Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen
Ein theoretischer Integrationsversuch
(29. Dezember 1996)
ZWEITES KAPITEL:
DIE KOMPLEXE MEHREBENENSTRUKTUR
KOLLOKALER INTERAKTION
2.1 Fünf Systemniveaus interpersoneller
Wechselwirkungen
Im Vergleich zu anderen empirischen Objekten zeichnet sich das
menschliche Individuum dadurch aus, dass es gleichzeitig auf einer
unübertroffen grossen Zahl verschiedener Seinsebenen und Systemniveaus
existiert:
- Als physisches Ding, das wie alle lebenden und toten
Gegenstände in räumlich-zeitlichen Koordinaten lokalisierbar und in
objektiven Termini von Masse, Gewicht, chemischer Zusammensetzung u.a.
beschreibbar ist. Dies ist die niedrigste, selbstgenügsamste Ebene
seiner Existenz, die ungeachtet seiner "höheren" Funktionen
lebenslänglich persistiert und meist auch sein biologisches Ableben
eine Zeitlang überdauert.
- Als lebender Organismus, der wie alle Metazoen auf der
Basis einer genetisch fixierten Anatomie und Physiologie atmet,
Nahrung aufnimmt, Residualstoffe ausscheidet, einer charakteristischen
Sequenz von Reifungs- und Alterungsphasen unterliegt und sich an der
Reproduktion seiner Gattung mitbeteiligt.
- Als Träger sensorischer Wahrnehmungs- und motorischer
Verhaltenskapazitäten, mit deren Hilfe er in der Lage ist,
sich zu seiner Umwelt wie auch zu sich selbst in ein eigenselektives
Verhältnis zu setzen.
- Als Akteur mit der Fähigkeit zu sinnhaftem Erleben und Handeln, der
seine Wahrnehmungen und Verhaltensweisen in einen autonom
konstituierten Horizont von Bedeutungen und Verweisungen integriert,
mit Zeichen und Symbolen umgehen kann und sich durch prospektive
Zwecksetzungen einerseits und retrospektives Erinnern andererseits von
unmittelbaren Aktualgegebenheiten emanzipiert.
- Als kommunikations- und räsonnierfähiges Subjekt,
das im Medium der Sprache in der Lage ist, eine unbegrenzte Vielfalt
von sinnvollen Aussagen zu formulieren und mit anderen Subjekten in
diskursive Reflexions- und Verständigungsprozesse zu treten.
Mit der Vorsicht, die bei überwiegend induktiv gewonnenen empirischen
Verallgemeinerungen immer am Platze ist, lassen sich hinsichtlich der
Verhältnisse, in denen diese fünf Ebenen zueinander stehen, die vier
folgenden Gesetzmässigkeiten formulieren:
- Einseitiges Fundierungsverhältnis "von unten"
Während jede niedrigere Ebene unabhängig von allen höheren
persistieren kann, so setzt jedes höhere Niveau das adäquate
Funktionieren aller niedrigeren Niveaus als notwendige Bedingung voraus.
So findet man sehr wohl, dass physische Gegenständlichkeit ohne Leben,
Leben ohne Sensomotorik, Sensomotorik ohne Sinn und Sinn ohne Sprache
einhergehen kann, während das Umgekehrte in keiner Weise gilt.
Als Korrelat ergibt sich die Hypothese, dass die Gesetzmässigkeiten
einer jeden Ebene für alle höheren Niveaus unverbrüchliche
Gültigkeit besitzen: so dass nichts Biologisches auftreten kann, was
physikalischen Kausalgesetzen widerspricht und kein intentionales
Handeln vorkommt, das die Restriktionen physiologischer und
sensomotorischer Prozesse nicht respektiert.
- Wachsende Variabilität, Unvorhersehbarkeit und Temporalisierung
Während für die Erfassung niedriger Ebenen relativ simple und
deterministische Modelle physikalisch-chemischer Gesetzmässigkeit
hinreichend sind, müssen auf höheren Niveaus immer grössere
Spielräume der Variabilität und Unkalkulierbarkeit in Rechnung
gestellt werden, die mit den hohen Freiheitsgraden senso-motorischer
Abläufe und sinnhafter Deutungsmuster zusammenhängen und in der
grenzenlosen Freiheit und Unvoraussagbarkeit sprachlicher Satz- und
Textkonstruktionen - die auch Abwesendes, Vergangenes, Zukünftig
erwartbares, nur Mögliches, ja sogar das Unmögliche thematisieren
können - ihr unüberbietbares Maximum erreichen. Vor allem muss
ein Anwachsen an Temporalisierung und Irreversibilisierung in Betracht
gezogen werden: in dem Sinne, dass sich die Systemkomplexität immer
mehr in diachronen Abläufen anstatt im synchronen Zusammenspiel
differenzierter Systemkomponenten manifestiert (vgl. Luhmann, 1984) und
sich das System zunehmend "historisiert", weil jeder Ablauf
die Bedeutung aller früheren und die Bedingungen für alle
nachfolgenden Prozesse verändert.
- Wachsende Eigenselektivität und Intentionalisierung
Hinsichtlich seiner niedrigeren Existenzebenen sieht sich der Mensch
völlig exogenen, seiner Manipulation unzugänglichen
Wirkungszusammenhängen ausgeliefert: er kann sich niemals aus seiner
physischen und biologischen Körperlichkeit befreien und findet es
äusserst schwer, gewisse "unwillkürliche" Vorgänge der
Sensomotorik (z.B. die Wahrnehmung aufdringlicher Gerüche oder den
Vollzug habitualisierter Bewegungen) zu unterdrücken.
Auf höheren Niveaus finden menschliche Personen sich selbst und die
anderen als autonome Subjekte vor, die frei darüber verfügen, ob sie
das höhere Steuerungsniveau überhaupt aktivieren wollen, und welche
der unendlich vielfältigen Spezifikationsmöglichkeiten sie wählen. Am
ausgeprägtesten zeigt sich diese Autonomie im Sprachverhalten, bei dem
"Reden" und "Schweigen" immer prinzipiell gleich
zugängliche Alternativen verfügbar sind: so dass dem Sprecher
normalerweise sowohl die Tatsache, dass er gesprochen hat, wie auch die
spezifischen Inhalte seiner Rede als selbstgewähltes, zu
verantwortendes Handeln zugerechnet werden (vgl. Luhmann 1972).
- Semantische Spezifikation und koordinative Steuerung "von
oben"
Ist jede Systemebene einerseits an die Bestandesbedingungen und
Gesetzmässigkeiten aller sie fundierenden niedrigeren Ebenen gebunden,
so vermag sie andererseits doch diese inferioren Niveaus teilweise mit
ihrer autonomen Selektivität zu penetrieren und ihnen zu einem relativ
unwahrscheinlichen Zustand geordneter Komplexität zu verhelfen. So muss
die chemische Zusammensetzung eines Organismus weitgehend als Produkt
biologischer Vorgänge der Stoffumwandlung (Metabolismus, Sekretion
u.a.) verstanden werden, während Tiere durch ihr Verhalten sowohl auf
den räumlichen Standort ihres Körpers wie auf mannigfache
physiologische Vorgänge (Nervenreizung, Muskelkontraktion,
Hormonausschüttungen) Einfluss nehmen können; und Menschen
schliesslich sind zweifellos in der Lage, ihre Verhaltensweisen unter
dem Gesichtspunkt zweckgerichteter Handlungsentwürfe selektiv zu
organisieren und zumindest einen Teil dieser Handlungen in
überindividuell organisierte Handlungssysteme zu integrieren.
Ein weiteres "abwärtsgerichtetes" Bedingungsverhältnis
betrifft die Prozesse semantischer Spezifikation. Weil die
Zustandsformen auf den niedrigen Niveaus auf Grund ihrer geringen
Differenzierbarkeit nur wenig "immanente Information" mit sich
tragen, müssen sie ihren präzisen Sinn von einem auf übergeordnetem
Niveau konstituierten semantischen Kontext zugewiesen erhalten.
Beispielsweise ist die blosse Anwesenheit an einem Ort so wenig
informativ, dass ihre Bedeutung nur durch die dort vollzogenen
Verhaltensweisen schärfere Konturen gewinnt; und das Repertoire an
Gesten ist so beschränkt, dass es einer meist sprachlich explizierbaren
Normierung (Anstandscode, Spielkonventionen, Verkehrsregeln u.a. bedarf,
um ihre eindeutige und konsensuale Interpretationsweise zu sichern (vgl.
2.2.4).
Unter "Kollokalität" kann nun exakter als oben jene
Situation verstanden werden, in der zwei oder mehr menschliche Personen
auf Grund gleichzeitiger Anwesenheit im selben Raumabschnitt auf jeden
Fall auf der Ebene physischer Körperlichkeit und senso-motorischer
Prozesse, meistens aber zusätzlich auch auf höheren Systemniveaus in
Wechselwirkung treten. Der unverbindliche (dafür analytisch allerdings
sehr unscharfe) Simmel'sche Begriff der "Wechselwirkung" (Simmel
1908c) mag am besten die ganze Vielfalt möglicher Interrelationen
einbegreifen, die sich vom rein physikalisch bedingten
Übereinanderpurzeln im Strassenbus über den Austausch von Blicken und
sexuellen Streicheleinheiten bis zur Rede und Gegenrede im sprachlichen
Diskurs erstrecken.
Die fundamentalen Grundlinien einer "allgemeinen Theorie
menschlicher Kollokalität" werden bereits deutlich sichtbar, wenn
man die soeben formulierten Basishypothesen über Zusammenhänge zwischen
den fünf Systemebenen heranzieht, um daraus einige durchaus inhaltsreiche
Propositionen über die Struktur interpersoneller Kollokalverhältnisse zu
deduzieren.
Aus dem ersten Prinzip (der asymmetrischen Dependenzen) lässt sich
ableiten, dass Wechselwirkungen auf jeder Ebene zwar sehr wohl ohne das
Mitwirken höherer Niveaus zustande kommen, andererseits aber immer alle
niedrigeren Ebenen mitimplizieren. So ist die unbemerkt bleibende
Übertragung einer Infektionskrankheit ebenso gut denkbar wie eine
unwillkürliche Abstimmung von Körpergebärden oder ein wortloser Blick;
aber in jedem Handlungsvollzug vergegenwärtigt sich unweigerlich die
ganze Person, wie die sich rein physisch zu einem bestimmten Zeitpunkt an
einem gewissen Ort aufhält, sich in einem spezifischen physiologischen
Zustand (der Müdigkeit, Hungrigkeit, Erregtheit u.a.) befindet und über
bestimmte sensomotorische Fähigkeiten gebietet. Und a fortiori kann man
keinen Satz aussprechen, ohne in Tonfall, Mimik, Gestik, ja in der Farbe
der Gesichtshaut paralinguistische Informationen darüber mitzuliefern,
unter welchen Bedingungen psychischer und physischer Befindlichkeit man
seine Äusserung vollzieht (vgl. Poyotas, 1981).
Aus dem zweiten Prinzip ergibt sich, dass auf niedrigeren Niveaus
relativ einfache und berechenbare, in ihrer Variabilität eng begrenzte
und in synchroner Konstellation auftretende Interdependenzen vorherrschend
sind, während auf höheren Ebenen diachrone Prozesse höchst
mannigfaltiger und unvorhersehbar-wechselnder Art akkordiert werden
müssen. So erhalten Kollokalsysteme durch die invariante körperliche
Erscheinungsform und physiologischen Funktionsweisen ihrer Teilnehmer eine
"infrastrukturelle" Basis, deren Stabilität jenseits aller
psychischen Prädispositionen, sozialen Erwartungen oder kulturellen
Deutungsmuster gesichert ist, und die deshalb gut zum Aufbau interner
sozialer Strukturen ausgenutzt werden können. Auch die
"vorprädikativen", oft in frühen Phasen der Ontogenese
habitualisierten Repertoires sensorischer Wahrnehmung und motorischer
Verhaltensabläufe (z.B. Gewohnheiten des Essens, Gehens, räumlichen
Distanzhaltens u.a.) können noch als mitstabilisierende Faktoren wirksam
sein: während sinnhaftes Erleben und Handeln als dauernde Quelle
unbeherrschbarer Dynamik, Variabilität, Ungewissheit und "doppelter
Kontingenz" in Rechnung gestellt werden muss. Im Medium der
sprachlichen Kommunikation schliesslich müssen derart grenzenlose
Beliebigkeiten bewältigt werden, dass sie nur unter striktester Beachtung
diachroner Ablaufsregeln (z.B. dass zu jedem Zeitpunkt nur einer spricht)
und im Rahmen spezifischer Themenvorgaben vonstatten gehen kann (vgl.
2.2.5).
Kollokalsysteme sind also dazu prädisponiert, sich in einem besonders
weiten Spannungsfeld zwischen äusserst stabilen Strukturparametern
einerseits und unübertrefflich labilen Prozessabläufen andererseits zu
konstituieren. Georg Simmel hat mit seiner Unterscheidung zwischen der
Synchronizität der visuellen Wahrnehmung (z.B. des menschlichen
Antlitzes) und der Diachronizität der akustischen Sprachkommunikation
bereits einsichtsvoll auf diese Polaritätsachse hingewiesen: allerdings
ohne ihrer ganzen vielstufigen Differenziertheit Rechnung zu tragen (vgl.
Simmel 1908b: 485ff.).
Die Anwendung des dritten Prinzips führt uns zur Schlussfolgerung,
dass menschliche Personen einander mit ansteigendem Niveau ihrer
Wechselwirkungen zunehmend als autonome Subjekte begegnen, die für ihre
Emissionen und Rezeptionen selbst verantwortlich sind - und deshalb mit
den vielfältigen Risiken "doppelter Kontingenz" umgehen
müssen. Während sprachliche Äusserungen praktisch immer (ausser
vielleicht in Zuständen des Träumens, der psychischen Umnachtung u.a.)
als eigenselektive, intentionale Akte zugerechnet werden, die je nach der
Entscheidung des Emittenten auch hätten vermieden oder anders ausfallen
können, so ist es bereits bei vielen gestisch-mimischen Äusserungen
("Wahrnehmungslassungen") unklar, inwiefern sie als zwangshafte
Reflexreaktionen, als spontane Gefühlskundgaben oder als zweckhaft
intendierte Handlungen zu deuten sind. Denn aus den intrinsischen
Eigenschaften derartiger Verhaltensweisen kann man oft nicht ersehen, in
welchem Masse sie physiologischen, senso-motorischen oder psychischen
Prägekräften unterliegen.. Und a fortiori kann man kaum jemanden für
sein Schnarchen bei Nacht, seine fahle Gesichtsfarbe oder seine ernsthafte
Erkrankung zur Rechenschaft ziehen: so wenig wie ein kleines Kind dafür
kann, dass es üblicherweise dauernd in der Wohnung seiner Familie
körperlich anwesend ist und vom elterlich verordneten Gemüsebrei
regelmässig Verdauungsprobleme kriegt.
Im Unterschied zu schriftlich korrespondierenden oder einander
telephonierenden Personen sind kollokale Individuen deshalb immer auch mit
Aspekten ihrer Befindlichkeit anwesend, die sie selbst nicht unter
Kontrolle haben und die auch keinen interpersonellen
Beeinflussungsprozessen zugänglich sind.
Aus dem vierten Prinzip schliesslich kann man ableiten, dass Individuen
partiell in der Lage sind, niedrigere Systemniveaus mit der höheren
Komplexität, temporalen Variabilität und Eigenselektivität der
übergeordneten Niveaus zu durchdringen. So können die Teilnehmer von
sich selbst und allen anderen wissen, dass sie im Rahmen physikalischer
und biologischer Gesetzmässigkeiten in der Lage sind
- den räumlichen Aufenthaltsort ihres Körpers autonom zu bestimmen
("freiwillige Anwesenheit")
- ihr körperliches Erscheinungsbild und Mienenspiel als taktisches
Mittel zweckorientierter Interaktion (z.B. im Sinne des "impression
management") zu verwenden;
- von den physischen Merkmalen, psychischen Stimmungslagen,
Verhaltensgewohnheiten und Handlungsabsichten ihrer selbst und anderer
sprachliche Beschreibungen (zwar immer sehr selektiver Art)
anzufertigen.
Komplizierend tritt die Möglichkeit vielfältiger "diagonaler"
Wechselwirkungen hinzu, an denen die verschiedenen Teilnehmer auf
unterschiedlich hohen Steuerungsniveaus partizipieren: z.B. wenn der Arzt
einen narkotisierten Patienten operiert oder der alte Bekannte ein mir
selbst unbemerkt bleibendes Altern meiner Gesichtszüge registriert.
Eine soziologische Theorie der Kollokalität darf davon ausgehen, dass
interpersonelle Wechselwirkungen auf rein physikalischer oder biologischer
Ebene den dafür zuständigen naturwissenschaftlichen Disziplinen
überantwortet werden können. Der Zusammenprall zweier Motorradfahrer
oder das Knappwerden der gemeinsamen Atemluft im Zivilschutzbunker - diese
Ereignisse sind - per se - auch dann nicht Forschungsgegenstände der
Sozialwissenschaft, wenn sie höchst explizite psychologische oder
soziologische Ursachen oder Folgewirkungen haben. Andererseits wäre es
allzu restriktiv, nur jene im engeren Wortsinne
"intersubjektiven" Relationen einzuschliessen, an denen
sämtliche Teilnehmer auf dem Niveau sinnhaften Erlebens und Handelns oder
sprachlicher Kommunikation partizipieren. Denn man würde in die Sphäre
der gemeinhin als "sozial" definierten Erscheinungen eine
höchst artifizielle, unplausible Schnittlinie legen, wenn man z.B. die
medizinische Operation mit Narkose radikal von einem Eingriff ohne
Betäubung trennen oder einen heimtückischen Schuss aus dem Hinterhalt
grundsätzlich anders als eine Tötung im aktiven Kampf behandeln wollte.
Aus diesem Grund darf - und soll - sich die Soziologie für alle jene
Kollokalsituationen zuständig fühlen, in denen mindestens eine Person
sinnhafte oder sprachlich-kommunikative Dispositionen aufrechterhält, die
- Alfred Schütz folgend - als "Fremdeinstellungen" oder
"Fremdwirkungen" bezeichnet werden können (vgl. Schütz 1974:
passim). Deshalb sind es eminent soziale Situationen, wenn eine Mutter
ihrem Neugeborenen die Brust anbietet oder das bewusstlose Opfer des
Verkehrsunfalls "erste Hilfe" erhält.
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