UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 


 

FÜNFTES KAPITEL:

PRINZIPIEN DER STRUKTURBILDUNG UND SOZIALEN GESAMTORDNUNG KOLLOKALER SYSTEME


5.4 Strategien der Desensibilisierung

Wenn es nicht möglich, erlaubt oder wünschbar ist, das Feld objektiver physischer Wirkungszusammenhänge und Störungsrisiken durch Distanznahme zu verdünnen, können die kollokalen Interaktionspartner durch ein Anheben ihrer sensorischen Rezeptionsschwellen und/oder ihrer verhaltensmässigen Reaktionsschwellen dafür sorgen, dass

  • sie selbst von derartigen Ereignissen subjektiv weniger betroffen sind,
  • das Sozialsystem gegenüber solchen Wirkungen abgeschirmt wird, weil intrapersonelle Mechanismen (z.B. selektive Wahrnehmung, Toleranz, Duldungsfähigkeit u.a.) eine Filterfunktion ausüben.
Im Sinne des oben vorgeschlagenen Modells konzentrisch gelagerter adaptiver Regelkreise (vgl. 5.1) können Desensibilisierungsstrategien einer mittleren Sphäre zugerechnet werden, innerhalb der wiederum mindestens zwei "Ringe" unterschieden werden können:

1)  Ein den soziofugalen Mechanismen noch nahe verwandter Bereich der "äusseren Abwehr", bei der es darum geht, durch geeignete Manipulation von Wahrnehmungsvorgängen (z.B. Abwendung der Blickrichtung, Ablenkung der Aufmerksamkeit u.a.) zu verhindern, dass bestimmte unerwünschte Immissionen überhaupt zu Erlebnisinhalten werden, die irgendeine Reaktion oder gar eine interaktive Weiterverarbeitung notwendig machen.

Derartige Verhaltensweisen sind teilweise vollständig präventiv: z.B. wenn man sich in überfüllten Wartehallen oder Verkehrsmitteln in die Zeitung vertieft, um irgendwelchen unerwünschten Zeugenschaften, Gesprächs- oder Hilfsaufforderungen aus dem Wege zu gehen; oder wenn man sich grundsätzlich nur mit Ohrenschützern ins Bett legt, um durch keinerlei Nachbar- oder Strassenlärm behelligt zu werden. Zum grösseren Teil aber sind sie reaktiv: z.B. wenn das Näherkommen einer unbekannten Person der Grund ist, um den Blick von ihr abzuwenden oder um intensives Beschäftigtsein zu demonstrieren.

2)  Einen Bereich der "inneren Abwehr", der dazu dient, bereits vollzogene Wahrnehmungen und Erlebnisinhalte "unschädlich" zu machen, indem verhindert wird, dass sie sich auf die Ebene des Verhaltens und Interagierens auswirken können. Solch reaktive Verarbeitungsmechanismen sind meist mit einer intraindividuellen Disziplinierungsleistung verbunden: z.B. wenn man sich "zusammenreissen" muss, um den Musiklärm des Zimmernachbarn schweigend zu erdulden, unangenehme Körpergerüche auszuhalten, Behinderte mit aufsehenerregenden Körperdeformationen nicht anzustarren oder beleidigende Anwürfe taktvoll und mit gut gespieltem Gleichmut zu "ignorieren".

Dank diesen präventiven und reaktiven Taktiken der Desensibilisierung sind Individuen in der Lage, sich selbst unter Bedingungen äusserst dichter und unentrinnbarer physischer Nähe dem unkontrollierbaren Feld kollokaler Wechselwirkungen zu entziehen und sich einen Spielraum für autonomes Erleben und Handeln zu sichern, ohne einerseits Raumdistanzen in Anspruch zu nehmen und andererseits das Verhalten anderer zu restringieren.

Dieser Beitrag zur Ausdifferenzierung und wechselseitigen Insulierung von personaler und sozialer Systemebene muss auf dem Hintergrund der universellen Tatsache gewürdigt werden, dass immer ein besonderer Aufwand erforderlich ist, um den quasi "natürlichen" soziogenetischen Tendenzen, die mit jeder kollokalen Situation verbunden sind, entgegenzuwirken.

Wann immer mehrere Individuen sich ohne Ausweichmöglichkeiten im selben engen Raumabschnitt aushalten, werden sie es beschwerlich finden, über längere Zeit einen Zustand völliger sozialer Beziehungslosigkeit aufrechtzuerhalten.

Denn mit seinen frei beweglichen Blicken und seinen allzeit disponiblen akustischen, olfaktorischen und taktilen Wahrnehmungsbereitschaften stellt jedes Individuum - ähnlich wie ein sehr bindungsfähiges chemisches Molekül - ein Zentrum frei flottierender Reaktions- und Bindungsvalenzen dar und schreibt auch allen anderen diese selbe Disponibilität zu.

Beginnend mit einem blossen Blickwechsel, können sich Kollokalpartner allzu leicht in einen quasi selbsttätigen Interaktionsprozess verstricken und sich bald in einer irreversiblen Bekanntschaftsbeziehung zueinander vorfinden, ohne dies unbedingt intendiert zu haben. Der autokatalytische Charakter solcher Prozesse wird dadurch unterstützt, dass menschliche Personen bei Zuwendung zu Mitanwesenden in einen höheren psychischen Erregungszustand ("Interaktionstonus") versetzt werden, durch den sich ihre interaktive Rezeptions- und Reaktionsbereitschaft generell erhöht (vgl. Goffman 1971: 35ff.). Für die biologische Fundierung (und damit: erschwerte Kontrollierbarkeit) solcher Reaktionen spricht der ethologische Befund, dass bei Kleinkindern die Pulsfrequenz steigt, wenn sie eine menschliche Person anblicken, sich hingegen wieder normalisiert, wenn sie den Blick von ihr abwenden (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1975).

In modernen urbanen Gesellschaften entsteht daraus von zwei Seiten her ein gewisses Problem, weil derartige Situationen ungeplant-zufälliger Kollokalität einerseits sehr häufig vorkommen (z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln, Warteräumen u.a.), die Betroffenen an der Aufrechterhaltung individueller Autonomie aber andererseits derart stark interessiert sind, dass sie sich solchen unkontrollierbaren und irreversiblen Engagements keineswegs ausliefern möchten.

Täglich stellt sich dem Stadtmenschen die Aufgabe, seine "freien Valenzen" über verschiedenste kollokale Situationen zufälliger und transitorischer Art hinwegzuretten, um sie unvermindert in die dafür vorgesehenen (z.B. am Ende von Reisewegen oder Wartezeiten erscheinenden) Zielpersonen zu investieren; und noch viel häufiger muss er die Initiierung verschiedenster naheliegender Kontakte (z.B. am Arbeitsplatz) unterbinden, um eigene Handlungspläne und -ziele unbehelligt zu realisieren.

Moderne Gesellschaften müssen sich mehr als alle früheren auf leistungsfähige Mechanismen verlassen können, die die immanente Spannung zwischen

  • den Ansprüchen, unter kontrollierbaren und voraussehbaren Bedingungen zweckrational handeln zu können
  • dem Zwang, sich den aleatorischen Begegnungschancen und Interaktionsgelegenheiten öffentlicher Räume ausliefern zu müssen
auf ein erträgliches Mass herabmindern können.

Mechanismen der Desensibilisierung tun dies auf eine äusserst wirksame und zuverlässige Weise, ohne an die Akteuren derart anspruchsvolle Verhaltensanforderungen zu stellen, wie sie etwa für manche Disziplinierungsmechanismen (vgl. 5.5) notwendig sind.

Weil derartige Kundgaben naturgemäss sehr schnell erfolgen und universell wahrnehmbar sowie voraussetzungslos verstehbar sein müssen, kommen dafür nur nonverbale Verhaltensweisen in Frage, die zuverlässig reproduzierbar sind und überdies einen hohen Grad an Auffälligkeit besitzen.

1) Mimische Gesten: Durch Abwendung der Blickrichtung wird ausgedrückt, dass man seine Aufmerksamkeit auf andere Objekte oder Ereignisse der Umwelt ausgerichtet hat, und durch Verkrampfung der Mundregion (Zusammenpressen oder Beissen der Lippe, Vorzeigen der Zunge u.a.) wird demonstriert, dass man allein schon aus physischen Gründen behindert ist, sich in ein Gespräch zu engagieren (Mall 1955, Givens 1978; Smith/Chase/Lieblich 1974).

2) Automanipulative Aktivitäten: indem man die Brille reinigt, sich am Gesicht kratzt oder die Kleider ordnet, lassen sich vor allem jene peinlichen Zeitphasen schutzloser "Überanwesenheit" bewältigen, wie sie beispielsweise beim allseits registrierten verspäteten Zutritt zu einer Versammlung oder bei Schweigephasen in Gesprächsabläufen auftreten können (Givens 1978, Stern/Bender 1974, Scheflen 1972 u.a.).

Über derartige unwillkürliche Selbstschutzreaktionen weit hinausgehend, sind Individuen moderner Gesellschaften auch normativ dazu verpflichtet, fremden Passanten mit "höflicher Gleichgültigkeit" gegenüberzutreten: selbst - ja gerade - im Falle von Personen, die wegen ihrer auffälligen Verhaltensweisen oder körperlichen Stigmata geeignet sind, volle Aufmerksamkeit und Neugier zu erregen.

"Je näher.... die Betrachter demjenigen kommen, der sie interessiert, desto exponierter ist dessen (und auch ihre eigene)Position, und desto stärker werden sie zu höflicher Gleichgültigkeit sich verpflichtet fühlen. Mit der Entfernung zum Gegenstand ihrer Neugier wächst ihr Gefühl der Freiheit, ihn ein wenig mustern zu können." (Goffman 1971: 86).

Im Gegensatz zu soziofugalen, auf Vermeidung sensorischer Kontakte ausgehenden Verhaltensweisen ist bei "höflicher Gleichgültigkeit" durchaus vorausgesetzt, dass die Partner einander differenziert wahrnehmen und um ihr Wahrgenommensein wissen: aber sie teilen einander gleichzeitig mit, dass sie aus solchen Perzeptionen keinerlei interaktionelle Konsequenzen ziehen wollen: dass sie füreinander nicht Gegenstand besonderen Interesses bilden und jeder sich durchaus weiter annähern kann, ohne mit Ansprachen oder andern Behelligungen rechnen zu müssen:
 

"Solches Verhalten setzt hinreichende visuelle Beachtung des anderen voraus, die beweist, dass man seine Anwesenheit würdigt (man gibt offen zu verstehen, man habe ihn gesehen), während man im nächsten Moment die Aufmerksamkeit bereits wieder zurücknimmt, um zu dokumentieren, er stelle keineswegs das Ziel besonderer Neugier oder spezieller Absichten dar." (Goffman 1971: 85).
 

Gleichzeitig gibt man dem sich Annähernden kund, dass man ihn als normales Exemplar der Spezies "homo sapiens" akzeptiert: zumindest in dem anspruchsloseren Sinne, dass man ihm zutraut, keine böswillig-hinterhältigen Absichten zu haben, keine unkontrollierbaren Körperbewegungen zu vollführen und auch nicht etwa einen absolut unerträglichen Geruch zu emittieren.

Wie jedes Unterlassen stellt auch "höfliche Gleichgültigkeit" ein generell ziemlich anspruchsloses, durch vielerlei funktional äquivalente Motive evozierbares Verhalten dar (vgl. Geser 1986b: 663ff.), das sich häufig genug "von selbst" aus Unachtsamkeiten, anderweiten Beschäftigungen, Schläfrigkeit etc. ergibt. In andern Fällen aber muss sie als eine aktive, gegen mannigfache Widerstände durchgesetzte Selbstdisziplinierungsleistung gewürdigt werden: z.B. wenn es darum geht, Reaktionen spontaner Neugier (gegenüber abnormen Krüppeln u.a.) oder sinnlicher Zuneigung (gegenüber sexuell attraktiven Personen) zu überwinden.

Mit zunehmender Dauer des unfreiwilligen Zusammenseins wird es immer anstrengender und risikoreicher, Desensibilisierungen allein auf den elementaren Mechanismus des Blickevermeidens abzustützen: weil es immer wahrscheinlicher wird, dass die Blicke sich bei ihrem gewohnten Umherschweifen rein "zufällig" dann und wann treffen, und dass in der gemeinsam durchlebten Zeitspanne irgendwelche Verhaltensweisen oder exogene Ereignisse auftreten, die die Initiierung einer Interaktion naheliegend, erwartbar oder gar zwingend machen.

Passagiere im Wolkenkratzeraufzug etwa werden in einen Zustand der Nervosität und unsicher-gespannter Erwartung versetzt, wenn sie auch oberhalb des dreissigsten Stocks noch bemüht sind, wechselseitigen Blicken auszuweichen oder einen abrupten Stop wegen Stromausfalls selbst nach drei Minuten noch mit keinerlei Konversation zu kommentieren.

Und bei fortgesetztem Zusammensein (z.B. auf längeren Flug- oder Eisenbahnreisen) wird es immer wahrscheinlicher, dass zufälligste Blickwechsel, Verhaltenskoordinationen oder verbale Äusserungen (sogar im Rahmen von Selbstgesprächen) einen irreversiblen und beidseitig nur unvollkommen steuerbaren Interaktionsprozess auslösen, der

  1. in der Gegenwart dafür sorgt, dass die Partner keinerlei Valenzen für andere soziale Engagements (bzw. selbstreferentielle Aktivitäten) mehr verfügbar haben,
  2. in der Zukunft in einem Bekanntschafts-, Freundschafts- oder gar Eheverhältnis terminieren kann, das seinerseits wieder unabsehbare individuelle und soziale Folgewirkungen nach sich zieht.
In solchen Fällen besteht eine gebräuchliche Taktik präventiver Desensibilisierung darin, sich demonstrativ in eine offensichtlich nicht auf die Mitanwesenden hin orientierte, rein individuell auszuführende Tätigkeit zu engagieren, und dadurch
  1. sich selbst in einen Zustand absorbierter Aufmerksamkeit zu versetzen, der es einem erleichtert, unwillkürliche Personenwahrnehmungen zu vermeiden und gegenüber verschiedensten "sozialen Immissionen" unempfindlich zu bleiben;
  2. den Anwesenden in nichtverbaler, aber dennoch sehr eindeutiger Weise mitzuteilen, dass man nicht willens, ja oft nicht einmal in der Lage ist, äussere Zustände und Ereignisse wahrzunehmen oder gar in einen kommunikativen Austausch einzutreten.
Durch Zeitunglesen, Stricken, Lösen von Kreuzworträtseln, Benutzung eines "Walkman" oder - falls alle Utensilien fehlen - gespanntes, auf anstrengende Denkaktivität hindeutendes Vorsichhinstarren vermag ein auf Distanz bedachter Mitanwesender jenes Zuviel an freien Erlebens- und Handlungsvalenzen zu beseitigen, die
  • für ihn selbst eine Last sind, weil er sich ständig dabei ertappt, unfreiwilliger Zeuge fremden Redens und Verhaltens zu sein oder durch seine offensichtliche Disponibilität allerlei Avancen zu provozieren;
  • für andere eine Belastung darstellen: weil sie bei all ihrem Tun und Lassen mitberücksichtigen müssen, auf nicht präzis eruierbare Weise wahrgenommen und beurteilt zu werden.
" Zeitungen... sind eine tragbare Quelle von Engagement, zu der man immer greifen kann, wenn man meint, eine Beschäftigung zu haben, aber keine hat. Offensichtlich bestand ein wesentliches Verlustmoment beim Zeitungsstreik in England 1954 darin, dass die Pendler in der U-Bahn nichts hatten, um sich dahinter zu verstecken, nichts, um sich, allseitiger Billigung sicher, zurückzuziehen. Das bedeutete, sie mussten offen nichts tun, was für einen Briten aus der Mittelschicht schon eine leise Desorientierung in der Situation bedeuten kann, eine Art Selbstentblössung und Überanwesenheit (Goffman 1971: 58).

Als funktionales Äquivalent zu isolierenden Raumdistanzen und physischen Wahrnehmungshindernissen aller Art (z.B. Mauern, Trennwänden, Vorhängen, Palisaden, Hecken usw.) haben derartige Selbstbeschäftigungen die Funktion, dem Individuum eine geschützte Nische zu verschaffen, innerhalb der es sich vor unbeabsichtigten Fremdwahrnehmungen und unerwünschten Fremdinteraktionen gleichermassen sicher fühlen kann: mit dem Nachteil allerdings, dass es gezwungen wird, seine Aufmerksamkeit und Handlungskapazitäten konsistent daran zu binden und bei ihrer Ausführung eher auf den Aspekt, wie sie aussen wahrgenommen werden, als auf den Gesichtspunkt, wie sie sachlich am besten zu bewältigen sind, Rücksicht zu nehmen.

 Auch im Zustand intensivster Interaktion können Kollokalpartner nie völlig auf Massnahmen der Desensibilisierung verzichten, weil es nur so gelingt,

  • das Spektrum der Stimuli, auf die die Teilnehmer wechselseitig reagieren
  • den Intimitätsgrad der Sozialbeziehung (und das entsprechende psychische Engagement, das damit verknüpft ist)
in gewissen Grenzen zu halten, und dem Interaktionsverhältnis dadurch zumindest ein Minimum an Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit zu verleihen.

So deuten zahlreiche sozialpsychologische Forschungsbefunde darauf hin, dass Konversationsgruppen eine Art "Homöostase des Intimitätsgrades" aufrechterhalten: indem die Partner mit wachsender räumlicher Nähe immer stärker bestrebt sind, sich durch kompensative Mechanismen der Desensibilisierung voneinander abzuschirmen:

  1. auf nonverbaler Ebene: indem sie einander weniger häufig anblicken und zulächeln,
  2. auf verbalem Niveau: indem sie das Gespräch auf weniger "intime" (d.h. eher depersonalisiert-sachbezogene) Thematiken lenken (vgl. Argyle/Dean 1965)
Umgekehrt wird es dann notwendig, den soziofugalen Ausdruckswert grösserer räumlicher Entfernung durch umso intensivere Kundgaben interpersoneller Bezugnahme (Anblicken, Zulächeln, persönliche Bemerkungen) wettzumachen (Argyle/Dean 1965): genauso wie ein sehr unpersönliches Gesprächsthema das Bedürfnis wecken kann, der persönlichen Prägung der Beziehung durch umso häufigere Augenkontakte Ausdruck zu verleihen (Exline/Thibaut/Brannon/Gumpert 1961).

In die gleiche Richtung weisen die empirischen Regularitäten, dass Diskussionspartner in grösseren Gruppen

  • häufig nicht die ihnen zunächst sitzenden Teilnehmer ansprachen, sondern Personen, die sich mehrere Plätze von ihnen entfernt befinden (Steinzor 1950);
  • zu einem Interaktionspartner, der die Augen geschlossen hält, geringere minimale Körperdistanzen aufrechterhalten werden (Argyle/Dean) 1965).
Räumliche Nähe, nonverbale Zuwendungsgesten und verbale "persönliche Ansprachen" müssen demnach als drei funktional äquivalente, untereinander flexibel substituierbare Ausdrucksmedien für "Beziehungsintimität" betrachtet werden. Ohne besondere Reflexion und Anstrengung sind alle kollokalen Partner ständig damit beschäftigt, durch variablen Einsatz dieser drei Strategien ihren Interaktionsprozess in einer Art "Fliessgleichgewicht" zu halten und gewisse Referenzparameter (der Intimität, Reagibilität, doppelten Kontingenz u.a.) aufrechtzuerhalten, die sich aus dem allgemeineren Charakter ihrer sozialen Beziehung ergeben.

Der Bedarf an Desensibilisierungen ist - ceteris paribus - umso grösser, je weniger die Partner einerseits bereit sind, ihre Beziehungen einem schwer kontrollierbaren Prozess wachsender Intimisierung auszuliefern, und je stärker andererseits die soziopetalen Kräfte sind, die sie dabei zu neutralisieren haben.

Daraus erklärt sich beispielsweise, warum (im Rahmen nicht-intimer Beziehungen) zwei Gesprächspartner unterschiedlichen Geschlechts weniger intensive Blickkontakte aufrechterhalten als Partner, die beide dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht angehören (Argyle/Dean 1965).

Dieses Vermeidungsverhalten mag dem doppelten Zweck dienen

  1. in kausaler Hinsicht sexuelle Stimulierungen zu unterbinden, deren unkontrollierbarer Eigendynamik sich die Partner nicht ausliefern wollen;
  2. in symbolisch-kommunikativer Hinsicht auszudrücken, dass trotz günstiger Situationsbedingungen (taktile Erreichbarkeit, Abwesenheit Dritter u.a.) keine Absicht besteht, sexuelle Komponenten ins dyadische Verhältnis einzubeziehen.
Auch Selbstbeschäftigungen finden innerhalb von Interaktionsprozessen mannigfache Verwendung mit dem Zweck
  1. die Teilnehmer temporär vor Fremdwahrnehmungen oder Interkationsaufforderungen abzuschirmen,
  2. im dichten Feld interpersoneller Rückkoppelungen das Ausmass an "doppelter Kontingenz" im Sozialsystem zu reduzieren.
Wer während eines Gesprächs plötzlich mit demonstrativer Hingebung seine Pfeife stopft, die Brille reinigt, an den Fingernägeln feilt, sich dem Weinglas zuwendet oder vorübergehende Passanten mustert, teilt andern dadurch mit, dass er momentan nur in reduzierter Weise am Kommunikationszusammenhang partizipiert.

Je nach den situativen Bedingungen kann er damit ausdrücken, dass er im Moment

  1. die andern nicht aufmerksam wahrnimmt: so dass diese sich in ihrem Verhalten unbehelligt fühlen können;
  2. auf vorgängige Handlungen oder Voten nicht reagieren will: z.B. weil er vorher nicht zugehört hat, Zeit zum Nachdenken benötigt, einen konfliktiven oder peinlichen Punkt umschiffen, das Thema wechseln oder vielleicht gar das Gespräch beenden möchte;
  3. sich gegenüber Interaktionsangeboten Anderer abschirmen möchte: z.B. um sich zu entspannen oder um sich für eigene Initiierungen genügend Spielraum zu bewahren.
Derartige "Nebenengagements" (vgl. Goffman 1971: 58ff.) können als mikroskopische Privatreservate begriffen werden, die den Vorteil haben, jederzeit praktisch voraussetzungslos zugänglich zu sein, aber auch den Nachteil, ohne explizite Rechtfertigungen nur für sehr begrenzte Zeitspannen zur Verfügung zu stehen.

Vom Standpunkt des Interaktionsteilsnehmers aus haben Nebenengagements die Funktion, temporäre Rückzugsmöglichkeiten aus dem unübersehbar dichten und unkontrollierbaren Feld wechselseitiger Wahrnehmungen, Beeinflussungen und Reaktionen zu eröffnen, um dadurch gewisse Freiräume für selbstreferentielle Aktivitäten und für die Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse zu gewinnen. Während gewisser Zeitspannen ist er davon dispensiert

  • seine volle (durch den sozial induzierten "Interaktionstonus" noch gesteigerte) Aufmerksamkeit dem Interaktionsfeld zuzuwenden,
  • sich den Wahrnehmungen und Reaktionsweisen Anderer unumschränkt zu exponieren
  • in einen nur begrenzt kontrollierbaren, irreversibel voranschreitenden Interaktionsprozess einbezogen zu werden.
Er kann solche Unterbrechungen als "Verschnaufpausen" nutzen, um vernachlässigte physiologische oder psychische Selbstregulationen seines personalen Systems wieder zur Geltung kommen zu lassen, oder als Vorbereitungsphase, um in nachfolgenden Interaktionssequenzen mit mehr Präzision und Planmässigkeit zu agieren.

Vom Gesichtspunkt des Sozialsystems aus betrachtet haben Nebenengagements die Funktion von "Interdependenzunterbrechern", die die Rückkoppelungsdichte auf ein besser überblickbares und manipulierbares Mass vermindern: indem sie z.B. dafür sorgen, dass gewisse Handlungen keine Gegenhandlungen induzieren, weil niemand sie wahrnimmt oder niemand disponiert ist, darauf zu reagieren.

Partner, die am Interaktionsfeld permanent mit ungeteilter, intensiver Aufmerksamkeit partizipieren, werden unter kollokalen Bedingungen normalerweise sehr viel Erwartungsunsicherheit und turbulente Dynamik erzeugen: weil jeder ständig damit rechnen muss, dass andere sein gesamtes Spektrum von Verhaltensweisen und Ausdruckskundgaben wahrnehmen und auf irgendwelche dieser Wahrnehmungen in irgendeiner Weise reagieren.

Entsprechend muss dann noch mehr Aufmerksamkeit aufgewendet werden, um die Folgen aufmerksamer Zuwendung in den Griff zu kriegen: d.h. um ständig auf dem Laufenden zu sein, wer welche Äusserungen wahrgenommen hat und welche Reaktionen in Anbetracht ihrer Stimmungen, Interessenlagen u.a. erwartet werden müssen.

Desensibilisierungen dienen dazu, solche positiv rückgekoppelten Eskalationsprozesse "kurzzuschliessen" und durch einen gegenläufigen Deeskalationsprozess zu ersetzen. So kann EGO sich dank dem in Nebenbeschäftigungen versunkenen ALTER selber besser legitimiert und in der Lage fühlen, sich ungestört seinen eigenen Nebenengagements zu widmen.

Die Ausdünnung des kollokalen Interdependenzfeldes dient dazu, das kollokale Interaktionsfeld von mannigfachen Störeinwirkungen abzuschirmen:

  1. von individuell bedingten Störungen, die in physiologisch oder psychologisch bedingten Zuständen und Verhaltensweisen der einzelnen Teilnehmer ihre Wurzel haben und sich teilweise auch ihrer eigenen Selbstkontrolle entziehen (Rülpser, nervöse Zuckungen, depressive Stimmungen usw.).
  2. von unbeabsichtigten disfunktionalen Folgen, die - wie z.B. eskalierende Konflikte - aus der dichten interaktiven Rückkoppelung entstehen.
So bieten Nebenengagements ein gewisses Korrektiv für die Tatsache, dass es in kollokalen Interaktionssystemen aus fundamentalen Gründen unmöglich ist, die personale und die soziale Systemebene hinreichend voneinander zu differenzieren: weil personell bedingte Verhaltensweisen (als "Ausdruckskundgaben") allzu unvermittelt das soziale Feld mitbeeinflussen oder gar mitkonstituieren, und weil umgekehrt die sozialen Prozesse individuelles Erleben, und Handeln allzu direkt mitdeterminieren.

Aus den damit verknüpften wechselseitigen Störwirkungen entsteht der Bedarf, auf zwei Ebenen für korrektive Entlastungs- und Reäquilibrierungsmöglichkeiten zu sorgen:

  1. indem man kollokale Interaktionszyklen als Ganzes zeitlich begrenzt und von translokalen oder alokalen Phasen umrahmen lässt, in denen die soziale und personale Systemebene in einem Zustand grösserer Verselbständigung zueinander stehen;
  2. indem man innerhalb kollokaler Interaktionszyklen mittels Desensibilisierung virtuelle "Schutzräume" erzeugt, die für die kurzfristige Absorption kleinerer Spannungen und Konflikte zur Verfügung stehen.
Diese beiden Mechanismen sind wohl in gewissem Masse substitutiv: so dass man Kollokalsysteme wahrscheinlich umso länger spannungsfrei in Gang halten kann, je mehr die Teilnehmer ihre Verknüpfungsdichte mittels selbstbezogener Nebenbeschäftigungen reduzieren.

In vielen Kollokalsystemen wird zum vornherein dafür Sorge getragen, dass die Teilnehmer während des gesamten Interaktionsablaufs einen hinreichenden Zugang zu (personell entlastenden und sozial stabilisierenden) Nebenengagements verfügen: z.B. indem sie ihr Zusammensein an gemeinsames Essen und Trinken, Kartenspiele, Diavorführungen oder andere "Anlässe zu geselligem Beisammensein" binden, oder beispielsweise auch an Wanderungen oder Busfahrten, während denen es legitim ist, das Aufmerksamkeitsfeld abwechselnd auf das soziale Nahfeld oder die umgebende Naturlandschaft zu fokussieren.

Besondere Bedeutung kommt den bei geselligen Zusammenkünften so verbreiteten alkoholischen Getränken zu, weil "hartes Trinken" gleich in doppelter Hinsicht desensibilisiert:

  1. als "Nebenengagement", das wie jedes andere dazu dient, in den Fluss wechselseitigen Wahrnehmens und Sprechens Trennpunkte zu legen,
  2. durch seine anaesthesierenden Wirkungen, dank denen der Pegel interpersonellen Wahrnehmens und Reagierens aus physiologischen Gründen in wechselseitig erwartbarer Weise sinkt.
Je weiter das Saufgelage voranschreitet, desto mehr kann sich jeder Kumpan dem wohligen Gefühl hingeben, von den andern nicht mehr genau beobachtet und zu präziser Kommunikation aufgefordert zu werden und infolgedessen einen wachsenden Spielraum für noch weitergehende Lockerungen seiner Verhaltenskontrolle verfügbar zu haben.


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Prof. Hans Geser
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