UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
 

Prof. Hans Geser 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29. Dezember 1996)

 


 

ZWEITES KAPITEL:

DIE KOMPLEXE MEHREBENENSTRUKTUR KOLLOKALER INTERAKTION


2.1 Fünf Systemniveaus interpersoneller Wechselwirkungen

Im Vergleich zu anderen empirischen Objekten zeichnet sich das menschliche Individuum dadurch aus, dass es gleichzeitig auf einer unübertroffen grossen Zahl verschiedener Seinsebenen und Systemniveaus existiert:

  1. Als physisches Ding, das wie alle lebenden und toten Gegenstände in räumlich-zeitlichen Koordinaten lokalisierbar und in objektiven Termini von Masse, Gewicht, chemischer Zusammensetzung u.a. beschreibbar ist. Dies ist die niedrigste, selbstgenügsamste Ebene seiner Existenz, die ungeachtet seiner "höheren" Funktionen lebenslänglich persistiert und meist auch sein biologisches Ableben eine Zeitlang überdauert.
  2. Als lebender Organismus, der wie alle Metazoen auf der Basis einer genetisch fixierten Anatomie und Physiologie atmet, Nahrung aufnimmt, Residualstoffe ausscheidet, einer charakteristischen Sequenz von Reifungs- und Alterungsphasen unterliegt und sich an der Reproduktion seiner Gattung mitbeteiligt.
  3. Als Träger sensorischer Wahrnehmungs- und motorischer Verhaltenskapazitäten, mit deren Hilfe er in der Lage ist, sich zu seiner Umwelt wie auch zu sich selbst in ein eigenselektives Verhältnis zu setzen.
  4. Als Akteur mit der Fähigkeit zu sinnhaftem Erleben und Handeln, der seine Wahrnehmungen und Verhaltensweisen in einen autonom konstituierten Horizont von Bedeutungen und Verweisungen integriert, mit Zeichen und Symbolen umgehen kann und sich durch prospektive Zwecksetzungen einerseits und retrospektives Erinnern andererseits von unmittelbaren Aktualgegebenheiten emanzipiert.
  5. Als kommunikations- und räsonnierfähiges Subjekt, das im Medium der Sprache in der Lage ist, eine unbegrenzte Vielfalt von sinnvollen Aussagen zu formulieren und mit anderen Subjekten in diskursive Reflexions- und Verständigungsprozesse zu treten.
Mit der Vorsicht, die bei überwiegend induktiv gewonnenen empirischen Verallgemeinerungen immer am Platze ist, lassen sich hinsichtlich der Verhältnisse, in denen diese fünf Ebenen zueinander stehen, die vier folgenden Gesetzmässigkeiten formulieren:
  1. Einseitiges Fundierungsverhältnis "von unten"

  2. Während jede niedrigere Ebene unabhängig von allen höheren persistieren kann, so setzt jedes höhere Niveau das adäquate Funktionieren aller niedrigeren Niveaus als notwendige Bedingung voraus. So findet man sehr wohl, dass physische Gegenständlichkeit ohne Leben, Leben ohne Sensomotorik, Sensomotorik ohne Sinn und Sinn ohne Sprache einhergehen kann, während das Umgekehrte in keiner Weise gilt.
    Als Korrelat ergibt sich die Hypothese, dass die Gesetzmässigkeiten einer jeden Ebene für alle höheren Niveaus unverbrüchliche Gültigkeit besitzen: so dass nichts Biologisches auftreten kann, was physikalischen Kausalgesetzen widerspricht und kein intentionales Handeln vorkommt, das die Restriktionen physiologischer und sensomotorischer Prozesse nicht respektiert.

     

  3. Wachsende Variabilität, Unvorhersehbarkeit und Temporalisierung

  4. Während für die Erfassung niedriger Ebenen relativ simple und deterministische Modelle physikalisch-chemischer Gesetzmässigkeit hinreichend sind, müssen auf höheren Niveaus immer grössere Spielräume der Variabilität und Unkalkulierbarkeit in Rechnung gestellt werden, die mit den hohen Freiheitsgraden senso-motorischer Abläufe und sinnhafter Deutungsmuster zusammenhängen und in der grenzenlosen Freiheit und Unvoraussagbarkeit sprachlicher Satz- und Textkonstruktionen - die auch Abwesendes, Vergangenes, Zukünftig erwartbares, nur Mögliches, ja sogar das Unmögliche thematisieren können - ihr unüberbietbares Maximum erreichen.  Vor allem muss ein Anwachsen an Temporalisierung und Irreversibilisierung in Betracht gezogen werden: in dem Sinne, dass sich die Systemkomplexität immer mehr in diachronen Abläufen anstatt im synchronen Zusammenspiel differenzierter Systemkomponenten manifestiert (vgl. Luhmann, 1984) und sich das System zunehmend "historisiert", weil jeder Ablauf die Bedeutung aller früheren und die Bedingungen für alle nachfolgenden Prozesse verändert.

     

  5. Wachsende Eigenselektivität und Intentionalisierung

  6. Hinsichtlich seiner niedrigeren Existenzebenen sieht sich der Mensch völlig exogenen, seiner Manipulation unzugänglichen Wirkungszusammenhängen ausgeliefert: er kann sich niemals aus seiner physischen und biologischen Körperlichkeit befreien und findet es äusserst schwer, gewisse "unwillkürliche" Vorgänge der Sensomotorik (z.B. die Wahrnehmung aufdringlicher Gerüche oder den Vollzug habitualisierter Bewegungen) zu unterdrücken.
    Auf höheren Niveaus finden menschliche Personen sich selbst und die anderen als autonome Subjekte vor, die frei darüber verfügen, ob sie das höhere Steuerungsniveau überhaupt aktivieren wollen, und welche der unendlich vielfältigen Spezifikationsmöglichkeiten sie wählen. Am ausgeprägtesten zeigt sich diese Autonomie im Sprachverhalten, bei dem "Reden" und "Schweigen" immer prinzipiell gleich zugängliche Alternativen verfügbar sind: so dass dem Sprecher normalerweise sowohl die Tatsache, dass er gesprochen hat, wie auch die spezifischen Inhalte seiner Rede als selbstgewähltes, zu verantwortendes Handeln zugerechnet werden (vgl. Luhmann 1972).

     

  7. Semantische Spezifikation und koordinative Steuerung "von oben"

  8. Ist jede Systemebene einerseits an die Bestandesbedingungen und Gesetzmässigkeiten aller sie fundierenden niedrigeren Ebenen gebunden, so vermag sie andererseits doch diese inferioren Niveaus teilweise mit ihrer autonomen Selektivität zu penetrieren und ihnen zu einem relativ unwahrscheinlichen Zustand geordneter Komplexität zu verhelfen. So muss die chemische Zusammensetzung eines Organismus weitgehend als Produkt biologischer Vorgänge der Stoffumwandlung (Metabolismus, Sekretion u.a.) verstanden werden, während Tiere durch ihr Verhalten sowohl auf den räumlichen Standort ihres Körpers wie auf mannigfache physiologische Vorgänge (Nervenreizung, Muskelkontraktion, Hormonausschüttungen) Einfluss nehmen können; und Menschen schliesslich sind zweifellos in der Lage, ihre Verhaltensweisen unter dem Gesichtspunkt zweckgerichteter Handlungsentwürfe selektiv zu organisieren und zumindest einen Teil dieser Handlungen in überindividuell organisierte Handlungssysteme zu integrieren.

    Ein weiteres "abwärtsgerichtetes" Bedingungsverhältnis betrifft die Prozesse semantischer Spezifikation. Weil die Zustandsformen auf den niedrigen Niveaus auf Grund ihrer geringen Differenzierbarkeit nur wenig "immanente Information" mit sich tragen, müssen sie ihren präzisen Sinn von einem auf übergeordnetem Niveau konstituierten semantischen Kontext zugewiesen erhalten. Beispielsweise ist die blosse Anwesenheit an einem Ort so wenig informativ, dass ihre Bedeutung nur durch die dort vollzogenen Verhaltensweisen schärfere Konturen gewinnt; und das Repertoire an Gesten ist so beschränkt, dass es einer meist sprachlich explizierbaren Normierung (Anstandscode, Spielkonventionen, Verkehrsregeln u.a. bedarf, um ihre eindeutige und konsensuale Interpretationsweise zu sichern (vgl. 2.2.4).

  Unter "Kollokalität" kann nun exakter als oben jene Situation verstanden werden, in der zwei oder mehr menschliche Personen auf Grund gleichzeitiger Anwesenheit im selben Raumabschnitt auf jeden Fall auf der Ebene physischer Körperlichkeit und senso-motorischer Prozesse, meistens aber zusätzlich auch auf höheren Systemniveaus in Wechselwirkung treten. Der unverbindliche (dafür analytisch allerdings sehr unscharfe) Simmel'sche Begriff der "Wechselwirkung" (Simmel 1908c) mag am besten die ganze Vielfalt möglicher Interrelationen einbegreifen, die sich vom rein physikalisch bedingten Übereinanderpurzeln im Strassenbus über den Austausch von Blicken und sexuellen Streicheleinheiten bis zur Rede und Gegenrede im sprachlichen Diskurs erstrecken.

Die fundamentalen Grundlinien einer "allgemeinen Theorie menschlicher Kollokalität" werden bereits deutlich sichtbar, wenn man die soeben formulierten Basishypothesen über Zusammenhänge zwischen den fünf Systemebenen heranzieht, um daraus einige durchaus inhaltsreiche Propositionen über die Struktur interpersoneller Kollokalverhältnisse zu deduzieren.

Aus dem ersten Prinzip (der asymmetrischen Dependenzen) lässt sich ableiten, dass Wechselwirkungen auf jeder Ebene zwar sehr wohl ohne das Mitwirken höherer Niveaus zustande kommen, andererseits aber immer alle niedrigeren Ebenen mitimplizieren. So ist die unbemerkt bleibende Übertragung einer Infektionskrankheit ebenso gut denkbar wie eine unwillkürliche Abstimmung von Körpergebärden oder ein wortloser Blick; aber in jedem Handlungsvollzug vergegenwärtigt sich unweigerlich die ganze Person, wie die sich rein physisch zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem gewissen Ort aufhält, sich in einem spezifischen physiologischen Zustand (der Müdigkeit, Hungrigkeit, Erregtheit u.a.) befindet und über bestimmte sensomotorische Fähigkeiten gebietet. Und a fortiori kann man keinen Satz aussprechen, ohne in Tonfall, Mimik, Gestik, ja in der Farbe der Gesichtshaut paralinguistische Informationen darüber mitzuliefern, unter welchen Bedingungen psychischer und physischer Befindlichkeit man seine Äusserung vollzieht (vgl. Poyotas, 1981).

Aus dem zweiten Prinzip ergibt sich, dass auf niedrigeren Niveaus relativ einfache und berechenbare, in ihrer Variabilität eng begrenzte und in synchroner Konstellation auftretende Interdependenzen vorherrschend sind, während auf höheren Ebenen diachrone Prozesse höchst mannigfaltiger und unvorhersehbar-wechselnder Art akkordiert werden müssen. So erhalten Kollokalsysteme durch die invariante körperliche Erscheinungsform und physiologischen Funktionsweisen ihrer Teilnehmer eine "infrastrukturelle" Basis, deren Stabilität jenseits aller psychischen Prädispositionen, sozialen Erwartungen oder kulturellen Deutungsmuster gesichert ist, und die deshalb gut zum Aufbau interner sozialer Strukturen ausgenutzt werden können. Auch die "vorprädikativen", oft in frühen Phasen der Ontogenese habitualisierten Repertoires sensorischer Wahrnehmung und motorischer Verhaltensabläufe (z.B. Gewohnheiten des Essens, Gehens, räumlichen Distanzhaltens u.a.) können noch als mitstabilisierende Faktoren wirksam sein: während sinnhaftes Erleben und Handeln als dauernde Quelle unbeherrschbarer Dynamik, Variabilität, Ungewissheit und "doppelter Kontingenz" in Rechnung gestellt werden muss. Im Medium der sprachlichen Kommunikation schliesslich müssen derart grenzenlose Beliebigkeiten bewältigt werden, dass sie nur unter striktester Beachtung diachroner Ablaufsregeln (z.B. dass zu jedem Zeitpunkt nur einer spricht) und im Rahmen spezifischer Themenvorgaben vonstatten gehen kann (vgl. 2.2.5).

Kollokalsysteme sind also dazu prädisponiert, sich in einem besonders weiten Spannungsfeld zwischen äusserst stabilen Strukturparametern einerseits und unübertrefflich labilen Prozessabläufen andererseits zu konstituieren. Georg Simmel hat mit seiner Unterscheidung zwischen der Synchronizität der visuellen Wahrnehmung (z.B. des menschlichen Antlitzes) und der Diachronizität der akustischen Sprachkommunikation bereits einsichtsvoll auf diese Polaritätsachse hingewiesen: allerdings ohne ihrer ganzen vielstufigen Differenziertheit Rechnung zu tragen (vgl. Simmel 1908b: 485ff.).

Die Anwendung des dritten Prinzips führt uns zur Schlussfolgerung, dass menschliche Personen einander mit ansteigendem Niveau ihrer Wechselwirkungen zunehmend als autonome Subjekte begegnen, die für ihre Emissionen und Rezeptionen selbst verantwortlich sind - und deshalb mit den vielfältigen Risiken "doppelter Kontingenz" umgehen müssen. Während sprachliche Äusserungen praktisch immer (ausser vielleicht in Zuständen des Träumens, der psychischen Umnachtung u.a.) als eigenselektive, intentionale Akte zugerechnet werden, die je nach der Entscheidung des Emittenten auch hätten vermieden oder anders ausfallen können, so ist es bereits bei vielen gestisch-mimischen Äusserungen ("Wahrnehmungslassungen") unklar, inwiefern sie als zwangshafte Reflexreaktionen, als spontane Gefühlskundgaben oder als zweckhaft intendierte Handlungen zu deuten sind. Denn aus den intrinsischen Eigenschaften derartiger Verhaltensweisen kann man oft nicht ersehen, in welchem Masse sie physiologischen, senso-motorischen oder psychischen Prägekräften unterliegen.. Und a fortiori kann man kaum jemanden für sein Schnarchen bei Nacht, seine fahle Gesichtsfarbe oder seine ernsthafte Erkrankung zur Rechenschaft ziehen: so wenig wie ein kleines Kind dafür kann, dass es üblicherweise dauernd in der Wohnung seiner Familie körperlich anwesend ist und vom elterlich verordneten Gemüsebrei regelmässig Verdauungsprobleme kriegt.

Im Unterschied zu schriftlich korrespondierenden oder einander telephonierenden Personen sind kollokale Individuen deshalb immer auch mit Aspekten ihrer Befindlichkeit anwesend, die sie selbst nicht unter Kontrolle haben und die auch keinen interpersonellen Beeinflussungsprozessen zugänglich sind.

Aus dem vierten Prinzip schliesslich kann man ableiten, dass Individuen partiell in der Lage sind, niedrigere Systemniveaus mit der höheren Komplexität, temporalen Variabilität und Eigenselektivität der übergeordneten Niveaus zu durchdringen. So können die Teilnehmer von sich selbst und allen anderen wissen, dass sie im Rahmen physikalischer und biologischer Gesetzmässigkeiten in der Lage sind

  • den räumlichen Aufenthaltsort ihres Körpers autonom zu bestimmen ("freiwillige Anwesenheit")
  • ihr körperliches Erscheinungsbild und Mienenspiel als taktisches Mittel zweckorientierter Interaktion (z.B. im Sinne des "impression management") zu verwenden;
  • von den physischen Merkmalen, psychischen Stimmungslagen, Verhaltensgewohnheiten und Handlungsabsichten ihrer selbst und anderer sprachliche Beschreibungen (zwar immer sehr selektiver Art) anzufertigen.
Komplizierend tritt die Möglichkeit vielfältiger "diagonaler" Wechselwirkungen hinzu, an denen die verschiedenen Teilnehmer auf unterschiedlich hohen Steuerungsniveaus partizipieren: z.B. wenn der Arzt einen narkotisierten Patienten operiert oder der alte Bekannte ein mir selbst unbemerkt bleibendes Altern meiner Gesichtszüge registriert.

Eine soziologische Theorie der Kollokalität darf davon ausgehen, dass interpersonelle Wechselwirkungen auf rein physikalischer oder biologischer Ebene den dafür zuständigen naturwissenschaftlichen Disziplinen überantwortet werden können. Der Zusammenprall zweier Motorradfahrer oder das Knappwerden der gemeinsamen Atemluft im Zivilschutzbunker - diese Ereignisse sind - per se - auch dann nicht Forschungsgegenstände der Sozialwissenschaft, wenn sie höchst explizite psychologische oder soziologische Ursachen oder Folgewirkungen haben. Andererseits wäre es allzu restriktiv, nur jene im engeren Wortsinne "intersubjektiven" Relationen einzuschliessen, an denen sämtliche Teilnehmer auf dem Niveau sinnhaften Erlebens und Handelns oder sprachlicher Kommunikation partizipieren. Denn man würde in die Sphäre der gemeinhin als "sozial" definierten Erscheinungen eine höchst artifizielle, unplausible Schnittlinie legen, wenn man z.B. die medizinische Operation mit Narkose radikal von einem Eingriff ohne Betäubung trennen oder einen heimtückischen Schuss aus dem Hinterhalt grundsätzlich anders als eine Tötung im aktiven Kampf behandeln wollte. Aus diesem Grund darf - und soll - sich die Soziologie für alle jene Kollokalsituationen zuständig fühlen, in denen mindestens eine Person sinnhafte oder sprachlich-kommunikative Dispositionen aufrechterhält, die - Alfred Schütz folgend - als "Fremdeinstellungen" oder "Fremdwirkungen" bezeichnet werden können (vgl. Schütz 1974: passim). Deshalb sind es eminent soziale Situationen, wenn eine Mutter ihrem Neugeborenen die Brust anbietet oder das bewusstlose Opfer des Verkehrsunfalls "erste Hilfe" erhält.


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