis zur Ebene personeller Internalisierungen
Laut Simmel sind auch jene "ganz auf die Intensität des Gemüts
gestellten" Beziehungen wenig an kollokale Interaktionen gebunden,
bei denen "die Gewalt der Phantasie und die Hingegebenheit des
Gefühls die Bedingungen von Raum und Zeit in einer oft genug mystisch
erscheinenden Weise überwindet." (Simmel 1908a: 480).
In einer weniger pathetischen, dafür analytisch stringenteren
Ausdrucksweise liesse sich formulieren, dass das psychische System der
Individuen als Trägermedium für "internale Repräsentationen"
dienen kann, die - auf analoge Weise wie die in objektivierten
Speichermedien enkodierten "externalen Repräsentationen" - die
Funktion haben können, als Substitut für sinnliche Personenwahrnehmung
und faktisch vollzogene Interaktionsabläufe zu dienen und soziale
Beziehungen von synchroner räumlicher Anwesenheit unabhängig zu machen.
Indem EGO beispielsweise sein Erinnerungsvermögen und seine
Einbildungskraft anstrengt, um einen nicht anwesenden ALTER mental zu
"vergegenwärtigen", gewinnt er die Möglichkeit
- auf translokale Weise mit ihm zu interagieren: indem EGO
dieses virtuelle Bild als Orientierungshilfe benutzt, um
beispielsweise einen "einfühlsamen Brief" an ALTER zu
schreiben oder ein "passendes Geschenk" für ihn zu
besorgen;
- eine alokale soziale Beziehung zu ihm zu stabilisieren: indem EGO
sich hinreichend vergegenwärtigt, welche Gefühle er gegenüber ALTER
hegt und in welcher Beziehungsform ("Bekanntschaft",
"Freundschaft", "Liebesverhältnis" u.a.) er sich
ihm gegenüber befindet.
Natürlich kann sich ein Individuum auf dem "kurzgeschlossenen"
Wege internaler Vorstellungen nicht nur auf Einzelpersonen, sondern auch
auf ganze Personenkategorien sowie soziale Kollektive (Gruppen,
Organisationen, Gemeinden, Nationen u.a.) beziehen und sich dadurch zu
Entitäten in ein referentielles Verhältnis setzen, zu denen es niemals
ein interaktionelles Verhältnis realisieren könnte.
Für die Qualität und Relevanz solcher
"Referenzgruppenbeziehungen" ist es bekanntlich völlig
unerheblich, ob sich EGO dabei auf eine ihn auch interaktionell
umhüllende "ingroup" oder eine weit entlegene, dem
persönlichen Erleben und Handeln entzogene "outgroup" bezieht,
und inwiefern das Bezugskollektiv nicht nur in der Imagination des
Subjekts, sondern auch de facto über die für eine "Gruppe"
notwendigen Merkmale (Kohäsion, Homogenität, äussere Abgrenzung u.a.)
verfügt (Zimbardo, 1980: 62).
Diese Abstützung auf intrapersonelle Strukturen und Prozesse hat zur
Folge, dass der Bestand des sozialen Systems völlig davon abhängig wird,
inwiefern seine individuellen Teilnehmer willig und fähig sind, sich
subjektiv mit ihm zu identifizieren, ihm ihre Ressourcen und
Handlungsbereitschaften zur Verfügung zu stellen und seine sozialen
Normen, Werte oder Zwecksetzungen in Form internalisierter persönlicher
Standards (Meinungen, Überzeugungen u.a.) aufrechtzuerhalten.
Alle Strukturelemente eines solchen Systems müssen ihre Stabilität
daraus gewinnen, dass die Individuen ihnen auf Grund ihrer Vorstellungs-,
Erinnerungs- oder Identifikationsfähigkeiten Dauerhaftigkeit verleihen
und genügend Motivation und Selbstdisziplin aufbieten, um ihre Geltung
über verschiedenste Situationsbedingungen hinweg (insbesondere auch:
innerhalb anderer, konkurrierender Rollenverhältnisse) zu verteidigen.
Demgegenüber gelingt es kollokalen Sozialsystemen - dank der
selbsttragenden Determinationskraft ihrer horizontalen Wechselwirkungen -
viel besser, gegenüber dem Persönlichkeitssystem ihrer Mitglieder eine
prinzipielle Autonomie aufrechtzuerhalten, ja genau umgekehrt: von der
sozialen Interaktionsebene aus auf die selbstreferentiellen Prozesse
innerhalb der Individuen Einfluss zu nehmen.
Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass Individuen innerhalb
kollokaler Sozialverhältnisse
- praktisch alle wesentlichen Prozesse ihrer Sozialisation
vollziehen
- zu vielfältigen Verhaltensweisen genötigt werden, die kausal eher
mit den Situationsbedingungen des sozialen Umfelds anstatt mit
internen Charaktereigenschaften oder psychischen Zuständen in
Zusammenhang stehen.
Unter relativ allgemeinen Gesichtspunkten können externale und internale
Repräsentationen als funktionale Äquivalente begriffen werden, weil sie
beide als Mediatoren fungieren, um bei Fehlen kollokaler Interaktion
dennoch soziale Handlungsorientierungen, interpersonelle Beziehungen sowie
kollektive Mitgliedschaftsverhältnisse zu konstituieren.
Auf konkreterer Ebene zeigt sich allerdings, dass internalisierte und
externalisierte Mediatoren funktional auf sehr verschiedenartige Weise
erfüllen und in vielen translokalen oder alokalen Sozialverhältnissen
deshalb eher in einem komplementären statt substitutiven Verhältnis
zueinander stehen:
1) Internale Mediatoren unterliegen strengen quantitativen
Beschränkungen, weil sie meistens das integrale psychische System eines
Individuums (d.h. seine bewusste Aufmerksamkeit, seine dominante
Stimmungslage usw.) absorbieren. So werden sich Gefühle verzehrender
Liebessehnsucht praktisch immer nur auf einen abwesenden Partner und
Regungen nostalgischen Heimwehs auf einen einzigen Herkunftskontext
beschränken. Und immer wird es schwer fallen, simultan verschiedenen
Personen loyal zu sein oder Gesten grosszügiger Dankbarkeit zu erweisen:
so dass z.B. eine Vermehrung von Bekanntschafts- oder
Dankbarkeitsbeziehungen immer damit einhergeht, dass die meisten
Beziehungen die meiste Zeit in Latenz verharren und immer nur im strengen
zeitlichen Nacheinander zum Thema innerer Reflexion (und erst recht: des
äusseren Handelns) werden.
Mit Hilfe externaler Repräsentationen kann man - da sie das
Persönlichkeitssystem ja entlasten - gleichzeitig an praktisch beliebig
vielen Sozialverhältnissen partizipieren: weil man ja bekanntlich nicht
zu wissen braucht, in welchen verschiedenartigen Unternehmungen man
Kapital investiert hat oder wer alles tätig werden muss, wenn man im
Reisebüro seine Badeferien bucht. Deshalb gewinnen externale
Repräsentationen an Gewicht, wenn Individuen im Zuge der
gesellschaftlichen Evolution in immer komplexere Sets partialisierter
Rollen eingebettet werden und an immer mannigfaltigeren und
weitreichenderen, auch im zeitlichen Nacheinander nicht mehr erlebbaren)
sozialen Systemverhältnissen partizipieren.
2) Internale Repräsentationen entstehen dadurch, dass das Individuum
ein äusseres Objekt oder Ereignis in den Termini eines ihm persönlich
geläufigen Repertoires von kognitiven und evaluativen Dimensionen
nachkonstruiert: eines Kategorienrasters, der in gleicher Weise auch auf
alle andern Umweltbezüge Anwendung findet. Dieser auf das Subjekt
(anstatt auf ein objektiviertes kulturelles Regelsystem) bezogene
Assimilationsvorgang garantiert, dass die Repräsentationen (bzw.
"Konstrukte") sowohl untereinander wie auch zum psychischen
System des Individuums in systematischen Zusammenhängen stehen, die im
hohen "implikativen Potential" jedes Einzelkonstrukts sichtbar
werden (vgl. Adams-Webber 1979: 197; Lemon/Warren 1974: 119ff.). Werden Individuen dagegen zur Verwendung interindividuell
standardisierter, nicht ihrem subjektiven Repertoire angehörigen
Kategorien gezwungen, können sie weniger Sinngehalt sehen und die
Konstrukte weniger gut miteinander relationieren (vgl. Delia/Gonyea/Crockett
1970). Dies bedeutet, dass die im Medium kollokalen Wahrnehmens und
Interagierens konstituierten Personentypifikationen eher einen
individuell-idiosynkratischen anstatt konventionell-kulturellen Charakter
haben, und dass es eher zufällig ist, inwiefern verschiedene Personen
dieselben Kriterien dafür verwenden (vgl. Kelly, 1955; Kelly, 1970:
Adams-Webber, 1979: 196f.). Auf Grund der meist impliziten,
inkommunikativen Verwendungsweise personaler Konstrukte bleiben derartige
Differenzen häufig unerkannt und werden noch seltener systematisch
eliminiert.
Nur ex post (etwa auf Grund der handlungsmässigen Konsequenzen) wird
erkennbar, dass verschiedene Personen in ihrer Abwesenheit offensichtlich
ein völlig verschiedenartiges Bild von mir aufrechterhalten haben, dass
Freund und Freundin bezüglich der Intensität und Verbindlichkeit, die
sie ihrer Liebesbeziehung zusprechen, beträchtlich voneinander
divergieren, oder dass verschiedene Sympathisanten über die Ziele
"ihrer" Partei oder Sozialbewegung divergierende, ja
gegensätzliche Auffassungen besitzen. Externale Mediatisierungen sind dagegen viel besser geeignet, um ex
ante hohe Erwartungssicherheit über die Art individueller Merkmale,
sozialer Beziehungen oder kollektiver Systemparameter zu erzeugen, über
weite soziale Felder hinweg für deren Homogenität zu sorgen und
allfällige Divergenzen sofort erkennbar zu machen.
3) Internale Repräsentationen pflegen auf relativ
"spontane", unkontrollierbare Weise zu entstehen: weil die
psychischen Prozesse, die in den Trägersubjekten zur Typifizierung von
Personen, zur Etikettierung sozialer Beziehungsverhältnisse oder zur
Interpretation kollektiver Identifikationen führen, vielerlei Faktoren
der Intuition oder Emotionalität unterliegen, und sich deshalb dem
Zugriff bewussten Planens und intentionalen Modifizierens weitgehend
entziehen (vgl. Zimbardo, 1980: 62). A fortiori erscheint es als völlig aussichtslos, diese Vorgänge einer
planmässigen kollektiven Kontrolle (z.B. organisatorischer Art) zu
unterziehen: abgesehen davon, dass auf kultureller Ebene vorgefertigte
Schemata (über Personentypen, vor allem aber über Typen sozialer
Beziehungen und kollektiver Mitgliedschaften) bereitgestellt werden, die
von den Individuen relativ bereitwillig aufgegriffen werden. Externale
Repräsentationen sind deshalb unerlässlich, um translokale und alokale
Sozialverhältnisse planmässig-rational zu konstituieren und - auch ohne
dass man aufwendige Umsozialisierungen veranstalten oder auf das physische
Ausscheiden der bisherigen Teilnehmer warten muss - im Zustand permanenter
Modifizierbarkeit zu erhalten.
II
Wann immer sich ein Subjekt kognitiv einem Gegenstand zuwendet, wird es
ihm niemals gelingen, allein auf der Basis aktualer sinnlicher
Wahrnehmungsdaten und Erlebnisinhalte zu einem Akt des
"Erkennens" oder gar "Erklärens" vorzudringen. Immer
wird auch ein gegenüber diesem Strom empirischer Perzeption relativ
verselbständigtes internales Wahrnehmungsbild des Gegenstandes aktiviert:
ein aus selber akkumulierten Erfahrungen oder logischen Denkoperationen
sowie sozial vermittelten Typifikationen konstituierten EIDOS, ohne dessen
Steuerungswirkung es unmöglich wäre,
- zufällig-variable Aktualwahrnehmungen als perspektivische Ansichten
und "Abschattungen" desselben invarianten Gegenstandes zu
apperzipieren;
- erfolgreich zu antizipieren, mit welchen zukünftigen
Wahrnehmungsinhalten gerechnet werden kann, bzw. welche alternativen
Erfahrungen von demselben Gegenstand (z.B. indem man Distanz oder
Blickwinkel variiert) möglich wären.
Sehr einfache Objekte wie z.B. Farbflächen oder Klänge sind dadurch
gekennzeichnet, dass sie in jedem Akt momentaner sinnlicher Wahrnehmung
mit praktisch allen Aspekten ihrer Erfahrbarkeit voll gegeben sind: so
dass das internale Virtualbild fast vollkommen mit dem empirischen
Aktualbild koinzidiert, weil sich die Erfahrungsdifferenzen, die durch
einen Wechsel der Subjektperspektive bedingt sind, nur in einem sehr engen
Variationsspielraum bewegen.
Sehr komplexe Objekte wie z.B. verhaltensfähige Tiere oder
handlungsfähige menschliche Personen - haben hingegen die Eigenart, dass
in jedem Augenblick, ja selbst innert längerer Zeitspannen ihrer
Beobachtung nur ein kleiner Bruchteil ihrer Merkmale wahrnehmbar wird, und
dass der Raum möglicher Erfahrungen (bedingt durch die Variationsbreite
ihrer Qualifikationen, Motivationen, Verhaltenskapazitäten, verbalen
Kompetenzen u.a.) sich ins Unermessliche erweitert.
Wann immer ich eine andere Person auch nur beobachte (ohne mit ihr zu
interagieren), werde ich deren momentane Verhaltensweisen nur
verständlich finden, wenn ich diese auf ein Syndrom attribuierter
Charaktermerkmale, Motivationen, Qualifikationen u.a. beziehe, die sich zu
einem mit Stabilität und Konsistenz ausgestatteten Gestaltbild von dieser
Person verdichten.
Andererseits können mir diese selben Beobachtungen als Grundlage
dienen, um dieses - immer simplifizierte - Gestaltbild in Richtung
besserer Adäquatheit zu modifizieren: ganz besonders dann, wenn die
Beobachtungen
- längere Zeiträume umfassen
- sich auf möglichst vielseitige Situationsbedingungen und
Verhaltenskundgaben erstrecken
- überwiegend Situationen umfassen, in denen der Beobachtete relativ
autonom handelt: so dass die Art seines Handelns seinen inneren
personalen Eigenschaften zugerechnet (d.h. "dispositional
attribuiert") werden kann (vgl. Jones/Harris 1967).
Wenn ich nun mit dieser Person in ein kollokales Interaktionsverhältnis
eintrete, ist im Vergleich zur reinen Beobachtungssituation mit zwei
Unterschieden völlig gegensätzlicher Art zu rechnen:
- Einerseits muss ich das von der Aktualerfahrung abgehobene internale
Gestaltbild vermehrt in Anspruch nehmen, weil ich stärker darauf
angewiesen bin, die Wirkungen meines Handelns auf ALTER sowie seine
Reaktionen darauf angemessen zu antizipieren und die Reichweite
möglicher Verständigungen, Kooperationsbeziehungen usw. adäquat zu
überblicken. Dies wird vor allem dann wichtig sein, wenn ich mich von
ALTER in irgendeiner Weise abhängig fühle.
- Andererseits habe ich erhöhte Chancen, mein internales
Repräsentationsbild von ALTER relativ gezielten, raschen und
weitgehenden Modifikationen zu unterziehen: z.B. indem ich ALTER über
die Motive oder Ziele seines Handelns befrage oder ihn durch mein
eigenes Verhalten dazu provoziere, sich auf eine bestimmte Weise
selbst darzustellen.
So haben sozialpsychologische Untersuchungen gezeigt:
- dass Personen, mit denen man kollokal interagiert hat, auf
komplexere Weise typifiziert werden als Individuen, die man nur aus
translokalen Beziehungen (z.B. Massenmedien) kennt (Duck 1973), und
dass die Vielfalt der verwendeten Kategorien mit der Häufigkeit
kollokaler Begegnungen steigt (Crockett, 1965);
- dass die personalen Typifikationen mit wachsender Zeitdauer und
Intensität der sozialen Beziehung komplexer werden. Insbesondere
steigt die Tendenz, als organisierende Prinzipien des
Repräsentationsbildes relativ abstrakte psychologische
Merkmalsattributionen (wie z.B. Fähigkeiten, Motivationen,
Werthaltungen usw.) zu verwenden, während zu Beginn konkretere,
wahrnehmungsnähere Eigenschaften im Vordergrund stehen (Duck, 1973;
Adams-Webber, 1979:203);
- dass die Zahl der für die Typifikation verwendeten Kriterien in dem
Masse zunimmt, als sich die Interaktionspartner in einer wenig
formalisierten, unstrukturierten sozialen Situation begegnen, wo sie
über besonders vielseitige Gelegenheiten verfügen, sich selbst
darzustellen und dispositional (statt situativ) attribuierbare
Verhaltensweisen zu emittieren (Duck, 1973; Adams-Webber, 1979:203).
Eine äusserst wichtige, in der bisherigen Literatur zu wenig beachtete
Implikation von Kelley's Attributionstheorie besteht darin, dass kollokale
Interaktion gerade kein Weg ist, um über die Persönlichkeit eines
jeweiligen ALTER zu immer präziseren, objektiveren Erkenntnissen zu
gelangen und den Prozess wechselseitigen Typifizierens zu einem Abschluss
zu bringen.
Schuld daran ist das Faktum, dass EGO von ALTER nur dann ein
vollständiges Bild hat, wenn er auch weiss, welche Konstrukte ALTER für
die Typifikation von EGO verwendet (vgl. Kelly, 1970: 22). EGO muss also
eine "Typifikation zweiter Ordnung" von ALTER verfertigen,
innerhalb der die "Typifikation erster Ordnung" (d.h. das Bild,
das ALTER von EGO hat) als Bestandteil fungiert. Je länger nun die
kollokale Interaktion andauert, desto grösser ist das Risiko, dass selbst
die "Typifikationen erster Ordnung" zu komplex sind, um vom
Partner adäquat perzipiert (bzw. modelliert) zu werden: ganz zu schweigen
vom Bedarf, die Typifikationen zweiten Grades wiederum in solche
"dritten Grades" zu integrieren, die sich der empirischen
Verifizierbarkeit noch drastischer entziehen...usw.
Wenn das kollokale Interaktionsverhältnis - wie z.B. in konnubialen
Familien- und Lebensgemeinschaften - sehr lange andauert, verschiedenste
Situations- und Rollenaspekte umfasst und dank geringer Normierung immer
wieder neu und anders spezifiziert werden kann, wird sich die Bedeutung
virtueller Personenbilder besonders stark verringern, denn
- personale Typifikationen sind nicht mehr unbedingt erforderlich,
weil man jederzeit in der Lage ist, sich ad hoc die nötigen
Informationen über die Interaktionspartner zu beschaffen und dabei
nicht nur invarianten Charaktermerkmalen und Qualifikationen, sondern
auch temporären Eigenheiten (Stimmungen, Indispositionen usw.)
Rechnung zu tragen;
- personale Typifikationen sind weniger gut möglich, weil alle
modellhaften Gestaltbilder Gefahr laufen, mit dem empirisch
Wahrgenommenen in Dissonanz zu treten. Angemessener ist es dann, die
Personenbilder im diffus-labilen Zustand zu belassen und durch den
unablässigen Strom empirischer Erfahrungen reversibel spezifizieren
zu lassen.
Angesichts der Vielfalt konkurrierender physiologischer Bedürfnisse,
psychisch-emotionaler Bindungen oder sozialer Verpflichtungen kann selbst
in engsten Lebensgemeinschaften, totalsten Institutionen und exklusivsten
Liebebeziehungen niemals ein Zustand ununterbrochener Kollokalität
verwirklicht werden; und a fortiori zeichnen sich alle andern
Sozialverhältnisse dadurch aus, dass sie - obwohl sie im Medium
kollokaler Interaktion praktisch immer ihren genetischen Ursprung haben -
sich im Laufe ihrer Entwicklung vom räumlichen Beisammensein der Partner
unabhängiger machen und in einer charakteristischen Komplementarität
zwischen kollokalen und alokalen Phasen ihren Gleichgewichtszustand
finden.
Die doppelte Funktion der kollokalen Phasen besteht darin, einerseits
bereits bestehende Typifikationen als Prämissen des Kommunizierens und
Handelns, Verstehens und Reagierens operativ zur Anwendung zu bringen und
andererseits weitere empirische Erfahrungen für die Elaborierung und
Modifizierung derartiger Typifikationen zu gewinnen.
Die vergleichsweise einfachere Funktion der alokalen Phasen erschöpft
sich darin, ein internales Repräsentationsbild der abwesenden Person zu
synthetisieren und innerpsychisch aktiviert zu halten, indem man z.B. die
Erfahrungen vergangener Kollokalinterkationen in der Erinnerung speichert
und sowohl in sachlicher wie in zeitlicher Hinsicht generalisiert:
"Seit Du aus dem reinen Wir meiner Umwelt heraustratest, hast Du
neue Erlebnisse in neuen attentionalen Modifikationen erfahren, bist mit
jedem Zuwachs Deiner Erfahrungen, mit jedem neuen synthetischen Vollzug,
mit jeder Wandlung Deiner Interessenlage ein Anderer geworden. Aber in der Praxis des täglichen Lebens lasse ich das alles ausser
Betracht. Dein mir vertrautes Bild bleibt mir vertraut. Ich setze die von
der umweltlichen Situation von Dir, dem Mitmenschen gewonnen Erfahrungen
in ihrer Totalität als unverändert ein, solange nicht eine besondere
neue Erfahrung von Dir, dem Nebenmenschen, diesem Erfahrungszusammenhang
widerstreitet." (Schütz, 1974: 248). In der simplizistischen Sichtweise von Schütz fehlen nun allerdings
zwei Elemente, ohne die das komplexe funktionale Verhältnis zwischen
kollokalen und alokalen Beziehungsphasen nicht adäquat begriffen werden
kann:
1) Das innere Repräsentationsbild vom abwesenden Partner erfüllt nicht
nur die Funktion, als virtuelles Substitut für seine leibhaftige
Realpräsenz zu dienen und das partikuläre Sozialverhältnis dadurch
über Zeitphasen räumlicher Distanz hinweg überlebensfähig zu erhalten.
Vielmehr schmiedet sich EGO dadurch gleichzeitig auch ein Instrument
kognitiver Orientierung, das ihm in den nachfolgenden kollokalen
Begegnungen dazu verhilft
- seine eigenen Handlungen und Äusserungen ALTER gegenüber zu
spezifizieren
- die Verhaltensweisen und Reaktionen ALTERS in einen bestimmten
Erwartungs- und Interpretationshorizont einzuordnen.
Bei infiniter kollokaler Interaktion würden soziale Beziehungen
vielleicht an ihrer selbsterzeugten Fluidität und "Anomie"
zugrunde gehen, weil den Partnern im allgegenwärtigen dichten
Rückkoppelungsprozess kein Freiraum gelassen wird, um Strukturkerne in
der Form stabilisierter Personentypifikationen auszubilden und zu
verfestigen. Derartige Strukturelemente müssen vielmehr von aussen in die
Kollokalsituation hineingetragen werden: sei es, dass man internale
Repräsentationen, die in vergangenen Alokalphasen derselben Beziehung
verfestigt worden sind, oder externale Repräsentationen, die von
umfassenderen Institutionen bereitgestellt werden (z.B. objektivierte
Rollen- oder Statusidentifikationen), ins aktuelle Interaktionsverhältnis
"importiert".
Ausgedehntere Alokalphasen können die Funktion haben, die
Verhältnisse zwischen Personen stabiler, berechenbarer, standardisierter
zugestalten, weil die internalen Virtualbilder Zeit hatten, um sich
unbehelligt von "empirischen Falsifikationsrisiken" in ihrer
immanenten Logik zu verfestigen, und weil die in der knappen Kollokalzeit
akkumulierbaren Wahrnehmungen zu wenig Gewicht haben, um sie ernsthaft ins
Wanken zu bringen.
2) Zumindest seit Marcel Proust kann man wissen, wie sehr sich nicht nur
Fähigkeiten zur reproduktiven Erinnerung, sondern auch Kräfte der
produktiven Einbildungskraft an der Konstitution internaler
Repräsentationsbilder mitbeteiligt sind: so dass sich das Virtualbild
nicht allein durch zufällige Defizienzen des Wahrnehmungs- und
Erinnerungsvermögens, sondern durch systematische Verzerrungen (die sich
der intentionalen Kontrolle des Subjekts weitgehend entziehen) vom
Aktualbild unterscheidet:
"Das furchtbare Täuschungsmanöver der Liebe besteht ja darin,
dass sie uns nicht mit einer Frau der äusseren Welt in Gedanken spielen
lässt, sondern mit einer aus unserem eigenen Hirn entsprungenen
Marionette, dem einzigen Bilde, das wir besitzen und das die Willkür
unserer Erinnerung, fast ebenso unumschränkt wie die der reinen
Imagination, ebenso verschieden von der wirklichen Frau gestaltet haben
kann, wie es das wirkliche Balbec von dem erträumten war, einer
künstlichen Schöpfung also, der wir uns ganz allmählich zu unserer Qual
die wirkliche Frau gewaltsam anzugleichen versuchen." (Proust, 1979:
1741).
Generell vermögen sich Individuen meist keine Rechenschaft über die
Verfahrensweisen und Konstruktionsregeln zu geben, die sie selber
anwenden, um das Rohmaterial sinnlicher Erfahrungen und interaktiver
Erlebnisse zu einem kohärenten Gestaltbild einer Person zu verdichten.
Bei der Rekonstruktion dieser (bereits in den ersten Sekunden der
Begegnung in vollem Gang befindlichen) Prozesse stellt man fest, dass sich
in ihnen kognitiv-objektivierende und erlebnishaft-emotionale Komponenten
unentwirrbar miteinander vermischen (vgl. Simmel 1908b: 483f; Zimbardo,
1980: 116), und dass sie durch einige erstaunlich primitive, leicht
widerlegbare "Leithypothesen" gesteuert werden: etwa durch die
Vermutung, dass sich körperliche Attraktivität regelmässig mit
Intelligenz, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Eheglück oder erfüllter
Lebenserfahrung verbinde (vgl. z.B. Dion/Berscheid/Walster 1972; Clifford/Walster,
1973).
So sind in praktisch allen kollokalen Personenbeziehungen gewisse
Risiken spannungsvoller kognitiver Dissonanz enthalten, die aus der
wechselseitigen "Überdeterminierung" zwischen Virtualbild und
Aktualwahrnehmung entstehen. Denn wenn Virtualbilder einerseits
unentbehrlich sind, um dem interaktiven Ablauf strukturierte Erwartungs-
und Interpretationshorizonte zu unterlegen, so besteht andererseits ja
eben die Gefahr, dass sie sich als inadäquat erweisen, weil spontane
imaginative Verfälschungen in sie eingegangen sind.
Paradoxerweise werden dann gerade sehr intensive, emotional
stabilisierte Sozialbeziehungen wie z.B. Liebesverhältnisse mit besonders
viel "kollokaler Dissonanz" aufgeladen, weil während der
Abwesenheitsphasen ein besonders hoher Aufwand an (spontaner,
subjektbestimmter) Einbildungskraft betrieben wird, um das Virtualbild des
(der) abwesenden Geliebten mit lebensechter Konkretion auszustatten.
"Aber wenn ich auf den Champs-Elysées ankam - wo ich zunächst
einmal meine Liebe, um die zur Vollendung erforderlichen Korrekturen daran
anzubringen - mit ihrem lebendigen, ausser mir existierenden Objekt
konfrontieren wollte - und mich in Gegenwart jener Gilberte Swann befand,
auf deren Anblick ich gerechnet hatte, um die Bilder aufzufrischen, die
mein ermüdetes Erinnerungsvermögen nicht mehr selbst in sich fand, jener
Gilberte Swann, mit der ich gestern gespielt hatte und die mich ein so
blinder Instinkt begrüssen und wiedererkennen hiess wie der, der beim
Gehen unseren Fuss vor den andern schiebt, noch ehe wir überhaupt
darüber nachdenken können, vollzog sich auf einmal alles so, als wären
sie und das Mädchen, das der Gegenstand meiner Träume war, zwei
verschiedene Wesen.
Wenn ich zum Beispiel noch vom Vortage her zwei blitzende Augen über
vollen schimmernden Wangen in der Erinnerung hatte, so zeigte mir
Gilbertes Gesicht jetzt beharrlich etwas, woran ich ausdrücklich nicht
mehr gedacht: eine gewisse Zuspitzung der Nase, die in Verbindung mit
anderen Zügen die Bedeutung einer charakteristischen Eigentümlichkeit
bekam, durch die die Naturgeschichte eine bestimmte Art von der andern
unterscheidet und durch die sie ein Mädchen von der spitznäsigen Gattung
wurde." (Proust 1979:530/531.)
III
In allen sozialen Interaktionsprozessen benötigen die Partner gewisse
internale Vorstellungen darüber, in welchem Rahmen von situativen
Bedingungen, Spielregeln und Zielsetzungen sich ihr gemeinsames Handeln
vollzieht, und welche Form, Qualität und Intensität die wechselseitige
Beziehung aufweist, in der sie sich befinden.
Ebenso wie bei personalen Virtualbildern handelt es sich auch hier um
simplifizierte Typifikationen, die in den elementaren Prozessen kollokaler
Wahrnehmung, Kommunikation und Interaktion ihre Wurzel haben, sich aber
aus diesem genetischen Kontext herauslösen und verselbständigen können,
um das Sozialverhältnis über translokale und alokale Phasen
hinwegzutragen und die grundlegenden Interpretationshorizonte und
Erwartungsstrukturen zu präformieren, innerhalb denen sich nachfolgende
kollokale Interaktion aktualisiert.
Zwischen der Synthese von Personenbildern und Beziehungsbildern
bestehen aber zwei grundsätzliche Unterschiede:
1) Personentypifikationen können sich immer im objektiven physischen
Erscheinungsbild eines menschlichen Individuums verankern und erhalten
dadurch eine unabweisbare, durch unnegierbare Tatsachen wie
Körpererscheinung, Gesichtsmimik, motorische Verhaltensabläufe u.a.
gesicherte Positivität. Beziehungstypifikationen hingegen haben ihr Substrat nicht in naturhaft
"gegebenen" Gegenständen und Ereignissen, sondern in Handlungen
und Kommunikationen, die bereits Gegenstand sinnhafter Deutung waren und
nun nochmals zu einer Sinnkonstruktion "zweiter Ordnung"
integriert werden: z.B. indem man "zärtlich-gemeinte Gesten"
als Indikatoren für das Bestehen einer Liebesbeziehung oder "gut
gemeinte Geschenke" als hinreichenden Anlass für eine
Dankbarkeitsbeziehung interpretiert.
2) Personentypifikationen verleihen zwar der Handlungsorientierung
jedes einzelnen Akteurs, nicht aber dem Sozialsystem als Ganzes eine
einheitliche Struktur. Denn erfolgreiche Interaktionen können in weitem
Umfang auch dann stattfinden, wenn sich jeder Akteur von jedem andern
Akteur seine je eigenen Virtualbilder verfertigt, und wenn die
Diskrepanzen zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung einerseits
und zwischen verschiedenen Fremdwahrnehmungen andererseits nicht
Gegenstand der Reflexion und gemeinsamen Thematisierung bilden. Beziehungstypifikationen hingegen müssen konsensual von den
Beteiligten getragen werden: weil sehr rasch Missverständnisse und
Konflikte offenbar werden, wenn beispielsweise nur einer der zwei Partner
aus den vorangegangenen Interaktionen den Schluss zieht, sich jetzt in
einem "veritablen Liebesverhältnis" oder einer
"vertrauensvollen Freundschaftsbeziehung" zu befinden.
Diese beiden Eigenheiten machen es gut verständlich, dass
"Beziehungsbilder" im Vergleich zur "Personenbildern"
viel weniger dem Einfluss partikulärer (d.h. mit genau diesem konkreten
interpersonellen Verhältnisverknüpfter) Merkmale unterliegen, viel
stärker hingegen der stereotypisierenden Wirkung kulturell vorgegebener
Deutungsschemata, durch die sich die reiche Mannigfaltigkeit
zwischenmenschlicher Attraktionen und Repulsionen, physischer, emotionaler
und intellektueller Wechselwirkungen in eine säuberliche
Schubladenordnung von "Liebschaften",
"Partnerschaften", Freundschaften",
"Kollegialitätsbeziehungen",
"Vertrauensverhältnissen", "Geschäftsbeziehungen",
etc. simplifiziert.
Es ist fast ausgeschlossen, irgend ein aufkeimendes
Interaktionsverhältnis im Zustand qualitativer Besonderheit und
partikularistischer Singularität festzuhalten, ohne es zu irgendeinem
Zeitpunkt (zumeist dann, wenn man es reflektiert und verbal
konzeptualisiert) unter irgendeine dieser fest etablierten Kategorien zu
subsummieren.
Diese Kategorisierung erzeugt einerseits Erwartungssicherheit, weil die
Partner sich untereinander leicht über gemeinsame Interpretationen,
Normen, Ziele, Grenzen des Erlaubten u.a. verständigen können und auch
aussenstehende Dritte für ihr Verhalten stabile Ansatzpunkte gewinnen.
Andererseits hat sie die Konsequenz, das soziale Verhältnis gegenüber
den unvermeidlichen Schwankungen in Frequenz, Intensität und Inhalt
faktischer Interaktionen weitgehend zu immunisieren und ihm solange, wie
die Partner sich über die begriffliche Benennung ihrer Beziehung einig
sind, einen stabilen Gleichgewichtszustand zu verleihen.
Als fundamentalster Beziehungstyp mit besonders anspruchslosen
Entstehungs- und Überlebensbedingungen kann das mit dem Begriff der
"Bekanntschaft" umschriebene Sozialverhältnis bezeichnet
werden.
Wann immer menschliche Individuen im Zuge einer kollokalen Begegnung
- einander ihre personale und soziale Identität
(insbesondere: ihren Namen) zu erkennen gegeben haben,
- mittels wechselseitiger Wahrnehmung und Kommunikation hinreichend
deutliche Informationen übereinander gewonnen haben, um in späteren
Begegnungen in der Lage zu sein, einander wiederzuerkennen,
- wechselseitig wissen (bzw. unterstellen), dass der jeweils andere
über solche hinreichende Informationen verfügt,
ist eine zeitlich unlimitierte und durch keine bekannten Verfahrensweisen
rückgängig zu machende Relation zwischen ihnen geschaffen, die während
der alokalen Phasen beliebig latent bleiben kann, in den kollokalen
Abschnitten sich aber in überaus berechenbarer Weise reaktiviert.
Diese Zähigkeit beruht laut Goffman auf der Wirksamkeit zweier
äusserst strikter Normen, deren Einhaltung vor allem dadurch gesichert
ist, dass es für Abweichungen kaum legitime Erklärungen oder
Entschuldigungen gibt:
Erstens gilt das Gebot, einen Bekannten bei Wiederbegegnung faktisch
wiederzuerkennen. Selbst wenn die primäre Begegnung äusserst lange
zurückliegt und/oder die äussere Erscheinung der Person sich seither
äusserst stark gewandelt hat, entstehen Gefühle der Verlegenheit und
Beschämung, wenn man zugeben muss, "sich nicht mehr zu
entsinnen".
Zweitens herrscht das Verbot, jemanden, den man faktisch wiedererkannt
hat, zu "schneiden". Denn die Normen elementarer Höflichkeit
verlangen, auf die Kundgabe des Wiedererkennens (die häufig an
spontan-unkontrollierten Kundgaben der Mimik, Gestik u.a. sichtbar wird)
Rituale intentionaler Begrüssung folgen zu lassen, um den Weiterbestand
der kognitiven Beziehung wechselseitig zu bestätigen (vgl. Goffman, 1971:
111ff.).
Auf der Basis von "Bekanntschaft" ist es möglich, äusserst
zahlreiche, selbst völlig zufällige entstandene und
"uninteressante" interpersonelle Verhältnisse von
Kollokalitätsbedingungen unabhängig zu machen und sie "auf Halde zu
legen", von wo aus sie zu irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt wieder
revitalisiert werden können. Der Reaktualisierungszwang bewirkt auch,
dass einmal "bekannte" Personen nach Massgabe ihrer räumlichen
Begegnungschancen immer wieder in ein Verhältnis minimaler
interaktioneller Rückkoppelung geraten, das immer auch eine Gelegenheit
darstellt, die Beziehung auf ein höheres, den psychischen Apparat der
Beteiligten stärker involvierendes Niveau zu heben.
Georg Simmels genialem "Exkurs über Treue und Dankbarkeit"
verdanken wir die Einsicht, dass soziale Interaktionsprozesse in den
beteiligten Individuen mit fast naturhafter Gesetzmässigkeit gewisse
subjektive Gefühlsdispositionen hinterlassen, die dank ihrer
erstaunlichen, normativ mitgesicherten Stabilität dazu geeignet sind, der
sozialen Beziehung zeitliche Dauer zu verleihen und ihre Kontinuität von
raum-zeitlicher Ko-Präsenz unabhängiger zu machen:
1) Das Phänomen der "Treue" ergibt sich aus der Tendenz,
konkretes sinnlich-emotionales Interaktionserleben induktiv zu einem
"sozialen Verhältnis" zu generalisieren: ähnlich wie man in
der Wissenschaft aus einer begrenzten Menge empirischer Beobachtungen auf
allgemeine Gesetzmässigkeiten schliesst:
"Man könnte so die Treue als einen Induktionsschluss des Gefühls
bezeichnen. Eine Beziehung hat in dem und dem Moment bestanden. Daraus
zieht man den weiteren Schluss: also besteht sie auch in einem späteren
Moment; und wie man in dem intellektuellen Induktionsschluss den späteren
Fall sozusagen nicht mehr als Tatsache festzustellen braucht, weil
Induktion eben bedeutet, dass einem dies erspart bleibt, so findet in sehr
vielen Fällen jener spätere Moment die Realität des Gefühls, des
Interesses, gar nicht mehr vor, sondern er ersetzt diese durch jenen
induktiv entstandenen Zustand, den man Treue nennt." (Simmel 1908e:
440).
Solange das kollokale Beisammensein andauert, können sich die Partner
risikolos den Schwankungen ihrer inneren Gefühle überlassen und vom
Charakter ihrer "Beziehung" ein undeutliches, andauernd
revidierbares inneres Bild aufrechterhalten: denn die Stabilität des
sozialen Verhältnisses wird hinlänglich durch die andauernd
stattfindenden interpersonellen Wahrnehmungen, Wechselwirkungen und
Kommunikationsakte garantiert.
Sind die Partner räumlich getrennt, so müssen zur Stabilisierung
ihrer sozialen Beziehung vermehrt innerpsychische Kräfte in Anspruch
genommen werden, um das Defizit an "interaktiver
Selbstreproduktion" zu substituieren. Angesichts der notorischen
Fluidität subjektiver Erlebnisprozesse, Emotionen und Stimmungslagen ist
es aber unmöglich, diese Stabilität auf die Basis "spontaner
Gefühle" (wie z.B. "Sehnsucht", "Liebe" usw.)
abzustützen. Vielmehr ist es notwendig, dass die Individuen sich die Art
ihrer "Beziehung" in Form eines relativ starr typisierten
Gestaltbildes internal vergegenwärtigen, und sich unabhängig von
temporären psychischen Zuständen mittels "Selbstverpflichtung"
daran binden.
"Die Treue ist jene Verfassung der bewegten, in kontinuierlichem
Flusse sich auslebenden Seele, mit der sie die Stabilität der
überindividuellen Verhältnisform nun dennoch sich innerlich zu eigen
macht, mit der sie einen Inhalt, dessen Form der Rhythmis oder Unrhythmik
des wirklichen gelebten Lebens widersprechen muss - obgleich sie selbst
ihn geschaffen hat - in dieses Leben als seinen Sinn und Wert
aufnimmt." (Simmel 1908e: 441).
So unterscheiden sich kollokale und alokale Sozialverhältnisse
diametral darin, welche funktionalen Aspekte des individuellen
Persönlichkeitssystems sie auf eine Belastungsprobe stellen.
In den kollokalen Beziehungen sehen sich die Individuen aufgefordert,
vor allem ihre adaptiven Kapazitäten maximal auszuschöpfen: ihre
Fähigkeit, sich gegenüber einem unabsehbar weitgespannten Spektrum
möglicher Wahrnehmungen und Kommunikationen offen zu halten, und auf
unvorhersehbar variierende Verhaltensweisen ihrer Partner unverzüglich
adäquat zu reagieren. In ihren alokalen Beziehungen dagegen müssen
personale Systeme vor allem ihre integrativen Kapazitäten mobilisieren:
ihre Fähigkeit, ungeachtet variabler Stiuationsbedingungen physischer
Bedürfnisse oder psychischer Stimmungslagen an ganz bestimmten Wert- und
Zielprioritäten festzuhalten und die aus vergangener Interaktion
entstandenen Bindungen gegen aktuale Erosionstendenzen (Ablenkungen,
Verführungen, Vergesslichkeiten usw.) zu verteidigen.
2) Auch die "Dankbarkeit" kann als eine mit dem Charakter der
"Selbstverpflichtung" ausgestattete subjektive Disposition
angesehen werden, die die Funktion hat, konkret vollzogene Interaktionen
zu einer zeitlich unlimitierten und im Zustand beliebiger räumlicher
Trennung überlebensfähigen sozialen Beziehung zu generalisieren.
Anders als Treueverhältnisse können Dankbarkeitsbeziehungen bereits
auf der Basis singulärer Interaktionshandlungen entstehen: insofern diese
nämlich nicht durch eine Operation induktiver Generalisierung, sondern
durch ein Verfahren komplementärer Relationierung in einen umfassenderen
sozialen Beziehungshorizont eingebettet werden.
Wo immer eine soziale Handlung beim Adressaten die Disposition zu einer
reziproken Reaktionshandlung auslöst, ohne dass diese momentan adäquat
vollzogen werden kann, bleibt in ihm ein "subjektives Residuum des
Aktes des Empfangens oder auch des Hingebens" (Simmel 1908e: 443)
erhalten, das im negativen Falle als "Rachegefühl" und im
positiven Falle als "Dankbarkeitsgefühl" ohne zeitliche
Begrenzung überlebt, zwischen den Partnern eine alokale Verbindung
stiftet und die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Kollokalinteraktionen
erhöht.
Auch hier wird die ausserordentliche "Viskosität",
Diffusität und Irreversibilität der auf internale Repräsentationen
abgestützten Alokalverhältnisse sichtbar, durch die sie sich von
external abgestützten überräumlichen Beziehungen diametral
unterscheiden.
Denn während z.B. ökonomische Transaktionen oder auch rechtliche
Schadenersatzleistungen zu einem objektivierbaren und konsensual
anerkannten "Tauschgleichgewicht" führen, das die Partner aus
zukünftigen Verpflichtungen befreit, so sind Dankbarkeitsbeziehungen
praktisch nicht mehr zu beenden, weil
- der primäre Akt (der Hilfeleistung, des Schenkens usw.)
auf Grund seiner spontanen Freiwilligkeit eine derartige Dignität
besitzt, dass keine Gegenleistung ausreicht, um ihn zu äquilibrieren
(Simmel 1908e:446);
- aus der Sequenz von Leistungen und Gegenleistungen leicht
Verhältnisse generalisierter Reziprozität entstehen können, die
sich kumulativ verfestigen und auf immer weitere Sach- und
Themenbereiche übergreifen können.
Auch Dankbarkeitsbeziehungen wären viel zu labil, wenn sie allein auf das
spontane "Dankbarkeitsgefühl" (das unmittelbar nach Empfang der
Leistung am stärksten sein mag) gegründet wären. Vielmehr müssen sie
genauso wie Treuedispositionen mit dem Merkmal kontrafaktischer
Selbstverpflichtung ausgestattet werden, um über alle Schwankungen
subjektiver Bedürfnislagen und situativer Umstände hinweg die
erforderliche gleichmässige Geltung zu bewahren.
"Haben wir erst einmal eine Leistung, ein Opfer, eine Wohltat
angenommen, so kann daraus jene nie völlig auslöschbare innere Beziehung
entstehen, weil die Dankbarkeit vielleicht der einzige Gefühlszustand
ist, der unter allen Umständen sittlich gefordert und geleistet werden
kann. Wenn unsere innere Wirklichkeit, von sich aus oder als Antwort auf
eine äussere, es uns unmöglich gemacht hat, weiterzulieben,
weiterzuverehren, weiterzuschätzen - ästhetisch, ethisch, intellektuell
- ; dankbar können wir immer noch dem sein, der einmal unseren Dank
verdient hat. Dieser Forderung ist die Seele unbedingt bildsam oder
könnte es sein, so dass vielleicht keiner andern Verfehlung des Gefühls
gegenüber ein Urteil ohne mildernde Umstände so angebracht ist, wie der
Undankbarkeit gegenüber." (Simmel 1908e: 447)
An den Illustrationsbeispielen von "Treue" und
"Dankbarkeit" lässt sich auch gut eine weitere
Funktionsleistung standardisierter Beziehungstypifikationen illustrieren:
ihre Fähigkeit nämlich, soziale Verhältnisse nicht nur von Raum und
Zeit unabhängiger zu machen, sondern auch aus den Bindungen an
partikuläre Inhalte und Situationsbedingungen der Interaktion
herauszulösen und auf ein höheres Niveau der sachlichen Generalisierung
zu verschieben.
Das Anstrengende an kollokalen Interaktionen besteht darin, dass sich
die Partner in einer Situation andauernden Selektionszwangs befinden, weil
sie nicht anders können, als andauernd intendierte Stimuli und
unabsichtliche Ausdruckskundgaben auszusenden und auf die Stimuli anderer
in spezifischer Weise zu reagieren.
Nicht genug damit, dass allein schon physische Ermüdungserscheinungen
oder alternative soziale Verpflichtungen die Partner daran hindern, ihre
kollokalen Interaktionssequenzen ad infinitum weiterzuführen, gibt es
zudem auch Beschränkungen, die endogen aus dem interaktiven Ablauf selber
entstehen.
Denn bei unablässiger Kontinuierung würde sich die Gefahr ständig
erhöhen, dass soziale Beziehungen unter der Last ihrer eigenen, allzu
forciert vorangetriebenen "Interaktionsgeschichte"
zusammenbrechen: indem z.B. Diskussionsprozesse, Austauschprozesse von
Zärtlichkeiten oder Gefälligkeiten wie auch Rückkoppelungsprozesse
konfliktiver Art sehr rasch in eine ganz spezifische Richtung evoluieren
und je nachdem dazu führen, dass sich bestimmte Systemverhältnisse
irreversibel verfestigen oder dass die Beziehung auf irreparable Weise
zerbricht.
So besteht die äusserst wichtige Funktion alokaler Intermediärphasen
darin, das soziale System aus solchen Zwängen der Dauerspezifikation und
Risiken irreversibler Ossifizierung zu befreien und auf eine
undifferenziertere "Basisplattform" zurückzuführen, von wo aus
es zu beliebigen Zeitpunkten in beliebiger Weise wieder neu beginnen und
in neuartige - durch die Vergangenheit nicht unbedingt präjudizierte -
Entwicklungsphasen eintreten kann.
So haben die internalen Dispositionen der "Treue" und der
"Dankbarkeit" miteinander gemeinsam, dass sie eine soziale
Beziehung nicht nur über längere Latenzphasen hinweg im Zustand der
Reaktualisierbarkeit erhalten, sondern zudem auch: dass sie sie auf eine
generalisiertere Integrationsbasis stellen und deshalb Chancen der
Respezifikation eröffnen, die bei unablässigem kollokalem Zusammensein
alsbald eliminiert würden:
- Die zeitliche Generalisierung der Beziehung bedeutet, dass für die
Reaktivierung der kollokalen Interaktionen beliebig viele
gleichwertige Zeitpunkte offenstehen. Unabhängig davon, wann sich der
Beschenkte dankbar erweist, wird sein Gegengeschenk gleichermassen als
Ausdruck eben dieser Dankbarkeit gewertet.
- Die sachliche Generalisierungswirkung besteht darin, dass beliebige
Inhalte zukünftigen Handelns funktional äquivalente Möglichkeiten
darstellen, die Beziehung "angemessen" fortzusetzen: denn
nie kann man vorher wissen, in welchen Belastungssituationen sich
Treue zukünftig bewähren muss, und mit dem Gefühl von
"Dankbarkeit" ist die Freiheit verbunden, sich auf
irgendeine Weise - die mit dem ursprünglichen Akt der Hilfeleistung
oder des Beschenktwerdens gar nichts zu tun haben muss - erkenntlich
zu zeigen.
- Die soziale Generalisierung bedeutet, dass Treue- und
Dankbarkeitsbeziehungen in beliebigen, unvorhersehbar variierenden
sozialen Beziehungskonstellationen stabil aufrechterhalten bleiben
müssen: denn keine alternativen sozialen Verpflichtungen oder
persönlichen Beziehungen geben mir das Recht, die Treue
aufzukündigen oder die Dankbarkeit zu verweigern. Es bleibt also
unbestimmt, in welcher "Umwelt" anderer sozialer
Interaktionen und Beziehungen sich Treue- und Dankbarkeitsbeziehungen
zu bewähren haben und auf welche Weise die Akteuren sie mit ihren
übrigen sozialen Engagements kompatibilisieren.
An der Funktionsweise von Beziehungstypifikationen kann man (genau
analog zum Fall der Personentypifikationen (vgl. II) gut darlegen, dass
- die "systolischen" Phasen kollokalen Beisammenseins
- die "diastolischen" Phasen alokalen Getrenntseins
komplementär, teilweise aber auch konfliktiv zusammenwirken, um eine
"soziale Beziehung" entstehen zu lassen, am Leben zu erhalten
und von elementaren auf differenziertere Entwicklungsstadien
überzuführen:
Wenn ich Dir vertraue, bedeutet das, dass ich nicht Dich als empirische
Person mit empirischen Wahrscheinlichkeiten faktischen Wohlverhaltens oder
Fehlverhaltens im Blickfeld habe, sondern mein internales Bild von Deiner
Beziehung zu mir, dem ich mich - im Sinne eines "Zutrauens zu meinen
eigenen Erwartungen" - anvertraue (vgl. Luhmann 1971: 1ff.)
Als "Verlagerung der Unsicherheitsproblematik von aussen nach
innen" (Luhmann, 1971:28) gibt mir Vertrauen die Möglichkeit, trotz
mangelhafter Information über die faktische Person und ihre
Verhaltensweisen sichere Erwartungen aufrechtzuerhalten und zur Basis
meines eigenen Handelns zu machen. Andererseits aber muss ich dafür mit
einer gesteigerten Empfindlichkeit gegenüber Enttäuschungen bezahlen,
weil ich dann gezwungen bin, nicht nur mein Bild von ALTER, sondern auch
meine internalen Selbsterwartungen, denen ich mich überlassen habe, zu
revidieren. Oder anders gesagt: beim Vertrauensbruch habe ich nicht nur
den objektiven Schaden (z.B. die Veruntreuung meines Vermögens) zu
tragen, sondern zusätzlich auch die Frustration über meine
offensichtliche Unfähigkeit, über die entsprechende Person ein
adäquates Urteil zu bilden - und drittens meist auch noch den Tadel oder
Spott jener Dritten, die mir "Naivität",
"Blauäugigkeit" oder Schlimmeres zum Vorwurf machen.
Die Paradoxie von Vertrauensbeziehungen besteht nun darin, dass sie zu
ihrer Genese meist intensiver kollokaler Interaktionsprozesse bedürfen,
in denen die zum Vertrauenserweis nötigen Kenntnisse der Person sowie die
erforderlichen motivationalen Bindungen erzeugt werden, dass sie aber in
diesen kollokalen Phasen andererseits keine guten Entfaltungschancen
finden: weil es wegen der ständigen wechselseitigen Wahrnehmbarkeit und
Kontrollierbarkeit des Verhaltens an Gelegenheiten mangelt, in denen
"Vertrauen" (als funktionales Äquivalent für vollständige
Information und Kontrolle) zur Bewährung gelangen könnte.
Mit anwachsender Vertrauensbasis wird es immer besser möglich,
Interaktionsbeziehungen "auszudünnen" oder in dauerhafte
Alokalbeziehungen übergehen zu lassen: ganz im Gegensatz zu
Misstrauensverhältnissen, wo der unersättliche Bedarf nach Information
und Kontrolle die Partner viel stärker dazu zwingt, einander andauernd
nahe zu sein und wechselseitige Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Wenn Ehepartner sich wechselseitig der Neigung zur Untreue
verdächtigen, müssen gerade sie, die einander nicht gut mögen, mit dem
Zwang zum dauernden Beisammensein und entsprechenden Einbussen an
individueller Bewegungsfreiheit bezahlen: während einander vertrauende
Partner - obwohl in Liebe verbunden - sich ohne Risiken die Freiheit
getrennter Ausflüge oder Ferienreisen zugestehen können.
Mit andern Worten:
Vertrauensbildende Interaktionsverhältnisse können selbsterodierend
sein, weil der verringerte Kollokalitätsbedarf zu Zuständen der Trennung
führt, die dem weiteren Ausbau des Vertrauens -und auch der empirischen
Überprüfung, ob sich das Vertrauen bewährt hat oder nicht - hinderlich
im Wege stehen. Genau symmetrisch dazu können misstrauenweckende
Interaktionen zur Kontinuierung kollokaler Interaktionen nötigen: und
damit immer auch zu einer ständigen Erneuerung von Gelegenheiten, die zur
Überwindung dieses Misstrauens und zum Aufbau von Vertrauen Anlass geben
können.
Andererseits wäre es falsch, in alokalen Vertrauensverhältnissen
ausschliesslich "parasitäre" Zustände zu sehen, die von den
kollokal aufgebauten Vertrauensgrundlagen zehren, ohne etwas zu ihrer
Regeneration oder Weiterentwicklung beizutragen. Denn Alokalphasen können
auch dazu dienen, vielfältige Bewährungsproben für verliehenes
Vertrauen bereitzustellen, deren erfolgreiches Bestehen dazu führt, dass
die Partner noch mehr Gefallen aneinander finden und deshalb in noch
intensivere kollokale Interaktionsbeziehungen treten.
Umgekehrt kann aber auch ein manifester Vertrauensbruch Anlass dafür
sein, um sich "unter vier Augen" eingehend über die nun
entstandene Lage und das Ob und Wie der fortzusetzenden Beziehung
klarzuwerden.
Denn generell sind all jene Sozialbeziehungen auf einen vermehrten
Einsatz von Kollokalität angewiesen, in denen Erwartungsunsicherheiten
oder Enttäuschungen bereinigt werden müssen:
- wenn Missverständnisse, Beleidigungen, ungewollte Schädigungen
oder schwer verständliche Handlungsweisen dazu nötigen, das
gestörte Gleichgewicht durch Erklärungen, Entschuldigungen oder
andere "korrektive Austauschrituale" zu restituieren (vgl.
Goffman 1974: 138ff.);
- wenn die Beziehung in ihrer Entwicklungsdynamik an einen
"kritischen Punkt" angelangt ist: so dass kollokale
Interaktionen als Katalysatoren wirksam sein können, um sie auf ein
höheres qualitatives Niveau zu heben (z.B. eine bisherige
"Freundschaft" in ein Liebesverhältnis oder das letztere in
ein Eheverlöbnis überzuführen).
- Wenn irgendein grundlegender Wandel in der sozialen oder personalen
Identität eines Partners es erforderlich macht, die prinzipiellen
Voraussetzungen und Ziele der Beziehung neu zu diskutieren oder durch
Kundgabe von "Ratifizierungsritualen" die Bereitschaft zur
Fortsetzung des Verhältnisses zum Ausdruck zu bringen (Goffman
1974:103).
IV
Wenn ein Individuum irgendeinem grösseren, die Reichweite einer
Kollokalgruppe überschreitenden, Kollektiv angehört, vermag es sich zu
ihm auf zwei völlig verschiedene Weisen in Beziehung setzen:
1) Interaktionell: indem es mit jenen andern Mitgliedern
derselben Gruppe Wahrnehmungs- und Kommunikationsbeziehungen aufnimmt, die
sich in seinem kollokalen Umfeld befinden.
Auf diesem Wege wird es aus vielfältigen Gründen daran gehindert
werden, sich eine einheitliche, umfassende Vorstellung vom Gesamtkollektiv
zu verschaffen, denn
- es sind nur wenige und vielleicht nicht besonders
"repräsentative" Individuen, die sich in diesem Nahbereich
aufhalten und für Interaktionen zugänglich sind;
- vor allem in intern sehr inhomogenen Kollektiven oder strukturell
differenzierten Organisationen bekommt jedes Mitglied nur kleinere,
ausdifferenzierte Teile des Gesamtsystems zu Gesicht;
- das hohe "Auflösungsvermögen" der kollokalen Nahoptik
verführt dazu, die Aufmerksamkeit vor allem den idiosynkratischen
Besonderheiten der situativen Umstände und der anwesenden Personen
anstatt den generalisierbaren, "typischen" Merkmalen
zuzuwenden.
In seinen interaktionell vermittelten Kollektivbezügen erfährt sich das
Individuum primär als teilnehmendes Mitglied, das vielfältigen
informellen Sozialisations- und Kontrolleinflüssen unterliegt und sich
die gruppenspezifischen kulturellen Muster (z.B. den vorherrschenden
Sprachjargon) auf nie völlig kontrollierbare Weise assimiliert..
2) Referentiell: indem es auf der Basis von Primärerfahrungen
oder Sekundärinformationen eine internale Vorstellung von der Gruppe
konzipiert, um sich auf Umweg über dieses Repräsentationsbild mit dem
Kollektiv als einer Ganzheit in ein innerliches Verhältnis zu setzen.
In seinen referentiellen Kollektivbeziehungen findet sich EGO
überwiegend als ein selbständiger sozialer Akteur vor, der wenn nicht
über die Ausgestaltung, so doch über die Wahl oder Ablehnung
verschiedener Bezugsgruppen autonom verfügt. Die immanente Labilität und
"soziologische Unterdeterminiertheit" derartiger Selektionen
widerspiegelt sich im desolaten Zustand einer Referenzgruppentheorie, die
bisher nicht erklären kann, wer wann welche Bezugskollektive wählt, um
seine Vergleichs- oder Bewertungsstandards daran festzumachen oder seine
personale Identität darin zu verankern (vgl. Zimbardo 1980: 62)
Durch gestalthafte Typifikation eines sozialen Kollektivs (seiner
Traditionen, Werte, Zielsetzungen, Strukturverhältnisse,
Mitgliedermerkmale u.a.) wird ein äusserer Interpretations- und
Erwartungshorizont konstituiert, von dem her nicht nur konkrete
Interaktionserlebnisse, sondern auch die darauf aufbauenden Personen- und
Beziehungstypifikationen ihre spezifische Formung und Deutung erfahren:
z.B. wenn sich Verhandlungspartner primär als Exponenten verschiedener
Volksgruppen, Verbände oder Nationen definieren; wenn die Zugehörigkeit
zur selben Standes- oder Berufsgruppe als explizite Voraussetzung für
geselliges Beisammensein oder das Eingehen von Freundschaftsbindungen
fungiert; oder wenn Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz der Prägung durch
gemeinsam akzeptierte organisatorische Normen oder Loyalitäten
unterliegen.
Konsensuale Attributionen dieser Art sind zumindest eine notwendige
Bedingung dafür, dass es Entitäten wie z.B. "legitime
Herrschaftsordnungen", "Ausbeuterklassen", "verfolgte
Minoritäten", "Sozialbewegungen", "Ethnien" oder
"Nationalitäten" überhaupt gibt: eben im Sinne referentieller
Kollektive, an denen sich sowohl das Handeln der Zugehörigen wie auch der
Aussenstehenden regelmässig orientiert.
Wichtig ist allerdings die Einsicht, dass die gestalthafte
Typifizierung von Kollektiven stark gefördert werden kann, wenn die
Individuen sich gerade nicht auf dem direkten Wege sinnlicher Wahrnehmung,
sondern ausschliesslich auf dem indirekten Wege über internale
Repräsentationen mit ihnen in Beziehung setzen: weil mentale
Vorstellungen im Interesse müheloser Erinnerbarkeit, exakter
Evozierbarkeit und guter Unterscheidbarkeit zu "prägnanten",
generalisierten, in ihrer Typik überzeichneten Bildern ausgestaltet
werden, während sinnliche Eindrücke meist am Partikulär-Individuellen
haften bleiben.
Daraus erklärt sich der gruppensoziologische Befund, dass Individuen
den Nahbereich ihrer unmittelbaren Interaktionspartner als ein relativ
differenziertes, durch individualisierte Einflüsse, Inkohärenz, Dissens
und Dynamik charakterisiertes Sozialfeld perzipieren, während sie dem
weiteren, ihrer Wahrnehmung entzogenen Feld ihrer "Ingroup" eine
undifferenziertere Homogenität attribuieren und erst recht über
"Outgroups" sehr schematisierte kognitive Stereotypen
aufrechterhalten (vgl. Wilder/Cooper 1981; Brewer 1979)
Die Hypothese, dass kollokale Interaktionen die Aufrechterhaltung)
generalisierter, auf prägnante Schemata reduzierter Vorstellungen von
sozialen Kollektiven erschweren, wird durch all jene zahlreichen
Untersuchungen bestätigt, die von einem abschwächenden Einfluss
primärer Interaktionsbeziehungen auf rassisch-ethnische Vorurteile
berichten (vgl. z.B. Carithers, 1970; Babad/Birnbaum/Benne 1983:118).
Diese Befunde unterstützen die generelle Hypothese dass es im Feld
primären Wahrnehmens und Erlebens immer die relativ partikulären
Situations- und Personenmerkmale sind, die das Aufmerksamkeitsfeld der
Teilnehmer besetzen: während generalisiertere, etwa am "ethnischen
Durchschnittscharakter" orientierte Vorstellungen latent bleiben, da
sie in der hochauflösenden Nahoptik derjenigen, die mit konkreten
Gruppenangehörigen interagieren, gar nicht sichtbar werden.
So besitzen die viele sozialen Kollektive eine systematische
Unfähigkeit zur "endogenen Selbstkonstitution": in dem Sinne,
dass ihre Mitglieder wegen ihrer Befangenheit in partikulären kollokalen
Subsystemen oft nicht hinreichend dazu disponiert sind, sich vorrangig als
Repräsentanten des Gesamtkollektivs zu definieren.
Eine das kollokale Niveau überspringende Orientierung an der
Gesamtsystemebene mag unter folgenden Bedingungen wahrscheinlich sein:
- Wenn die individuellen Mitglieder so isoliert sind, dass sie keinen
kollokalen Referenzkontext um sich haben: wie z.B. Flugpiloten oder
Lastwagenchauffeure, deren starke gewerkschaftliche Solidarität
vielleicht dadurch bedingt ist, dass ihnen wegen der Einsamkeit ihrer
Berufsausübung nur die Identifikation mit der gesamten Berufsgruppe
übrig bleibt.
- Wenn das Kollektiv funktional so differenziert ist, dass sich das
kollokale Nahfeld jedes Individuums nur auf spezialisierte
unselbständige Segmente (z.B. Abteilungen in einem Industriebetrieb)
erstreckt, während die eigentlichen Werte, Ziele und
Produktionsleistungen nur auf Gesamtsystemebene verwirklicht werden.
So mögen nicht nur im traditionellen Handwerk, sondern auch in
manchen Ressorts der öffentlichen Verwaltung Identifikationen mit dem
unmittelbaren betrieblichen Umfeld üblich sein, während
grosstechnologische Betriebe eine Identifikation des Arbeiters mit der
Gesamtunternehmung zu erzwingen scheinen (vgl. z.B. Blauner 1964:
146ff.; Touraine, 1964)
- Wenn die Mitglieder eines Kollektivs derart verschiedenartig und
dissensual sind, dass ein Individuum nicht darauf vertrauen darf, in
seinem zufälligen kollokalen Nahfeld "typische", für das
Gesamtkollektiv repräsentative Exponenten zu finden. So muss die
Integration moderner, durch eine pluralistische Vielfalt von
Berufsgruppen, Schichten, Konfessionen, Ethnien u.a. charakterisierter
Gesellschaften wahrscheinlich zunehmend durch direkte Bezugnahme von
Individuen auf äusserst entfernt liegende Identifikationsebenen (z.B.
"Nation") aufrechterhalten werden, die - z.B. weil deren
Symbole dank massenmedialer Diffusion allgegenwärtig sind - keiner
Vermittlung durch kollokale Primärgruppen bedürfen (vgl. z.B.
Selznick 1951).
Wenn diese Voraussetzungen fehlen, so sind es oft die aussenstehenden
Nichtmitglieder, die zuerst ein internales Gestaltbild vom Kollektiv
entwerfen und sekundär manchmal auch dessen Mitgliedern dann zur Genese
eines umfassenden "Gruppenbewusstseins" verhelfen. Denn mangels
eigener Primärerfahrung mit der "Outgroup" sind Aussenstehende
vermehrt auf die Orientierung an vorgefertigten, ein für allemal
fixierten Vorstellungsbildern angewiesen, und laufen im Vergleich zu den
Mitgliedern viel weniger Gefahr, sie durch dissonante eigene Erfahrungen
relativieren oder modifizieren zu müssen.
So war die katalytische Wirkung der Fremdkolonisierung notwendig, um
bei primitiven Gesellschaftsformationen übergreifende tribalistische oder
nationalistische Identifikationsmuster und Solidaritäten entstehen zu
lassen; und der moderne Staat kann neuartige "ethnische Gruppen"
artifiziell erzeugen, indem er bestimmte Bevölkerungskategorien
systematisch ungleich behandelt oder deren Verbandsorganisationen als
"offizielle Repräsentationsorgane" akzeptiert (vgl. z.B.
Nielsen 1985: 136ff.; Zald 1987:326)
Anders als bei Personen- und Beziehungstypifikationen (vgl. II/III)
führt kollokales Interagieren also nicht unbedingt dazu, dass sich die
Inanspruchnahme internaler Kollektivtypifikationen verringert.
Vor allem wenn ein Individuum an einem grossen und heterogenen
Kollektiv partizipiert (und dort eine eher periphere anstatt zentrale
Position besetzt), wird es über das Medium kollokaler Primärinteraktion
nur zu einem bescheidenen, zufällig-variablen Ausschnitt des sozialen
Gesamtsystems Zugang gewinnen; und es muss in all seinen Interaktionen
immer ex ante darüber reflektieren, in welchem umfassenden
Systemzusammenhang es (bzw. sein Partner) sich befindet.
Dementsprechend macht es denn auch kaum einen Unterschied, ob sich die
Referenzgruppenbeziehung auf eine "Ingroup" (in der man selber
Mitglied ist) oder eine "Outgroup" bezieht, weil das
Gesamtkollektiv in beiden Fällen nur interaktionsunabhängig über das
Medium eines internalen Repräsentationsbildes "erreichbar" ist:
indem das Individuum in selbstselektiver Weise "beschliesst",
sich via Identifikation, Zuschreibung von Autorität, Akzeptanz von
Herrschaft u.a. seinem Einflussfeld zu öffnen.
Der Unterschied besteht nur darin, dass Outgroup-Relationen
ausschliesslich auf referentielle Bezugnahmen verwiesen sind, während
In-group-Einbindungen sich zusätzlich auch noch über (kollokale)
Primärinteraktionen vollziehen, über die das Individuum viel
heterogenere und heteronomere Assimilationseinflüsse erfährt: z.B. wenn
es mit der Zeit dazu gelangt, den örtlichen Dialekt seines
Immigrationskontextes nachzusprechen oder die in seiner umgebenden
Schichtgruppe üblichen Denkweisen auch in sich selber vorzufinden.
So lassen sich Ingroups sinnvollerweise danach charakterisieren, in
welchem Gewichtsverhältnis sich die beiden Modi der interaktionellen vs.
referentiellen Integration miteinander verbinden. Am einen Extrempunkt
finden sich rein interaktionell konstituierte Kollektive, die - wie z.B.
viele Schichtgruppen, lokale Subkulturen u.a. - auf Grund intensiver
Binneninteraktion und -sozialisation objektiv bestimmte
Homogenitätsmerkmale aufweisen, ohne dass die Mitglieder sich dieser
Besonderheiten bewusst wären oder gar zur Grundlage einer kollektiven
Identität machen würden.
Und in der Nähe des entgegengesetzten Pols findet man völlig
referentiell erzeugte Kollektive: z.B. ethnizistische und nationalistische
Solidaritätsgruppen sowie Anhängerschaften sozialer Bewegungen, die
allein auf konvergenten referentiellen Identifikationen ihrer Mitglieder
beruhen und nur solange "existieren", als sich dieses höchst
explizite Gruppenbewusstsein - das häufig durch Fremdattributionen
mitgestützt wird - erhält (vgl. Greverus, 1981; Giordano 1981)
Für den Objektbereich intraorganisationeller Primärgruppen hat D.I.
Warren bereits vor längerer Zeit eine Typologisierung vorgeschlagen, die
dieser konzeptuellen Differenzierung genau entspricht:
1) "Job specific groups" sind dadurch charakterisiert, dass
sie sich ausschliesslich über das Medium dichter kollokaler
Interaktionsbeziehungen konstituieren, wie sie durch die ökologischen und
arbeitsteiligen Bedingungen innerhalb eines Betriebs erzwungen werden.
Dank der Eigendetermination dieser horizontalen Wechselwirkungen hängen
Bestand, Form und Dynamik solcher Gruppen sehr wenig von den subjektiven
Dispositionen der individuellen Mitglieder ab: so dass sie auch gegenüber
Wandlungen ihrer personellen Zusammensetzung äusserst unempfindlich sind:
"Interaktionen am Arbeitsplatz sind viel häufiger als Kontakte in
der Freizeit. Stabile Mitgliedschaften sind weniger wahrscheinlich, und
die Gruppenidentifikation beschränkt sich völlig auf die wechselseitige
Anerkennung der gemeinsamen formalen Statusposition. Die Konformität des
Verhaltens basiert ausschliesslich auf der Anpassung an externe Quellen
von Belohnungen und Strafsanktionen. Deshalb ist zu erwarten, dass sich
der Einfluss solcher Gruppen ausschliesslich auf die verhaltensmässige,
nicht auf die gesinnungsmässige, Konformität erstreckt (Warren
1969:546).
Nur durch regelmässige kollokale Interaktionen gelingt es, solche
Gruppen am Leben zu erhalten und ihren Einfluss auf die individuellen
Mitglieder zu sichern.
2) "Diffuse peer groups" befinden sich in einer mittleren
Position des Kontinuums: insofern sie einerseits immer noch stark von
kollokalen Interaktionen abhängig sind, aber nicht von Arbeitskontakten,
wie sie sich aus den objektiven Zwängen der Organisation ergeben, sondern
von geselligen Freizeitkontakten, die viel stärker auf subjektiven
Einstellungen (Sympathiegefühlen, Perzeption gemeinsamer Interessen u.a.)
beruhen.
Zwischen interaktioneller und referentieller Integration besteht hier
ein dynamisches Gleichgewicht wechselseitiger Komplementarität, insofern
die Interaktionsanlässe zur Einsozialisierung von Gruppenidentifikation
dienen, und diese wiederum die Chancen weiterer Interaktionen erhöht
(Warren 1969:546).
3) "Consensual peer groups" schliesslich repräsentieren den
Typus einer rein referentiellen Form sozialer Assoziierung: konstituiert
durch konvergierende innere Gefühlsbindungen der Mitglieder und ihrer
subjektiven Bereitschaft, sich mit ihrer "Wir-Gruppe" zu
identifizieren.
Der Mangel an interaktioneller Stützung muss hier also durch ein Mehr
an innerpsychischen, von den Mitgliedern selbst bereitgestellten
Einbindungskräften aufgewogen werden: mit der Folge, dass praktisch alle
Determinanten, die die Genese und Entwicklung, die Überlebensfähigkeit,
Stabilität und innere Struktur des Sozialsystems beeinflussen, sich
ausserhalb der Sphäre verhaltensmässiger und interaktioneller Steuerung
befinden.
Völlig unempfindlich dafür, ob, mit welcher Häufigkeit und in
welcher Weise die Mitglieder einander begegnen und miteinander
interagieren, sind derartige Gruppierungen andererseits umso
verletzlicher, wenn sie - z.B. aus mangelnder Kontrolle über die
Selektion und/oder Sozialisation ihrer Mitglieder - eine hohe
Mitgliederfluktuation und den Zuzug "unpassender", in ihren
Werthaltungen und sozialen Neigungen abweichenden Teilnehmern zu
verkraften haben:
"Stabilität und wechselseitige Identifikation dominieren in der
konsensualen Kollegengruppe. Weder direkte Begegnungen noch diffuse
Interaktionen sind nötig, damit sie entstehen und sich am Leben erhalten,
obwohl dies innerhalb einer Organisation nicht ganz vermieden werden kann.
Wechselseitige Identifikation bezieht sich auf das Konzept der
Referenzgruppe. Wegen der Homogenität der Interessen hängt der
Kohäsionsgrad stark von der anfänglichen Zusammensetzung der Gruppe ab.
Ähnlichkeit des Backgrounds erzeugt ein subjektives Gefühl der
Zugehörigkeit, so dass weder häufige Kontakte noch aufwendige
Sozialisationsprozesse erforderlich sind." (Warren 1969: 546.)
Insofern derartige Konsensfaktoren als funktionales Äquivalent für
Interaktion wirksam sind und eine Verminderung kollokaler Begegnungen mit
sich bringen, ist es dem sozialen System nie möglich, seine Abhängigkeit
von den Persönlichkeitssystemen seiner Teilnehmer zu reduzieren: weil es
eben mangels Interaktionen kaum über Möglichkeiten verfügt, um
informierend, kontrollierend und sozialisierend auf sie einzuwirken und
dadurch für eine zuverlässige Reproduktion der für seinen Bestand und
seine Identität wesentlichen intrapersonellen Einstellungen zu sorgen.
Generell ist festzuhalten, dass mit abnehmender Grösse und zunehmender
Homogenität eines sozialen Systems die beiden Mechanismen der
"interaktionellen" und der "referentiellen"
Integration zu immer ähnlicheren Ergebnissen führen und deshalb immer
stärker in einem substitutiven anstatt komplementären Verhältnis
zueinander stehen.
Denn nur innerhalb kleiner Gruppen (und am vollkommensten natürlich in
dyadischen Verhältnissen) ist die Bedingung erfüllt, dass im Medium der
kollokalen Interaktion das System als Ganzes erfahrbar wird, und dass
Kollektivtypifikationen, die vom konkreten Interaktionserleben drastisch
abweichen, wenig Überlebenschancen besitzen.
V
Bereits früher (vgl. 3.4) wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur
Interaktionen, sondern auch die meisten andern individuellen Handlungen
stärkeren sozialen Einflüssen unterliegen, wenn andere Personen
mitanwesend und deshalb in der Lage sind, diese Handlungen zum Objekt
ihrer Wahrnehmungen, Bewertungen und Verhaltensreaktionen zu machen.
Die Einbettung in solch interreferentielle Prozesse der
Sinnkonstitution und Verhaltenssteuerung führt logischerweise dazu, dass
sich das Handeln von den selbstreferentiellen Konstitutionsfaktoren, die
im Persönlichkeitssystem des Akteurs selbst liegen, relativ stark
dissoziiert: so dass Individuen im Beisein Anderer häufig zu Taten,
verbalen Äusserungen oder nonverbalen Ausdruckskundgaben veranlasst
werden, die durch keinerlei subjektive Motivationen, Einstellungen,
Charaktermerkmale oder andere intrapersonelle Dispositionen gestützt sind
und deshalb häufig nicht nur bei Dritten, sondern sogar beim Akteur
selbst Überraschung (und oft genug auch Verlegenheit oder Beschämung)
erzeugen.
Während Individuen innerhalb alokaler wie auch translokaler
Verhältnisse einerseits die Chance, andererseits aber auch den Zwang
erfahren, den Sinn und die spezifische Selektivität ihres Handelns immer
wieder aus endogenen, psychischen Orientierungs- und Motivationsquellen zu
schöpfen, so sehen sich kollokale Partner in der Situation, dass diese
selbstreferentiellen Determinanten in zumindest ergänzender, häufig aber
auch konkurrierender und substituierender Weise durch die wechselseitigen
Kausalwirkungen, Wahrnehmungen und Kommunikationen des interreferentiellen
Feldes überlagert werden.
In der Reihenfolge zunehmender "Eingriffstiefe" lassen sich
die folgenden drei Einflussebenen voneinander unterscheiden:
1) Kognitiv
Unbestritten ist die Hypothese, dass kollokale Individuen einander in
vieler Hinsicht als Quellen kognitiver Orientierung benutzen: ganz
besonders natürlich dann, wenn sie - wie im berühmten Experiment von Ash
(1951) - auf Grund hoher Unstrukturiertheit, Ungewohntheit und
Vieldeutigkeit ihrer aktuellen Situation ausserstande sind, mittels rein
internaler Orientierungsprinzipien (Wahrnehmung, logisches Schlussfolgern,
Revokation früherer Erfahrungen u.a.) zu einem sicheren Urteil zu
gelangen.
Nach einer bekannten Untersuchung von Latané/Darley hängt die
Bereitschaft zufälliger Unfallzeugen, helfend ins Geschehen einzugreifen,
in erster Linie nicht von deren internalisierten Einstellungen, sondern
von den (perzipierten) situativen Umständen ab: insbesondere auch davon,
ob bereits andere Personen sich zur Hilfe entschlossen haben
(Latané/Darley, 1970). Dieses Ergebnis wäre mit der Hypothese
konsistent, dass zufällige Zeugen das Unfallereignis als eine höchst
aussergewöhnliche Einzelfallsituation erleben, zu deren adäquater
Bewältigung sie keine endogenen, durch Sozialisation oder frühere
analoge Erfahrungen erworbene Verhaltensmuster zur Verfügung haben.
Deshalb bleibt ihnen nur die Option, das Verhalten anderer Umstehender
beobachten, um
- zu einem kognitiven Urteil darüber, was für eine Art von
Situation hier überhaupt vorliegt
- zu einem normativen Urteil darüber, welche Hilfehandlungen
angemessen seien,
zu gelangen (vgl. z.B. Bierhoff, 1980: 143).
Überall, wo verschiedene Individuen parallel zueinander dasselbe
wahrnehmen, denken oder tun, mag kollokale Verdichtung die
interindividuelle Diffusion von Orientierungsmustern begünstigen und
damit eine gewisse Angleichung zwischen ihnen befördern.
Dies gilt sicherlich für den Bereich der Arbeitswelt, wo kollokale
Teammitarbeiter (selbst wenn man von den Homogenisierungseinflüssen des
formalen Organisationsrahmens absieht) zur Festlegung gemeinsamer
Praktiken und Leistungsstandards neigen (vgl. Miller/Form 1964: 279ff.),
während der frühere einsame Handwerksmann darauf verwiesen war, den
ganzen "Stil" seines Arbeitens (hinsichtlich Rhythmus,
Quantität, Sorgfalt etc.) aus endogenen Quellen zu schöpfen.
Dementsprechend war es in den traditionalen Handwerksgesellschaften
unerlässlich, wenigstens durch aufwendige Sozialisations- und restriktive
Zulassungsprozesse (in der Zunftorganisation) eine gewisse
Verlässlichkeit solcher internalisierter Verhaltensstandards zu
garantieren. In der industriellen Produktion kann man auf derartige
Mechanismen insofern verzichten, als die kollokalen Gruppen innerhalb der
Betriebe für eine relativ sozialisations- und rekrutierungsunabhängige
Nivellierung der Arbeitsweisen sorgen.
Noch einsichtiger sind die kognitiven Auswirkungen der Kollokalität,
wenn Individuen sich in einem komplementären Interdependenzverhältnis
zueinander befinden und deshalb - sofern nicht ein völlig routinisierter
oder ritualisierter Prozessablauf stattfindet - darauf angewiesen sind,
einander über die wechselseitig geltenden Voraussetzungen, Normen, Ziele,
Motivationen usw. der Interaktion zu informieren.
Schreibe ich Dir (als Abwesendem) einen Brief, so muss ich alle meine
Vorstellungen, was Du zu lesen interessant findest, in welcher Situation
Dich mein Schreiben antreffen wird und wie Du darauf reagieren könntest,
völlig aus mir selber schöpfen: und habe dabei oft keine andere Wahl,
als in solche Antizipationen nicht nur vergangene Erinnerungen an Dich,
sondern auch von mir selbst verfertigte Phantasie- oder Wunschprojektionen
mit einfliessen zu lassen.
Führe ich mit Dir (als Anwesendem) ein Gespräch, erkenne ich aus den
Gesamtumständen Deiner aktuellen Erscheinung, Deines äusseren Verhaltens
und Deiner momentanen Situation, was ich Dir sagen kann, und jede Deiner
mimischen oder verbalen Reaktionen auf meine Rede bietet mir Gelegenheit
für Neuorientierung: indem ich den scharfen Tonfall mässige, soeben
gemachte Aussagen relativiere oder - wenn ich Deine Langeweile, Dein
Unbehagen oder Deinen Zorn aufkeimen sehe, zu einem anderen Thema
überwechsle.
Unübertroffen sind kollokale Sozialsysteme vor allem darin, den
Partnern wechselseitig Informationen über ihre unwillkürlichen,
spontanen Verhaltensreaktionen zugänglich zu machen, die im Ruf stehen,
inneres Erleben und Denken, Erwarten und Intendieren besonders
"authentisch" zum Ausdruck zu bringen und deshalb für die
Festlegung personeller Typifikationen und Erwartungshaltungen besonders
geeignete Ansatzpunkte zu bieten (vgl. Darley/Teger/Lewis 1973).
Indem die Partner beispielsweise auf Abenteuerreise gehen oder einander
mit schockierenden Informationen, Zumutungen u.a. konfrontieren, können
sie selbst die Chancen vermehren, einander bei relativ unkontrollierten
Spontanreaktionen auf unerwartete Ereignisse beobachten zu können - und
dadurch das (vermutete) "wahre Gesicht" des Anderen noch
deutlicher zu erkennen.
Diese problematische Identifizierung des Spontanen mit dem
"Unverfälschten" erfüllt sicherlich die Funktion, dem
Interaktionssystem, das sonst im Strudel doppelter Kontingenz zu versinken
droht, einige sichere Haltepunkte zu verleihen: indem zumindest einige der
Verhaltensweisen nicht mehr situativ (d.h. als Reaktionen auf
vorangegangenes Verhalten) attribuiert werden, sondern eine dispositionale
Zurechnung (als genuine Artikulation einer dahinter stehenden
"Persönlichkeit") erfahren.
Diese "Tyrannei des Authentischen" kann auch dazu führen,
dass jeder Partner sich gezwungen sieht, in Konsistenz mit seinen eigenen,
unkontrolliert-spontanen Reaktionsweisen zu verfahren: weil er weiss, dass
diese primären Äusserungen mehr als alle nachfolgenden, mit Reflexion
angereicherten Kundgaben als verbindliche Selbstdarstellungen seines
"wahren Ich" gedeutet werden (vgl. Darley/Teger/Lewis, 1973).
2) Adaptiv
Solange EGO mitanwesende Andere nur wahrnimmt, ohne sich seinerseits
von ihnen wahrgenommen zu wissen, verfügt er über die Autonomie, sich je
nach Bedarf in ausschliesslich kognitiver Weise an ihnen zu orientieren.
Das kollokale Feld stellt sich ihm als ein - mit seinen internalisierten
Erfahrungen, Reflexionen u.a. konkurrierendes - rein dispositionales
Reservoir von Orientierungsmöglichkeiten dar, das er nach Belieben
ausschöpfen oder ignorieren kann, und dessen Bedeutung deshalb je nach
der Verfügbarkeit anderer Orientierungsquellen in hohem Masse variiert.
Wenn EGO hingegen weiss (bzw. auch nur vermutet), dass er gleicherweise
für die Anderen als Objekt der Wahrnehmung und Bewertung fungiert, so
erfährt er das kollokale Umfeld als Quelle externaler Anpassungszwänge,
die selbst bei Fehlen manifester Sanktionsdrohungen oft einen
erstaunlichen Grad an Unausweichlichkeit besitzen.
EGO muss beispielsweise erleben, dass er auf den Gruss ALTERS fast
reflexartig mit einem Gegengruss reagiert und höchstens unter Anwendung
rabiater Selbstdisziplin in der Lage wäre, auf seine Frage jegliche
Antwort (selbst nicht-verbaler Art) zu verweigern oder ihm, dem er aus
Versehen schmerzhaft auf die Füsse getreten hat, keine irgendwie geartete
Entschuldigung zukommen zu lassen (vgl. Goffman 1974: 97ff.)
Elementarste, in ihrer amorphen Diffusität beängstigende Gefühle von
Scham und "Verlegenheit" sind die Folge, wenn tabuierte
Körperteile entblösst, kleinste Diebereien oder Unaufrichtigkeiten
bemerkt oder peinliche Taktlosigkeiten ausgesprochen werden: ziemlich
unabhängig davon, ob schuldhafte "böse Absichten" oder bloss
nachlässige Unachtsamkeit die Ursache davon waren. Das Interesse an der
Vermeidung derartiger Situationen dient als machtvolles Motiv, um sich -
manifesten oder nur unterstellten - Erwartungen von Mitanwesenden zu
beugen und auf der Basis von Kollokalität ausdifferenzierte Sozialsysteme
entstehen zu lassen, die sich von den im gesellschaftlichen Umfeld
üblichen Normen- und Vehaltensstrukturen abkoppeln oder sich zu ihnen gar
in drastischen Widerspruch setzen können.
Vielleicht müssen zur Kausalerklärung solcher Motivationskräfte
gewisse biologisch-genetisch fundierte anthropologische
Sozialdispositionen herangezogen werden, die sich in den Jahrmillionen der
Primatenevolution und Hominisation herausgebildet haben und wenigstens im
kollokalen Nahbereich eine sowohl von kulturspezifischen Moralnormen wie
auch vom Entwicklungsstand struktureller Kooperations-, Organisations- und
Herrschaftstechniken unabhängige Form elementarer sozialer Ordnung
konstituieren (vgl. z.B. Wilson 1975: passim)
Möglicherweise reicht es aber auch hin, auf zwei spezifische
Eigenheiten kollokaler Sozialsituationen zu verweisen, die zur
Verstärkung irgendwelcher, selbst äusserst geringfügiger,
Anpassungsmotivationen und Sanktionsdrohungen beitragen können:
- Die Tatsache, dass die von Mitanwesenden ausgehenden Beurteilungen,
Missbilligungen und Sanktionen zeitlich unmittelbar auf die
wahrgenommene Handlung folgen und allein aus diesem Grunde gegenüber
den verzögerten und vielleicht auch unberechenbareren Reaktionen aus
dem überlokalen Raum eine grössere aktuelle Motivierungskraft
erhalten.
- Die Tatsache, dass EGO die Reaktion ALTERS auf sein Handeln wiederum
zum Anknüpfungspunkt für übernächste Handlungen nehmen muss: so
dass sich aus der Antizipation zukünftiger Interaktionssituationen
ein dringender Bedarf ergibt, im jeweiligen Gegenwartspunkt für die
Aufrechterhaltung eines harmonischen Gleichgewichts zu sorgen.
Die soziologische Forschungsliteratur überquillt von
Illustrationsbeispielen für die Regularität, dass Individuen im
Einflussfeld kollokaler Sozialfelder dazu disponiert sind, ihr Verhalten
von der Bindung an internalisierte Gewohnheiten, Normen und Werthaltungen
zu lösen, um es in eine grössere Übereinstimmung mit den hier und jetzt
herrschenden Situationsbedingungen und Erwartungsstrukturen im Kreis
Mitanwesender zu bringen.
Vor allem in der Devianzsoziologie haben beeindruckende empirische
Forschungsergebnisse der Einsicht zum Durchbruch verholfen, dass
abweichendes Individualverhalten selten ohne Einbezug der im unmittelbaren
kollokalen Umfeld wirksamen Einflussfaktoren erklärt werden kann,
während Charakterdispositionen und andere intrapersonelle Faktoren
erstaunlich wenig Bedeutung haben.
Nicht nur bei kriminellen "Gangs" oder sich radikalisierenden
Terroristenzellen, sondern auch in Schulklassen oder industriellen
Arbeitsteams zeigt sich die generelle Fähigkeit kollokaler
Primärgruppen, minimale initiale Differenzen in den individuellen
Devianzneigungen kumulativ zu verstärken und praktisch alle ihre
Mitglieder in eine homogene Struktur subkultureller Normen und Sanktionen
einzubeziehen.
So hat eine empirische Untersuchung über unehrliche
Verhaltenspraktiken in Schulklassen gezeigt, dass
"Ansteckungseffekte" zwischen nebeneinandersitzenden Schülern
mehr als die Hälfte der Varianz erklären, und dass verschiedene Klassen
mit zunehmender Dauer der kollokalen Interaktion immer deutlicher einen
für sie spezifischen Stil und Umfang kollektiver Unehrlichkeit
stabilisieren (vgl. Burton 1976: 182).
Auch die spektakulären Ergebnisse des vieldiskutierten
Milgram-Experiments fügen sich zu einem konsistenten Bild zusammen, wenn
man davon ausgeht, dass das kollokale Umfeld, in das die Versuchsperson
eingebettet wird, mehr als irgendein anderer Faktor ihre Neigung zum
Austeilen schmerzhafter Elektroschocks erklärt:
- Die Konformität mit den Weisungen des Versuchsleiters nahm
schlagartig ab, wenn dieser den Experimentierraum verliess (Milgram
1974: 80).
- Bei Mitanwesenheit anderer ungehorsamer Probanden zeigten
Versuchspersonen eine deutliche Neigung, den Weisungen des
Versuchsleiters ebenfalls Widerstand zu leisten (Milgram, 1974:
137ff.).
- In dem Masse, wie die Versuchsperson ihr Opfer sehen, auch hören
und zusätzlich auch noch berühren konnte, nahm ihre Neigung, ihm
Schmerz zuzufügen, deutlich ab, und die Rate der Verweigerungen um
über 100% zu (Milgram 1974: 51ff.).
Alle drei Befunde sind mit der Annahme kompatibel, dass die Dominierung
des kollokalen Umfeldes durch den Untersuchungsleiter eine notwendige
Bedingung darstellt, um Versuchspersonen zu einem im Widerspruch zu ihren
internalisierten Moralnormen stehenden Gehorsamsverhalten zu motivieren:
weil tief verwurzelte Aussensteuerung (interpersonelle Sensibilitäten,
Angst vor Verlegenheit, Scham etc.) die Führung übernehmen, die relativ
unabhängig von Charakterstruktur oder aktuellen Stimmungslagen bei allen
Menschen ähnliche Form und Intensität besitzen:
"Es gibt zunächst einmal eine Reihe von 'Bindungsfaktoren', die
sie an die Situation ketten. Dazu gehören Faktoren wie ihre Höflichkeit,
ihr Bestreben, das ursprüngliche Versprechen, dem Versuchsleiter zu
helfen, wahrzumachen, und die Peinlichkeit des Ausscheidens."
(Milgram 1974:23)
Allein schon die zusätzliche Präsenz einer moralisch handelnden
Drittperson vermag diesem Zustand heteronomer Fremdlenkung ("agency
state") ein Ende zu bereiten: indem sie dazu beiträgt, in der
Versuchsperson ihr eigenes idealisiertes Selbstbild zu reaktivieren
und/oder von der Praktikabilität, ja Ehrenhaftigkeit des
Widerstandleistens zu überzeugen (vgl. Milgram 1974: 137).
Und in noch höherem Masse trägt die räumliche Nähe
(=Wahrnehmbarkeit und kommunikative Erreichbarkeit) des Opfers dazu bei,
dass äussere Situationsbedingungen einerseits und internalisierte
moralische Verhaltensnormen andererseits in dieselbe Richtung wirken und
synergetisch eine massive Gehorsamsverweigerung induzieren.
Man wird hier unmittelbar an die vielfach bestätigte
militärsoziologische Regularität erinnert, dass die Bereitschaft zum
Schusswaffengebrauch in der Gefechtssituation erheblich stärker durch das
Nahfeld der unmittelbaren Kampfkameraden als durch internale
Persönlichkeitsdispositionen (Patriotismus, persönlicher Mut u.a.) oder
alokale Verhältnisse (Armeeorganisation, nationale Kriegssituation,
offizielle Ideologien u.a.) beeinflusst wird und paradoxerweise gar in
Motivationen durchaus altruistischer Art (z.B.: das Überleben seiner
Kameraden zu sichern) seine Stütze findet (vgl. Little 1964; Lang, 1965:
869ff.)
Delinquenz- und Kampfhandlungen haben miteinander gemeinsam, dass es
sich um ungewohnte, ja häufig singuläre, unwiederholbare
Verhaltensweisen handelt, für die dem Individuum keine routinemässig
habitualisierten Verfahrensmuster zur Verfügung stehen. Schon dieser
Mangel an internalen Strukturierungen macht Individuen dazu geneigt, das
eigene Handeln stärker am Verhalten unmittelbar Mitanwesender zu
orientieren: ganz abgesehen von der attraktiven Chance, für ein
Verhalten, für das im weiteren gesellschaftlichen Kreise keine Lorbeeren
zu gewinnen sind, unverzügliche psychische Gratifikationen zu ernten.
Die "Untreue" gegenüber eigenen, selbstreferentiell
attribuierten Einstellungen und Intentionen fällt umso leichter, je
weniger solche Dispositionen im Persönlichkeitssystem stabil verankert
sind: bzw. je mehr die Orientierung am kollokalen Aussenfeld die
Spezifikation des eigenen Handelns erleichtert, weil sie dazu verhilft,
zwischen ambivalenten, widerstreitenden inneren Motiven eine klare Wahl zu
treffen.
Unter diesem Gesichtspunkt fällt es nicht schwer, die in mündlichen
Interviews so verbreiteten Effekte der "social desirability" als
soziologisch verständliche, ja zwingende Korrelate einer kollokal
dominierten (weil: intraindividuell meist unterdeterminierten)
Handlungssituation zu betrachten, anstatt in ihnen bloss lästige, durch
allerhand Tricks zu überwindende Störfaktoren der Surveytechnik zu
sehen. Vor allem wenn der Befragte beim Blick nach innen feststellt, dass
die ihm zugemuteten dezidierten Meinungen und Einstellungen nur in
unzureichendem Masse ausgebildet und verfestigt sind, wird er - den Blick
nach aussen wendend - als nächste Orientierungsquelle die Person des
Interviewers vorfinden, an dessen nonverbal ausgedrückte (bzw. bloss
hypothetisch unterstellte) Erwartungen er sich leicht adaptiert.
Und da man den Interviewer meist nicht näher kennt, neigen Befragte
dazu, ihm relativ durchschnittliche, innerhalb seiner Geschlechts- und
Alterskategorie modale Erwartungen zu attribuieren, und ihre eigenen
Antworten dementsprechend in Richtung höherer Konformität mit
gesellschaftlich etablierten Normalerwartungen zu modifizieren.
Entsprechend findet man dann, dass dieselben Interviewfragen mündlich
viel konformistischer als schriftliche beantwortet werden (vgl. Friedrich
1970:39), und dass "Tabu-Fragen" überhaupt nur im translokalen
Sozialverhältnis, wie es durch schriftliche Befragungen ermöglicht wird,
valide Antworten evozieren (vgl. Noelle-Neumann 1963:162).
In analogem Sinne sind kollokale Konformitätseinflüsse auch in jenen
vielfältigen Alltagssituationen wirksam, wo Individuen unerwarteten
überraschenden Einzelereignissen gegenüberstehen und genötigt sind,
ohne Zeitverzug auf spezifische (vielleicht: öffentlich-verbindliche)
Weise darauf zu reagieren.
Wenn Passanten beispielsweise an einem Sammeltopf der Heilsarmee
vorbeigehen, scheint ihre Bereitschaft zum Spenden stark erhöht zu sein,
wenn sie unmittelbar vor ihnen einen andern Spender beim Münzeinwurf
beobachten können (vgl. Bryan/Test 1967: 400ff.). Angesichts des Fehlens
interaktiver Verknüpfung wäre es hier naheliegend, dieses Phänomen
einer rein kognitiven Orientierungsfunktion des kollokalen Feldes
zuzuschreiben: EGO erkennt am Verhalten von ALTER, dass Spenden eine
praktikable, mit der Rolle des "unbehinderten Passanten"
kompatible Handlung darstellt, bei der man beispielsweise keine
öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht und auch nicht gezwungen ist,
sich einem religiösen Bekehrungsversuch zu unterziehen. Nach Ansicht der
Autoren muss hier aber dennoch mit einem tieferreichenden normativen
Einfluss gerechnet werden: indem ALTER dazu beiträgt, in EGO ein latent
gesetztes positives Selbstbild ("im Grunde bin ich ein hilfsbereiter
Mensch") zu aktivieren und ihn mittels dieser Selbstattribution zur
Geldspende zu motivieren (Bryan/Test, 1967:406).
Ebenso sind gesellige Verhaltensweisen wie z.B. Lachreaktionen auf
Witze dadurch gekennzeichnet, dass sie - sofern man die Pointe nicht schon
kennt - auf einen unvorhergesehenen Stimulus hin erfolgen und keinerlei
Zeitaufschub (für abwägende Beurteilungsprozesse) dulden.
So kann das experimentelle Ergebnis nicht überraschen, dass
Individuen, die sich als Teilnehmer einer kollokalen Gruppe sehen, geneigt
sind, bei Scherzgeschichten unterschiedlichster Qualität in das
Gelächter der (vermuteten) übrigen Gruppenmitglieder einzustimmen,
während sie im einsamen Zustand offensichtlich viel weniger daran
gehindert sind, ihre Reaktion mit der "Güte" des Witzes in
Einklang zu halten (vgl. Losanchik/Lightstone, 1974: 153ff.)
Die Tatsache, dass Mitanwesende nicht nur EGO's Lachreaktion, sondern
auch sein (von niemandem registriertes) Privaturteil über die Qualität
von Witzen beeinflussen, deutet darauf hin, dass das kollokale Feld in
diesem Falle nicht nur als Kraftzentrum konformistischer
Verhaltensanpassung, sondern auch als Quelle kognitiver und evaluativer
Orientierungen fungiert (Losanchuk/Lightstone 1974: passim).
Unabhängig davon, ob sich das Individuum nur in kognitiver oder auch
in adaptiver Hinsicht vom sozialen Kollokalfeld beeinflussen lässt, wird
es dennoch mit einem guten (vielleicht: dem "besseren") Teil
seiner selbst ausserhalb dieses Feldes verbleiben: sofern es ihm nur
gelingt, seine personale Identität und Handlungsautonomie an Niveaus
festzumachen, die sich dem Zugriff interreferentieller Steuerungen
entziehen.
Denn die Reichweite des kollokalen Feldes bleibt eingeschränkt
a) auf Handlungen, die sinnlich wahrnehmbare Komponenten motorischen
Verhaltens aufweisen und deshalb - im Prinzip unabhängig von ihren
"Handlungscharakter" - als manifeste Ereignisse in den
objektiven Kausalzusammenhang der physischen Umwelt eingebettet sind.
Deshalb kann jeder Teilnehmer zumindest seine innerpsychischen
Erlebnisinhalte und reflexiven Operationen im unangreifbaren
"Privatbesitz" halten, sofern sie nicht in unwillkürlichen
Regungen gestisch-mimischer Art erkennbar werden. Ebenso sieht er sich
auch mit den meisten seiner "Unterlassungshandlungen" allein
gelassen: weil nur er wissen kann, dass sein momentanes Schweigen das
Unterdrücken einer ganz bestimmten Bemerkung "bedeutet", oder
dass das Faktum, dass er nach wie vor anwesend ist, auf dem inneren
Entschluss zur Aufschiebung seines Wegganges beruht (vgl. Geser, 1986:
656ff.)
b) auf "atomare" oder "molekulare"
Einzelhandlungen, die während der Zeitperiode des Zusammenseins ihren
Anfangspunkt und ihren Endpunkt haben und deshalb für die Beobachter als
klar konturierte Ereignisabläufe erkennbar werden, die dem
"aktuellen Verstehen" (im Sinne von Weber, 1972:3f.) zugänglich
sind.
Weiterhin "unsozialisiert" bleiben all die weitgespannteren
"Molarhandlungen" und makroskopischen Handlungsentwürfe, von
denen in der Kollokalsituation nur einzelne Bruchstücke (bzw.
Teilschritte) sichtbar werden: sofern diese Teilhandlungen mit der
Gesamthandlung in keinem eindeutig determinierten Zusammenhang stehen
(vgl. 3.4)
Auf Grund dieser Beschränkungen ist auch leicht ersichtlich, warum
Kollokalität häufig in störender, ja paralysierender Weise auf den
Vollzug komplexerer Makrohandlungen einwirken kann: weil sich die
Teilnehmer gezwungen sehen, ihre Aufmerksamkeit allzu ausschliesslich auf
jene äusserlich sichtbaren Einzelhandlungen zu konzentrieren, die nach
"dramaturgischen Gesichtspunkten" ausgestaltet werden müssen,
um bei allen Beteiligten angemessene Wahrnehmungen und Bewertungen zu
erzeugen:
"Ebenso kann es den Inhabern von Dienstleistungsgeschäften
schwerfallen, das, was wirklich für den Kunden geschieht, wirkungsvoll
vor Augen zu führen, weil der Kunde die laufenden Kosten der
Dienstleistung nicht 'sehen' kann. Leichenbestatter müssen deshalb sehr
viel für ihre sichtbare Leistung - einen Sarg, der in einen Sarkophag
verwandelt wird - verlangen, weil zahlreiche andere Unkosten bei der
Durchführung einer Beerdigung nicht sichtbar gemacht werden
können."
Wie Sartre schreibt: 'der aufmerksame Schüler, der aufmerksam sein
will, den Blick an den Lehrer geheftet, die Ohren weit aufgetan,
erschöpft sich damit, den Aufmerksamen zu spielen, derart, dass er
schliesslich gar nichts mehr hört'.
So findet sich der Einzelne häufig im Widerstreit zwischen Ausdruck
und Handeln. Gerade diejenigen, die genügend Zeit und Talent haben, eine
Aufgabe gut zu erfüllen, haben manchmal deswegen weder die Zeit noch das
Talent, andern vorzuführen, wie gut sie sie erfüllen (Goffman
1983:32/33).
Indem das Handlungsgeschehen vom offenen kollokalen Raum in eine von
Fremdwahrnehmungen abgeschirmte "Hinterbühne" verlagert wird,
werden die Einzelhandlungen von derartigen kommunikativen
Begleitfunktionen entlastet, und es wird ein wohltuender Freiraum
geschaffen, der wahlweise dazu benutzt werden kann, um sich dafür
stärker von den objektiven Sachgesetzlichkeiten der zu bewältigenden
Aufgabe oder von zwanglosen subjektiven Motivationen und Gewohnheiten
leiten zu lassen (vgl. Goffman 1983: 99ff.).
3) Emotiv
Abgesehen von der kognitiven Orientierungs- und der normativen
Adaptionsebene scheinen kollokale Individuen auch auf einem dritten, noch
weitaus fundamentaleren Niveau Wechselwirkungen aufeinander auszuüben: in
Form von Einflüssen, die in unspezifischer Weise die psychische
Aufmerksamkeits- und Motivationsstruktur betreffen und sich der
Selbstkontrolle der Beteiligten weitgehend entziehen.
Diese emotive Wirkungsebene wird in sozialpsychologischen Experimenten
in dem vielfältig bestätigten Ergebnis sichtbar, dass Individuen auf die
Nähe anderer Personen, mit Symptomen generalisierter physiologischer
Stimulierung reagieren: Erscheinungen, die zwar auch bei der Annäherung
an anorganische Gegenstände auftreten, im Falle menschlicher Individuen
sich aber viel intensiver und regelmässiger manifestieren. Diese
soziogene Zusatzerregung wird im allgemeinen verstärkt, wenn die
Annäherung frontal (anstatt seitlich) erfolgt oder durch eine Person des
jeweils anderen Geschlechts verursacht wird (vgl. McBride/King/James
1965).
Angesichts der hohen Unspezifität der Reaktion lassen sich auch deren
psychische und sozialen Funktionen nur unscharf identifizieren: Einerseits
lassen sie sich als "Stresssymptome" deuten, die
Verhaltensweisen der Abwehr oder Flucht im Gefolge haben; andererseits
aber auch als Präadaptation an die nachfolgende interaktive Begegnung, in
der es nützlich ist, dem Partner (der ja immer als Quelle
unvorhersehbarer Äusserungen und Verhaltensweisen in Rechnung gestellt
werden muss) mit möglichst viel wacher Aufmerksamkeit und stimulierter
Reaktionsbereitschaft gegenüberzutreten.
In diesem letzteren Sinne hat Erving Goffman auf das ubiquitäre
Phänomen des sog. "Interaktionstonus" hingewiesen: d.h. auf
jene einerseits normativ erforderliche, andererseits aber in hohem Mass
spontan erzeugte Form psychischer Aktivierung, die dazu verhilft, mit den
doppelten Kontingenzen und Turbulenzen typischer Kollokalinteraktionen
fertigzuwerden:
"In der amerikanischen Gesellschaft scheint an den Menschen die
Erwartung gestellt zu werden, er habe seinem Körper eine Art Disziplin
und Spannkraft abzufordern, die bekundet, dass er stets über die
Fähigkeit verfüge, in eine direkte Interaktion, so die Situation sich
ergibt, einzutreten. Häufig wird diese Art kontrollierter Wachheit in der
Situation ein Unterdrücken und Verbergen vieler Fähigkeiten und Rollen
bedeuten, die der Einzelne in anderer Umgebung zu entfalten durchaus in
der Lage wäre. Was auch seine sonstigen Interessen sein mögen und ganz
gleich, wie seine situierten Interessen aussehen, der einzelne muss 'ins
Spiel kommen' und 'im Spiel bleiben'. KurzÉ eine Art 'Interaktionstonus'
muss aufrechterhalten werden." (Goffman 1971:35f)
Durch Mobilisierung zusätzlicher Motivationspotentiale gewinnt EGO
einerseits in erhöhtem Masse "freie Valenzen", die es in den
fluiden Interaktionsstrom mit ALTER "investieren" kann; und
andererseits sichert es sich die erforderliche Reflexions- und
Reaktionsbereitschaft, um auf unvorhergesehene Handlungen und
Kommunikationen ALTERS ohne Zeitverzug adäquat zu reagieren und im
eigendynamischen, irreversibel voranfliessenden Interaktionsprozess
strategisch und taktisch optimal zu handeln.
Häufig aber überwiegt die Tendenz, dass die vom kollokalen Feld her
aktivierten Zusatzpotentiale individuellen Erlebens und Handelns durch
dieses selbe Feld auch wieder gebunden werden. So steckt eine erhebliche
Wahrheit in Goffmans bekannter Aussage, dass "wir Individuen in
erster Linie sozialen Begegnungen angehören" (Goffman, 1971: 145):
weil wir ausgerechnet in den mikroskopischen Kollokalgruppen erfahren
müssen, dass die heteronome Determinationskraft des Sozialen tief und
unbezwinglich in uns eindringt, während unsere organisationellen
Mitgliedschaften oder gesamtgesellschaftlichen Statuspositionen etwas
vergleichsweise Äusserliches darstellen, zu dem wir in variabler, relativ
autonom bestimmter Weise Stellung beziehen können.
Die Eigenschaft kollokaler Felder, Individuen in inhaltlich fast
beliebiger Hinsicht responsiver und zum Ausführen verschiedenster
Verhaltensweisen disponibler zu machen, ist unter dem Konzept der
"social facilitation" (Zajonc 1965) zu einem fruchtbaren
Bestandteil der neueren sozialpsychologischen Theoriebildung geworden
(vgl. auch Lück 1969; Bond/Titus 1983)
Mit oder ohne theoretische Reflexion dieses eigenartigen Phänomens
verlässt sich jeder empirische Sozialwissenschaftler auf "social
facilitation", wenn er beschliesst, trotz der vergleichsweise viel
höheren Kosten mündliche Interviews anstatt schriftliche Befragungen
durchzuführen: in der durchgängig richtigen Antizipation, dadurch eine
erheblich geringere Verweigerungsquote zu erzielen.
Tatsächlich zeigen einschlägige Untersuchungen, dass es den in der
Privatwohnung aufkreuzenden Interviewers meist sehr leicht gelingt,
Informanten verschiedenster Art zur Beantwortung verschiedenster Fragen zu
bewegen: während die Beteiligung an schriftlichen Surveys viel stärker
davon abhängt, ob der Fragebogen ein zentrales (z.B. berufliches)
Interessengebiet des Befragten trifft, oder ob er durch überzeugende
formale Gliederung zum Ausfüllen motiviert (vgl. Wieken 1974:147ff.)
Mittels kollokaler Einbindungen scheint es also möglich, fast
beliebige Verschiedenheiten in der Intensität und inhaltlichen Richtung
individueller Motivationen und Interessen durch eine sachlich, zeitlich
und interpersonell gleicherweise generalisierte "soziale
Teilnahmemotivation schlechthin" zu überlagern.
Vom selben Mechanismus macht man in praktisch allen der Sozialisation
und pädagogischen Unterrichtung dienenden Sozialsystemen Gebrauch, in
denen das kollokale Beisammensein von Schülern und Lehrern (bzw. der
Schüler untereinander) nicht nur rein technisch das Übermitteln der
Lerninhalte erleichtert, sondern auch für die Aufrechterhaltung der
Lernmotivation ein unverzichtbares Erfordernis bildet (vgl.
Luhmann/Schorr, 1979).
Und ähnliche Begründungen schweben wohl jenen Firmenleitern vor, die
der durch die moderne Mikroelektronik erstmals ermöglichten
"Telearbeit" deshalb reserviert gegenüberstehen, weil sie mit
dem Wegfall der räumlichen Einbindung in den Betrieb ein generelles
Absinken der "Arbeitsmoral" verbunden sehen (vgl. z.B.
Jäger/Bieri/Dürrenberger 1987).
Bedenkenswert ist allerdings Zajoncs Hypothese, dass sich die
"produktive" Wirkung der social facilitation einseitig nur auf
relativ einfache, ja routinehaft standardisierte Verhaltensweisen
erstreckt, während komplexere Handlungen im Gegenteil eher einer
"social inhibition" unterliegen und deshalb nur im Zustand
individueller Einsamkeit zur vollen Entfaltung gelangen (vgl. Zajonc
1965).
Tatsächlich lässt sich argumentieren, dass das kollokale Feld
individuelle Handlungskapazitäten, auf doppelte,
spannungsvoll-widersprüchliche, Weise affiziert:
- Auf der einen Seite werden zusätzliche Motivationspotentiale
mobilisiert, im Sinne einer "Primärenergie", deren vom
Individuum abverlangen würde, zusätzliche differenzierte Leistungen
der Entschlussfassung, Planung und Koordination etc. aufzubieten.
- Auf der andern Seite nehmen diese Spielräume für die autonome
Handlungsgestaltung eher ab: weil mit dem räumlichen Beisammensein
rein physische Behelligungen verbunden sind (vgl. Kap. 5) und weil bei
jedem Handlungsschritt die kommunikativen Implikationen der einzelnen
Verhaltenskundgaben mitberücksichtigt werden müssen (vgl. 3.4).
So lässt sich "social facilitation" am besten zur
Intensivierung und/oder Frequenzvermehrung jener Verhaltensweisen
anwenden, die keines besonderen Aufwands an individueller Spezifikation
und Koordination bedürfen, weil sie (wie z.B. Lachen, Klatschen,
Skandieren) eine sehr einfache motorische Struktur aufweisen oder (wie
z.B. rhythmische Arbeitsbewegungen von Feldarbeitern etc.) den Charakter
verselbständigter "Subroutinen" besitzen, die vom Individuum
nach Belieben und ohne Beanspruchung besonderer Aufmerksamkeit reaktiviert
und deaktiviert werden können.
So ergibt sich im idealtypischen Grenzfall eine "mobilisierte
Masse" im Sinne einer segmentären Aggregation vieler Einzelner,
deren gemeinsame Erregung in parallel vollzogenen Verhaltenssequenzen
äusserst elementarer Art ihren Ausdruck findet.
Umgekehrt sind Individuen beim Bewältigen komplexer, ungewohnter,
singulärer und besonders auch innovativer Aufgaben am meisten genötigt,
zumindest phasenweise als "geschlossene Systeme" zu
funktionieren, die sich primär um die Synthese internal evozierbarer
Orientierungen (z.B. auf der Basis von Erfahrung, Intuition, logischem
Denken u.a.) bemühen und sich während dieser Zeit nach aussen hin
inkommunikativ und störungssensibel verhalten.
VI
Die verhaltensdeterminierenden Kraft kollokaler Sozialfelder wird
sekundär noch dadurch verstärkt, dass sie im subjektiven
Selbstverständnis der beteiligten Akteure und insbesondere auch der
unbeteiligten Dritten anerkannt werden und in deren Attributionsprozessen
Berücksichtigung finden.
So hat insbesondere Goffman eindrücklich darauf hingewiesen, dass
dasselbe manifeste Individualverhalten völlig gegensätzlichen kausalen
Zurechnungen unterliegt je nachdem, ob der Handelnde allein ist oder sich
in einem kollokalen "Miteinander" befindet.
Wenn ein Individuum im Zustand des Alleinseins gewisse Verhaltensweisen
vollzieht, wird es - falls es trotzdem beobachtet wird - im allgemeinen
eine dispositionale Zurechnung auf sich ziehen: so dass es acht geben
muss, nicht durch unkontrollierte Selbstgespräche, unkonventionelle
Gesten u.a. den Verdacht geistiger Abnormalität oder durch ausgiebiges
Dösen das Urteil mangelnder Tüchtigkeit zu evozieren.
Entsprechend gehört es zu den Erschwernissen im Leben der
"Singles", dass praktisch all ihre Handlungen und
Ausdruckskundgaben als Symptome ihrer persönlichen
Charaktereigenschaften, Motive, Qualifikationen, Stimmungen u.a.
aufgefasst werden und sie ständig Gefahr laufen, auf Grund zufälliger,
unkontrollierter, unrepräsentativer Einzelhandlungen auf unerwünschte,
ungünstige Weise typifiziert, ja stigmatisiert zu werden.
Im Unterschied dazu bietet die Einbettung in kollokale Gruppen allen
Beteiligten eine gewisse Entlastung von derartigen
Selbstdarstellungszwängen: weil ihr Verhalten in den Augen Dritter
primär nicht als Ausdruck ihrer Person, sondern als Korrelat einer
Gruppensituation gewertet wird: so dass sie sich risikolos in
ungezwungenen, ja selbst absonderlichen Handlungsweisen tummeln können,
ohne sich das Odium mangelnder Selbstkontrolle, psychischer Krankheit oder
intendierter Nonkonformität zuzuziehen:
"Einzelne sind noch in anderer Hinsicht als bloss in Bezug auf
Kontakte relativ unabgeschirmt: ein possenhaftes oder fragwürdiges
Benehmen wird bei ihnen strenger beurteilt als bei Mitgliedern eines
Miteinanders. Angesichts der Mitglieder eines Miteinanders wird
offensichtlich davon ausgegangen, dass die Possen, die jemand unter diesen
Umständen macht, kein Zeichen für extrem abweichendes Verhalten sind.
Deshalb sind Einzelne in stärkerem Masse als in Begleitung befindliche
Personen darum bemüht, legitime Absichten und einen legitimen Charakter
zu demonstrieren, das heisst leicht interpretierbare geeignete Fakten
über sich zur Verfügung zu stellen, die bei ihrem Anblick sofort
wahrgenommen werden können" (Goffman 1974:46).
Schäkernde Paare, fluchende Arbeitsteams, johlende Schulklassen,
dröhnende Stammtischrunden, hingerissen applaudierende Theaterzuschauer
und vom Proteststurm erfasste Volksmassen teilen miteinander die
Eigenschaft, sich beobachtenden Dritten als klar umgrenzte physische
Aggregate darzubieten und als integrierte soziale Gesamtheiten
hypostasiert zu werden, denen die Kraft zugeschrieben wird, das Verhalten
ihrer individuellen Teilnehmer (in meist nivellierender Richtung) zu
determinieren.
Wann immer Individuen bestrebt sind, ihr Verhalten von Konnotationen
der Selbstdarstellung zu entlasten, müssen sie sich zu derartigen scharf
konturierten "Miteinanders" aggregieren, um eine kollektive
(anstatt intraindividuelle) Bedingtheit ihres Verhaltens plausibel
erscheinen zu lassen.
Ganz analoge Attributionsunterschiede ergeben sich auch innerhalb der
Interaktionssysteme selbst je nachdem, ob die Partner sich im kollokalen
oder im translokalen Verhältnis zueinander befinden:
Wenn EGO und ALTER einander in ihren aktuellen Handlungsvollzügen und
wechselseitigen Reaktionen unmittelbar beobachten können, werden
situative Handlungszurechnungen stark erleichtert: weil jeder Partner
sehen kann, unter welchen Umweltbedingungen (z.B.: örtlicher Rahmen,
verfügbare Zeit, Anwesenheit Dritter usw.) der Andere handelt - und jeder
vielleicht auch nicht ignoriert, dass er selber für den Andern einen Teil
der aktuellen Umwelt bildet.
Wenn sich EGO und ALTER über zeitlich-räumliche Distanzen hinweg
verständigen und deshalb nur die Ergebnisse ihres Handelns (z.B.
geschriebene Briefe, gekaufte Geschenke etc.) anstatt die
Handlungsabläufe selbst in den Kommunikationsprozess einfliessen lassen
können, bleiben auch die partikulären situativen Umstände im Dunkeln,
die für genau dieses Handlungsresultat verantwortlich waren, und man wird
dazu neigen, sie eher als Ausdruckskundgaben innerer
Persönlichkeitsmerkmale des Akteurs zu interpretieren (vgl. dazu z.B.
Wyer 1981: 359ff.; Morre/Sherrod/Liu/Underwood 1979: 553ff.).
Denn es sind diese intrapersonellen Merkmale, die aus der Summe
vergangener Interaktionen als Invarianzen herausdestilliert werden
können, während "Situationen" immer den Charakter
partikulär-unwiederholbarer Konstellationen an sich tragen und deshalb
nicht über den Wandel von Zeit und Raum hinweg generalisiert werden
können, (vgl. Markowitz 1979: 178ff.).
Translokale, noch mehr aber alokale Sozialverhältnisse sind immer
relativ stark dekontextualisiert: reduziert auf ein perspektivenfreies
Typenbild des fernen Partners, sowie auf eine Skelettstruktur rein
interpersoneller Relationen, die unabhängig von den Zufälligkeiten je
spezifischer Situationsbedingungen Geltung haben.
So wie man sich ein perspektivenfreies Vorstellungsbild von physischen
Objekten dadurch erwirbt, dass man möglichst divergente perspektivische
Wahrnehmungen in eine "apperzeptive Synthesis" (Husserl) bringt,
wird auch der Erwerb personaler Typifikationen wahrscheinlich erleichtert,
wenn man einen Partner in möglichst unterschiedlichen kollokalen
Situationen erlebt; und die Konstruktion adäquater Gruppentypifikationen
wird begünstigt, wenn man mit möglichst verschiedenartigen
Repräsentanten solcher Kollektive interagiert.
Oder umgekehrt formuliert:
Je einförmiger, standardisierter die kollokale Situation, desto
schwieriger ist es, die dort konstituierte Beziehung auch unter
translokalen oder alokalen Bedingungen aufrechtzuerhalten: weil man damit
rechnen muss, dass alle erlebten Eindrücke vom Interaktionspartner und
seinem Verhalten stark von dieser einen Situation geprägt sind und es
deshalb unmöglich ist, daraus induktive Schlussfolgerungen auf den
"Partner an sich" oder "die Beziehung an sich" zu
ziehen. Vielleicht sind aus diesem Grunde viele Industriearbeiter oft
ausserstande, ihre auf routinisierter betrieblicher Kooperation (z.B. am
Fliessband) konstituierten Kollokalbeziehungen zu
Freundschaftsverhältnissen zu generalisieren (vgl. z.B. Blauner 1964:
109ff.).
VII
Wer in Gegenwart Anderer konsequent nur darauf ausgeht, sich selbst
möglichst "authentisch" darzustellen und seinen
Charakterdispositionen, psychischen Erlebniszuständen und Zielintentionen
kompromisslos Ausdruck zu verleihen, läuft angesichts der dichten und
grossenteils unkontrollierbaren Wechselwirkungen Gefahr, sich einerseits
allzu rigide und "unresponsiv" zu verhalten und sich
andererseits eine prinzipiell unlösbare Aufgabe zu stellen:
- Auf der Ebene physisch-kausaler Bewirkungen entstehen mannigfache
unbeabsichtigte Ereignisse (wie z.B. unangenehme Geruchsimmissionen,
versehentliches Auf-die Füsse-treten), die EGO lieber nicht als echte
Ausdruckskundgaben seiner Persönlichkeit attribuiert sehen möchte,
sondern eher als untypisch-zufällige Einzelereignisse, von denen er
sich leicht distanzieren kann: indem er z.B. behauptet, sie seien
temporären Momenten der Zerstreutheit, Unachtsamkeit etc.
zuzuschreiben.
- Auf dem Niveau des symbolisch-kommunikativer Äusserungen sieht sich
EGO vor der Situation, dass er auf Grund seiner Körpererscheinung,
seiner Mimik und Gestik etc. zwangsläufig einen dauernden breiten
Strom von Ausdruckskundgaben von sich gibt: ohne sie im einzelnen zu
überblicken oder gar zu wissen, wie andere sie deuten und darauf
reagieren.
Müsste EGO damit rechnen, dass ihm all diese wahrgenommenen (und ergo
kommunikativ wirksamen) Äusserungen als genuine Manifestationen seiner
Person zugerechnet würden, würde er einerseits einen ungeheuren
Disziplinierungsdruck, noch stärker aber ein Gefühl hilflosen
Ausgeliefertseins verspüren: beides starke Motive, um sich aus kollokalen
Situationen schleunigst zu entfernen.
Auf physischer wie auf kommunikativer Ebene müssen Teilnehmer an
kollokalen Interaktionen dazu disponiert sein, Verhaltensergebnisse und
Sinnproduktionen hinzunehmen, die aus ihren Wechselwirkungen emergieren,
ohne dass individuell zurechenbare Einzelbestandteile identifiziert werden
können. Diese Tendenz wird durch die oben erwähnte Neigung Dritter noch
gestützt, die im kollokalen System erzeugten Verhaltensweisen
"situativ" (d.h. dem Interaktionszusammenhang als Ganzem)
zuzurechnen (vgl. VI)
So entsteht bei EGO ein starkes Interesse, sowohl das Fremdbild, das
Andere von ihm haben, wie auch das Selbstbild, das er von sich selber hat,
gegenüber solch unkontrollierbar-variablen Einflüssen zu immunisieren.
Denn wenn die Hypothese von Bem zutrifft, dass Individuen ihr Selbstbild
durch Beobachtung ihres eigenen Handelns gewinnen (vgl. Bem 1967), so ist
nicht nur die Konsistenz der äusseren Selbstdarstellung, sondern auch die
Aufrechterhaltung einer stabilen Eigenidentität bedroht, wenn das
Individuum sich gegenüber den Frembestimmtheiten eines kollokalen
Interaktionsfeldes exponiert.
Um "Person" und "Verhalten" hinlänglich
voneinander zu dissozieren, muss EGO also sowohl sich selbst wie andere
glauben machen, dass es nicht mit dem vollen Engagement all seiner
Motivationen und Fähigkeiten, sondern nur mit einem abgespaltenen, ja
eher untypischen und gleichgültig-trivialen Teil seiner Persönlichkeit
daran partizipiert.
Einen ex post wirksamen Dissoziationsmechanismus dieser Art kann man
bei sogenannten "Entschuldigungen" finden, wie sie (als
"korrektive Rituale") zur Restituierung sozialer Harmonie nach
irgendwelchen "Versehen" ausgesprochen werden. Der Akteur
übernimmt dabei zwar einerseits die Verantwortung für sein Handeln,
usurpiert dabei aber die Position eines "besseren",
"echteren" Ich, um das Ich, das vorher falsch gehandelt hat, in
Distanz zu rücken und als unauthentisch oder uncharakteristisch
("ich habe mich geirrt", "ich habe die Kontrolle über mich
verloren") zu disqualifizieren:
"Eine Entschuldigung ist eine Geste, durch die ein Individuum sich
in zwei Teile spaltet, in einen Teil, der sich eines Vergehens schuldig
gemacht hat, und in einen Teil, der sich vom Delikt distanziert und die
Anerkennung der verletzten Regel bestätigt." (Goffman,
1974:161-162).
Im Gegensatz zu dieser diachronen Ich-Differenzierung ist im Falle von
Rollendistanz ein synchrones Doppelspiel charakteristisch, das dazu dient,
aktuell vollzogene Handlungssequenzen von intrinsischen
Ausdruckskonnotationen über die handelnde Person zu entlasten: Das
herangewachsene Kind auf dem Karussell, der alternde ewige Student im
Prüfungszimmer, der weit erfahrenere Untergebene gegenüber dem
blutjungen Chef - sie alle pflegen die mit ihrer primären Rolle
verbundenen Handlungssequenzen makellos zu erfüllen, gleichzeitig aber
durch einen sekundären Strom distanzierend-relativierender Kundgaben
mitzuteilen, dass sie das Rollenhandeln nicht als Ausdruck ihrer
"wahren Identität" (bzw. nicht als die von ihnen bevorzugte
Weise sozialer Selbstdarstellung) verstanden wissen möchten.
Wann immer eine Person durch offensichtliches "Flachsen" und
clownesk-unernstes Benehmen signalisiert, dass sie sich momentan von
Pflichten verbindlicher Selbstdarstellung distanziert hat und sich
"ausserhalb" ihrer normalen Identität befindet, wird sie im
kollokalen Umfeld als besonders zugänglich angesehen:
"In unserer Gesellschaft nehmen sich (falls sie es nicht bekommen)
jene Menschen das Recht, sich jemandem zu nähern oder dessen Annäherung
zuzulassen, die sich eine Zeitlang ausserhalb ihrer Rolle befinden. Hier
ist die Freiheit, unangemessenen Kontakt aufzunehmen, nur Teil jenes
Syndroms von Freiheit, das einhergeht mit Anonymität, und zwar in dem
Sinne, dass ein Mensch, der ein fremdes Ich sich projiziert, nicht
verantwortlich ist für das Wohlverhalten dieses Ichs." (Goffman,
1971: 126).
Zu den Risiken kollokalen Interagierens gehört die Gefahr, dass
Individuen im Zuge solcher Selbstentäusserungen zu Handlungen genötigt
werden, die - obwohl durch intraindividuelle Motivationen und Intentionen
unzureichend abgestützt - nachher als verbindliche Äusserungen der
Person zugerechnet werden: z.B. wenn man sie durch Überzeugungsarbeit
dahin bringt, folgenschwere Kaufverträge zu unterzeichnen oder in
Gegenwart Dritter feierliche Versprechungen abzugeben.
Andererseits liegt die immense Funktionalität von
Verhandlungsverfahren darin begründet, dass diese Effekte auch zur
Aufweichung verhärteter Konfliktfronten und zur Erzielung von
Kompromisslösungen mobilisiert werden können: indem man die Teilnehmer
dazu nötigt, kollokal induzierte Verständigungs- und
Kooperationsangebote als verbindliche, irreversible Modifikationen ihrer
"Interessenstandpunkte" zu akzeptieren.
Die im Medium der Kollokalität vorangetriebene Verselbständigung der
Verhaltensebene impliziert häufig auch, dass Handlungen nicht nur vom
Persönlichkeitssystem, sondern auch von der sozialen Statuskonfiguration
eines Akteurs weitgehend losgekoppelt werden: weil im dichten
Interdependenzfeld häufig sehr schwerwiegende Störungen und völlig
unbeabsichtigte Nebenfolgen auftreten, wenn jeder Teilnehmer ohne
Anpassungsbereitschaft auf der vollen Ausschöpfung der ihm statusmässig
zustehenden Privilegien, Kontrollkompetenzen, Gehorsamspflichten usw.
insistiert.
So besteht laut Goffman in medizinischen Operationsteams ein starker
Druck, dass der vorgesetzte Chefchirurg im Interesse der Erhaltung der
Gruppensolidarität und Gruppenmotivation partiell auf die Ausübung
seiner formellen Überwachungs- und Sanktionskompetenz verzichtet: weil
scharfe Zurechtweisungen unmittelbar begangener Fehler kumulative
Verängstigungen und emotionale Gegenreaktionen erzeugen würden, die mit
der Aufrechterhaltung flexibler, speditiver Kooperation unvereinbar
wären:
"Tatsächlich können wir erwarten, dass der Vorgesetzte umso
informeller und freundlicher wird, je mehr vom Untergebenen an
Subtilität, Geschick und reiner Aufmerksamkeit verlangt wird. Wenn eine
Person in einer Aufgabe so arbeiten soll, als wäre sie Teil einer anderen
Person, in eine Rückkoppelung einbezogen, die man gewöhnlich in dieser
Schnelligkeit nur für eigenes Handeln hat, dann muss hier offenbar eine
positive Beziehung zu dem bestehen, der befiehlt, denn solche
Kooperationswilligkeit kann viel leichter gewonnen als erzwungen
werden" (Goffman, 1972:131).
Die Vermeidung sowohl personenbezogener wie auch statusbezogener
Ausdruckskonnotationen im kollokalen Verhalten ist umso dringlicher, je
mehr die Teilnehmer mangels bereits vorgängig etablierter Typifikationen
darauf angewiesen sind, sich bei der Konstruktion von Personen- oder
Statusbildern vom konkreten Verhalten des jeweiligen Akteurs leiten zu
lassen.
Oder anders gesagt: EGO muss sich um Rollendistanz oder andere
dissoziative Mechanismen nicht bemühen, wenn es sicher ist, dass seine
Zuschauer bereits auf Grund früherer Interaktionserfahrungen ein so
klares und verfestigtes Bild von ihm besitzen, dass sie sein jetziges
Fehlverhalten nicht als Anlass für eine ihm unerwünschte Umetikettierung
benutzen werden; oder wenn es in einer derart heteronom fixierten (z.B.
formell standardisierten) Situation operiert, dass niemand auf die Idee
kommt, ihn für sein Verhalten persönlich haftbar zu machen.
Daraus folgt beispielsweise, dass Phänomene der Selbstdezentrierung
und "Rollendistanzierung" einerseits in Kreisen sehr autonom
agierender Personen (z.B. Eliten) und andererseits in relativ
neuartig-einmaligen Begegnungssituationen sowie notorisch
"unternormierten" Rollenverhältnissen (z.B. beim Bewältigen
unstrukturierter, komplexer Einzelaufgaben) ihre maximale Ausprägung
finden (vgl. Goffman 1972: 75ff.).
IIX
Aus dem inversen Verhältnis zwischen Kollokalität und dem Bedarf an
internalen Repräsentationen kann man die weitere wichtige
Schlussfolgerung ziehen, dass die Leistungseigenschaften des psychischen
Persönlichkeitssystems darüber entscheiden, inwiefern ein Individuum in
der Lage ist, zu entfernten Partnern translokale oder alokale Beziehungen
aufrechtzuerhalten oder sich auf referentielle Weise (anstatt via konkrete
Nahinteraktionen) in ein Gruppenkollektiv zu integrieren.
So mögen selbst höhere Tiere nur beschränkt in der Lage sein, von
partikulären Artgenossen individualspezifische Vorstellungen zu
generieren und während deren Abwesenheit nach Belieben zu reaktivieren.
Und die Fähigkeit zur internalen Repräsentation von Beziehungen und von
Kollektiven scheint selbst den höchsten Primatengattungen zu fehlen, weil
sie ausserstande sind, die dazu notwendigen symbolischen Typifikationen zu
erzeugen und zu erlernen.
So ist die Tiersoziologie dazu disponiert, sich vorwiegend als
Forschungsfeld kollokaler Wechselwirkungen und Interaktionen zu
etablieren: nicht nur aus dem methodologischen Grund, dass Tiere über
ihre Gedanken an Abwesende oder ihre kollektiven Identifikationen keine
Auskunft zu geben vermögen, sondern auch aus dem substantiven Grund: dass
sich das Individualverhalten aus den Kräften, die innerhalb solcher
Kollokalfelder wirken, befriedigend erklärt (vgl.
Lindesmith/Strauss/Denzin 1975: 75;87).
Und bei menschlichen Individuen ist zu beachten, dass jedes Kleinkind
lebensnotwendig auf die kollokalen Beziehungen zur Mutter oder andern
Bezugspersonen verwiesen ist, um seine primären senso-motorischen
Fähigkeiten und sozialen Interaktionsweisen zu erlernen; und dass es erst
in fortgeschrittenen ontogenetischen Reifestadien internale symbolische
Vorstellungen ausbildet, die es nach Belieben aktivieren kann, um sich auf
abwesende Personen oder umfassendere Gruppenkollektive zu beziehen und
sich gegenüber dem sinnlichen Erlebnisfeld des Hier und Jetzt zu
emanzipieren.
Kleinere Kinder pflegen ihre Konstrukte von fremden Personen an
äusserlichen Erscheinungsmerkmalen (Körpergrösse u.a.) oder äusseren
Verhaltensweisen ("rangelt viel", "kann gut kämpfen")
festzumachen, die die Sphäre des Wahrnehmbaren nicht viel überschreiten
und deshalb auch kein grosses "implikatives Potential"
enthalten, um von den kollokalen Erlebnisinhalten mit der Person auf deren
Eigenschaften und Tätigkeiten in absentiam zu schliessen. Erst später (
besonders während der Adoleszenz) tendieren sie dazu, Personenkonstrukte
in generalisierten psychologischen Kategorien zu verankern: in
Eigenschaften wie "Freundlichkeit", "Eitelkeit",
"Ehrgeiz", "Schüchternheit", die im konkreten
Verhalten nur partiell und situativ vermittelt zum Ausdruck kommen und
deshalb den Bereich des empirisch Gegebenen notwendigerweise weit
transzendieren (vgl. Scarlett/Press/Crockett 1971; Little 1968; Duck
1973).
Diese Ausdifferenziertheit gegenüber der empirischen Wahrnehmungsbasis
ist die Voraussetzung dafür, um auch zu abwesenden Personen ein
(translokales oder alokales) Sozialverhältnis aufrechtzuerhalten: weil
man ohne Benutzung generalisierter Konstrukte kaum wissen kann, wie eine
ferne Person unter bestimmten situativen Bedingungen (z.B. wenn sie meinen
Brief erhält oder wenn sie sich getrennt von mir fühlt) erlebt und
handelt, und welche Art von personaler Identität sie über alle
situativen Wechselfälle hinweg aufrechterhält (vgl. Adams-Webber
1979:199).
Sozialisationstechnisch mag ein bestimmtes Oszillieren zwischen
kollokalen und alokalen Phasen optimal sein, um die Fähigkeit zum
selbstreferentiellen Umgang mit symbolischen Personen- und
Sozialtypifikationen zu trainieren: z.B. indem das Verlangen nach der
soeben weggegangenen Mutter das Kind dazu motiviert, ihre Realpräsenz
durch eine imaginierte Virtualpräsenz zu ersetzen (Flavell 1963: 62ff.);
oder wenn die beruflich erzwungene Abwesenheit vom Geburtsort nostalgisch
verklärte Vorstellungen von der "Heimat" oder dem
"Elternhaus" induziert, die dazu motivieren, kulturelle
Traditionen des Herkunftskontextes auch in der Fremde weiterzupflegen oder
eine allfällige Remigration in Aussicht zu nehmen (vgl. Treinen 1965)
Umgekehrt mag der unablässige Aufenthalt in denselben kollokalen
Kontexten sehr wohl eine gewisse Atrophie derartiger referentieller
Fähigkeiten bewirken und im Grenzfall jenen als
"Diskulturation" bezeichneten Entdifferenzierungsprozess des
Persönlichkeitssystems mit sich bringen, der in "totalen
Institutionen" beobachtet werden kann (vgl. Goffman 1973: 24ff.).
|