Ein theoretischer Integrationsversuch
(29 Dezember 1996)
DRITTES KAPITEL:
"SINNLICHE WAHRNEHMUNG" ALS
MEDIUM SYSTEMISCHER AUSDIFFERENZIERUNG UND INTEGRATION
3.6 Die gemeinsame äussere Umwelt als Quelle
sozialer Strukturierung
Je enger Individuen räumlich zusammenrücken und je dauerhafter sie
dies tun, desto grösser ist die Chance, dass sie vielerlei Dinge und
Ereignisse ihrer äusseren Umwelt in gleicher Form, zum selben Zeitpunkt
und aus ähnlicher Perspektive erleben, und dass es ihnen mittels
wechselseitiger Wahrnehmung und Kommunikation gelingt, sich über diesen
Fundus an intersubjektiven Gemeinsamkeiten zu vergewissern.
Interindividuelle Verständigungsprozesse über subjektive sinnliche
Erfahrungen haben nun die einzigartige Bedeutung, dass sie in drei völlig
verschiedenen Hinsichten zum Aufbau von Struktur verwendet werden können:
- Sie helfen mit bei der Konstitution von Strukturen der objektiven
Wirklichkeit: insofern interindividuell konvergierende Perzeptionen
darauf verweisen, dass sie nicht in subjektiven Projektionen, sondern
in einer übersubjektiv geltenden Sphäre gegenständlicher Realität
ihren Ursprung haben.
- Sie ermöglichen Prozesse der Selbst- und Fremdzurechnung, wie sie
beim sozialen Aufbau von Persönlichkeitsstrukturen notwendig sind:
insofern die Individuen aus der Tatsache, dass sie auf identische
sinnliche Erfahrungen verschiedenartig reagieren, informative Hinweise
auf individuelle Besonderheiten der Wahrnehmungsfähigkeit,
Erlebnisverarbeitung, Interessenlage oder emotionalen Sensibilität
u.a. entnehmen können.
- Sie können zur Katalyse sozialer Strukturbildungen Verwendung
finden: z.B. wenn gemeinsam erlebte Zustände oder Ereignisse der
äussern Umwelt die Selektion eines konsensual akzeptierten
Gesprächsthemas oder die Konstitution einer gruppenspezifischen
Identitätsbasis erleichtern, oder wenn sich aus ihnen konsensuale
Problemdefinitionen und daraufhin zugeordnete soziale
Lösungsverfahren (Verhaltensnormen, Rollendifferenzierungen,
Koordinationsweisen u.a.) herleiten lassen.
Im Extremfall können gemeinsam erlebte Umweltereignisse die konstitutive
Ursache dafür sein, dass Individuen, deren kollokales Sozialverhältnis
sich bisher auf wechselseitige Wahrnehmungen beschränkt hat, miteinander
in intensive Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen treten: z.B. wenn
Betroffene einer Erdbeben- oder Flutkatastrophe sich in Windeseile zu ad
hoc konstitutierter Nachbarschaftshilfe bereit finden, zufällige Zeugen
eines Unfalls sich rasch auf gemeinsame Hilfeleistung verständigen (vgl.
Darley/Teger/Lewis 1973), oder wenn Sitznachbarn im steckengebliebenen
Eisenbahnzug - die wachsende Unruhe im Gesicht des jeweils andern
wahrnehmend - eine zunehmende Nötigung spüren, ihren Unmut über die
unerträgliche Verspätung im Gespräch zu thematisieren.
Diese drei Illustrationsbeispiele legen den Schluss nahe, dass es
häufig eher negative Ereignisse (Enttäuschungen wie Überraschungen)
sind, die die grösste "soziogene" Wirkung entfalten. Die
Gründe dafür liegen wahrscheinlich darin,
- dass man sich über den unerwünschten oder unheilvollen Charakter
negativ bewerteter Geschehnisse im sozialen Kreis oft besonders leicht
verständigen kann, weil diese sich meist gegenüber äusserst
konsensualen Normalitätserwartungen (dass die Dinge ihren üblichen,
mässig-positiven Verlauf nehmen) oder wenigstens gegenüber dem
strukturierten Wunsch, dass "alles gut gehe", profilieren;
- dass Missgeschicke oder Unglücksfälle häufig einen Bedarf nach
Interaktion (z.B. zum Zwecke der Korrektur, Hilfeleistung u.a.)
nahelegen, oder das teilnehmende Interesse "unbeteiligter
Dritter" zumindest stark legitimieren.
Positive Ereignisse hingegen sind als Anknüpfungspunkte für soziale
Interaktion selbst dann nicht sehr geeignet, wenn sie sich durch ihren
überraschenden und beglückenden Charakter gegenüber dem Rahmen des
Gewohnten scharf profilieren: Weil verschiedene Individuen ihnen je nach
ihren subjektiven Wünschen und Hoffnungen einen unterschiedlichen
Satisfaktionswert beimessen, und weil ihr Eintritt oft gerade zur Folge
hat, dass sich der Bedarf nach zielgerichtetem sozialen Handeln (zum
Zwecke der Bedürfniserfüllung oder Problemlösung) verringert.
Bei bereits interagierenden kollokalen Personen ist die gemeinsame
Umwelt ständig als "kognitive Ressource" verfügbar, um den
fortlaufenden Kommunikationsprozess mit konsensfähigen Themen oder das
kooperative Interaktionsgefüge mit konsensfähigen Problemdefinitionen
und Aufgabenstellungen zu alimentieren.
Diese vom "Eigenrecht der Situation" (vgl. Luhmann 1964)
herrührenden Orientierungen überlagern und neutralisieren dann sehr
häufig die Realitätsdefinitionen oder normativen Zumutungen, wie sie aus
der alokalen Sphäre der Organisationen und Institutionen an das
Kollokalsystem herangetragen werden: z.B. wenn Kampftruppen sich im
Gefecht eher vom direkt wahrgenommenen Feindverhalten anstatt den
Weisungen hoher Offiziere leiten lassen oder Dorfpfarrer oder
Ortspolizisten sich den "Realitäten ihres lokalen Kontextes"
durch Verhaltenspraktiken anpassen, die mit den formalen Normen ihrer
Institution im eklatanten Diskrepanzverhältnis stehen (vgl. Lipsky 1976).
In dem Masse, wie die Mitglieder eines Kollektivs ihr soziales Handeln
an gemeinsamen sinnlichen Primärerfahrungen festmachen können, gewinnen
sie einen Hebel, um sich vom "Import" institutionell
verfestigter Orientierungsangebote unabhängiger zu machen oder sich
derartigen Oktroyationen gar zum vornherein zu verschliessen.
So sind die Bürger kleinerer Gemeinden nach wie vor wenig auf
Empfehlungen politischer Parteien angewiesen, um sich bei Wahlen und
Abstimmungen ein sicheres Urteil zu bilden, weil sie die Kandidaten aus
eigener Anschauung kennen und sich über die konkrete Natur bestimmter
Sachfragen (sowie die allfälligen Konsequenzen verschiedener Lösungen)
"vor Ort" ein Bild machen können (vgl. König 1958: 45;
Arzberger 1980:16; Jennings/Niemi 1966).
Im Falle von "Katastrophen" kann diese exogene
Strukturierungskraft des Positiv-Faktischen ein unüberbietbares Maximum
erreichen und den Charakter absoluter Unabweisbarkeit erhalten. Der
kollektive Zusammenhalt wird in solchen Fällen völlig dadurch
hergestellt, dass es auch ohne die Orientierungskraft sozialer Normen,
Führung oder Autorität eine absolut dominierende Thematik gibt, auf die
alle ihre gesamte Aufmerksamkeit fokussieren und über die alle
miteinander sprechen; und ein einziger, absolut vorrangiger Gesichtspunkt,
unter dem alle Aktivitäten, Interaktionsprozesse und sozialen
Verhältnisse seligiert und bewertet werden. Zumindest temporär können
ex ante bestehende Status- und Rollendifferenzierungen ausser Kraft
gesetzt werden und einer universellen Nivellierung Platz machen, wie sie
sich aus der identischen biologischen Bedrohtheit und Schutzbedürftigkeit
aller menschlichen Individuen (gegenüber Flutwellen, Erdbeben,
Gammastrahlen u.a.) ergibt. Daraus wird beispielsweise auch verständlich,
warum militärische Rangdifferenzierungen in der kriegerischen
Gefechtssituation zugunsten einer "Solidaritätsgemeinschaft"
der Soldaten und Offiziere an Bedeutung verlieren (vgl. Lang 1965:
856ff.), oder warum Bergarbeiter unter Tage relativ egalitäre
Gemeinschaftsstrukturen ausbilden, während in den gefahrenfreieren
Arbeitsstätten "über Tage" stark vertikalisierte
Hierarchieverhältnisse vorherrschend sind (Gouldner 1954).
In all diesen Fällen haben die Problemlagen der Umwelt dank ihrer
"Monofokalität" einerseits und ihrer unabweisbaren Evidenz und
Dringlichkeit andererseits die Funktion, monozentrische soziale
Strukturformen (Führungsrollen, Autoritätspositionen, hierarchische
Leitungsspitzen) teilweise oder ganz zu substituieren: weil es auch ohne
diese Mechanismen sozialer Orientierung, Selektivität und Kontrolle
gelingt, ein hohes Niveau geordneter, zielzentrierter Kooperation zu
realisieren.
Die doppelte "subversive Kraft" sinnlicher Primärerfahrung
in allen gesellschaftlichen Institutionen beruht darauf, dass
- jedes Individuum in seiner Selbstreferenz dazu neigt, zuallererst
seinen eigenen Sinnen zu trauen und sich von den selbst erlebten
Ereignissen seiner Nahwelt tief beeindrucken zu lassen;
- konvergierende sinnliche Erlebnisse eine äusserst leicht
zugängliche und stabile Basis für konsensuale Verständigung
darstellen, und durch diese intersubjektive Vergewisserung wiederum
für jeden Einzelnen an Validität gewinnen.
Institutionen unterscheiden sich drastisch nach dem Ausmass, in dem sie
diese in ständiger Neu- und Umbildung begriffene
"Basisvegetation" situativ bedingter Strukturbildungen
unterdrücken und bekämpfen, ihr neben alokal generalisierten Strukturen
Raum gewähren oder sich gar völlig von ihnen penetrieren und steuern
lassen.
Am einen Extrempunkt finden sich äusserst normative Institutionen wie
die Kirche oder die staatliche Rechtsordnung, bei denen idiosynkratische
lokale Subkulturen vorwiegend als zu vermeidende und zu eliminierende
Störeinflüsse angesehen werden, die die Geltungsreichweite der
universellen Normen und Verfahrensweisen unterminieren.
Im mittleren Bereich des Spektrums befinden sich z.B.
Industriebetriebe, wo situationsunabhängig festgelegte
Organisationsstrukturen und Verhaltensregeln ständig mit erfahrungs- und
kenntnisgeleiteten Orientierungen (insbesondere im operativ-technischen
Bereich) in spannungsvolle Wechselwirkung treten; oder die Institution der
Wissenschaft, die geradezu darauf hin angelegt ist, ein dynamisches
Wechselspiel zwischen der universellen Sphäre generalisierter Begriffe
und Theorien und der partikulären Welt empirischer Daten in Gang zu
halten.
Am äussersten Gegenpol zu Kirche oder Recht befinden sich rein
technisch-zweckorientierte Institutionen, die sich im Interesse effektiver
Problemlösung gegenüber empirischer Erfahrung uneingeschränkt offen
halten und den Kollokalsystemen, die sinnliche Erfahrung in soziale
Erfahrungen und Handlungen umsetzen, maximalen Entfaltungsspielraum
gewähren.
So ist es in gewissen Bereichen der kurativen Medizin üblich, die
sozialen Kooperationsstrukturen streng der Optimierung von Therapiechancen
unterzuordnen: ganz besonders in der Chirurgie, wo gerade nicht
ehrfurchtheischende Entscheidungszentralen, sondern "gut eingespielte
Operationsteams" die strukturellen Zentren darstellen, in denen die
Werte und Ziele der Institutionen am prägnantesten zum Ausdruck
kommen.(Goffman 1972: 115ff.)
Die Qualifikation derartiger Teams bemisst sich nach der Fähigkeit all
ihrer Teilnehmer, gemeinsam wahrgenommene Situationsbedingungen und
Ereignisse (wie z.B.: Pulsschlag oder Herzrhythmus des Patienten) als
"Strukturgeber" für individuelles Rollenhandeln und kollektives
Kooperationsverhalten zu verwenden: indem jeder Beteiligte ohne weitere
verbale Kommunikation weiss, um was für eine Problemkonstellation es sich
handelt und was er an seiner Stelle tun muss, um zu ihrer Lösung
beizutragen:
"Wenn ein Chirurgenteam lange genug zusammengearbeitet hat, um
wirklich Teamarbeit leisten zu können, hat jedes Mitglied die
Gesamtsituation und seine Rolle in ihr so im Griff, dass die Bedürfnisse
des Patienten eindeutige Anweisungen erteilen. Eine Nebenarterie ist
durchschnitten, das Blut spritzt heraus. Die Blutung erteilt allen drei
Mitgliedern des Teams gleichzeitig einen Befehl, alle haben nämlich den
Verlauf der Operation mit gleicher Aufmerksamkeit verfolgt. Dem Chirurgen
sagt die Blutung: "Nimm Deine Hände weg, bis das hier unter
Kontrolle ist", an die Instrumentenschwester ergeht die Aufforderung
"Tupfer bereithalten" und an den Assistenten
"Abklemmen".
Hier handelt es sich um die höchste und wirksamste Art von
Kooperation, die wir kennen. Sie ist so effizient, dass alles ganz
einfach, ja primitiv aussieht, Sie ist nur dort möglich, wo jedes
Mitglied des Teams nicht nur seine Aufgabe durch und durch kennt, sondern
auch genug von der gesamten Arbeit versteht, um den Bezug dessen, was er
tut, zu allem, was sonst geschieht, zu sehen." (Burling 1955:10/11).
Im Amalgam mit institutionell vorgegebenen Strukturen
(Rollenverteilungen, technischen Ausrüstungen und Instrumenten, erlernte
Kunstgriffen u.a.). erzeugen die hinzutretenden situativen Stimuli einen
derart hohen Spezialitätsgrad der Strukturierung, dass alle Beteiligten
ohne verbale Kommunikation augenblicklich völlig präzise wissen, was sie
selber tun müssen, was jeder andere tun wird und von ihnen zu tun
erwartet.
Ein derartiges Sozialsystem lässt sich besten Wortsinne als ein
"kollektiver Akteur" bezeichnen, der hinsichtlich seiner
Reaktionsfähigkeit, effizienten Zielstrebigkeit und Koordiniertheit der
Einzelhandlungen den Leistungen eines allein arbeitenden Individuums kaum
nachsteht, dieses aber hinsichtlich
- der Vielfalt von Wahrnehmungen und Urteilen, die in den
Handlungsprozess eingehen,
- der Fülle des in der Handlungssituation verfügbaren Wissen und
Könnens,
- der Quantität und Vielfalt der innerhalb eines bestimmten
Zeitabschnitts ausgeführten Handlungen
bei weitem übertrifft.
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