UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
 

Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29. Dezember 1996)

 

 

 


ERSTES KAPITEL:

ZUM FUNKTIONSVERHÄLTNIS ZWISCHEN KOLLOKALER, TRANSLOKALER UND ALOKALER SOZIALITÄT

 

1.1 Diachrone und synchrone Kombinationen

 Selbst bei höchstentwickelten Primaten wie Schimpansen und Gorillas darf man davon ausgehen, dass sich ihre sozialen Bindungen fast völlig auf kollokal induzierte Formen der Kollektivierung beschränken: weil ihnen für alokale Beziehungen die psychischen und kulturellen und für translokale Interaktionen natürlich auch die technischen und organisatorischen Voraussetzungen fehlen.

 Das geringe Abstraktionsvermögen bewirkt, dass die jeweils anwesenden, sinnlich wahrnehmbaren Artgenossen unweigerlich das Zentrum des Aufmerksamkeitsfeldes besetzen, während Abwesende zwar wohl in Erinnerung behalten werden, kaum aber mit verhaltenslenkender Kraft virtuell gegenwärtig bleiben (vgl. z.B. Kummer 1971: passim). Und a fortiori fehlt die Vorstellung personenunabhängig konstituierter Kollektive oder Verbände, die jenseits aller konkreten Einzelinteraktionen zum Objekt symbolischer Repräsentation und (z. B. durch ein Konzept der "Mitgliedschaft") zu einer Bezugsebene der Identifikation und des Handelns werden könnten.

 Entsprechend findet sich der Tiersoziologe in einer komfortablen methodologischen Situation: insofern objektivistisch fassbare räumliche Distanzen oder Häufigkeiten körperlicher Berührung ausreichend sind, um über die Qualität interindividueller Sozialbeziehungen wie auch über die Struktur des Gesamtkollektivs adäquaten Aufschluss zu gewinnen (vgl. z.B. Wilson 1975: passim).

 Demgegenüber muss eine derart naturalistische Deskriptionsweise beim Menschen selbst für die Erfassung primitivster Formen der Vergesellschaftung völlig versagen, weil sich der Homo Sapiens in allen bekannten kulturellen Milieus in einer zumindest dual konstituierten Sozialität vorfindet, bei der sich kollokale und alokale Bindungen ungefähr die Waage halten und einander wechselseitig relativieren.

 So konstituieren sich Jäger- und Sammlergesellschaften auf dem Dualismus zwischen

-    kollokalen Sozialbindungen innerhalb der Residenzgruppe ("local band"), deren ausserordentliche zentripetale Integrations­wirkung darauf beruht, dass sie für die   Mitglieder praktisch den "Gesellschaftskontext" bildet, innerhalb dem sich all ihre alltäglichen Aktivitäten und Interaktionen vollziehen (vgl. Lee/De Vore 1968).

-    alokalen Beziehungen, wie sie aus Verwandtschaftsbindungen oder der Zugehörigkeit zu Totemgemeinschaften entstehen und dazu dienen, im Verhältnis zwischen verschiedenen Residenzgruppen Solidaritätsbindungen zu stiften, sowie das Überleben der Gesellschaften während (saisonal bedingter} Phasen ökologischer Dispersion zu sichern (vgl. z.B. Service 1971: 62f.).

 Vor allem das Konzept "Verwandtschaft" hat sich über alle Phasen menschlicher Geschichte hinweg als ein universelles Prinzip raumindifferenter Sozialintegration erwiesen, das einerseits irreversible Fragmentierungen menschlicher Populationen in autarke Lokalgruppen verhindert hat, andererseits aber in kollokalen Sozialsystemen immer wieder als Ursache für innere Spaltungen, Spannungen und offene Konflikte wirksam wurde (vgl. Simmel 1908: 513).

 Universell verbreitete Inzestverbote und Exogamieregeln haben dazu beigetragen, dass kollokale und verwandtschaftliche Sozialintegration als zwei von einander differenzierte Bindemedien mit unterschiedlicher Reichweite und Funktionalität erhalten geblieben sind, und dass menschliche Sozialverhältnisse mit mannigfachen Ambivalenzen, Loyalitätskonflikten und "cross pressures" durchsetzt blieben, die sich als eine wichtige Voraussetzung für die innere Dynamisierung und erstaunliche Evolutionsfähigkeit der sozialen Strukturformationen (auf Makro- und Mikroebene) erwiesen haben.

Denn einerseits mussten Lokalgruppen infolge ihrer verwandtschaftlichen Aussenverflechtungen immer offene, austausch- und kooperationsbereite Sozialsysteme bleiben, und andererseits wurden verwandtschaftliche Solidaritäten immer wieder durch den Zwang relativiert, im lokalen Rahmen einen von familiären Herkunftsbindungen unabhängigen Modus vivendi zu finden.

 So ist für agrargesellschaftliche Dorfsiedlungen immer ein Zustand labiler, "soziofugaler" Koexistenz zwischen verschiedenen Familien oder Sippen mit ihren konkurrierenden Besitz- und Nutzungsansprüchen charakteristisch geblieben (vgl.: König, 1958: 109ff.): und die politische Geschichte der Städte koinzidiert praktisch mit der Geschichte jener vielfältigen (im okzidentalen Kulturraum bekanntlich besonders erfolgreichen) Versuche, zwischen rivalisierenden Geschlechtern, Ethnien oder Religionsgruppen eine übergreifende Einheit zu stiften (vgl. Weber, 1972: 741ff.). Die dabei zu lösenden Probleme waren aber nicht prinzipiell anders als innerhalb einfacher Jäger- und Sammlergruppen, deren Mitglieder auf Grund exogamer Durchmischung ihre je eigenen, den Lokalkontext in verschiedene Richtungen transzendierenden, Herkunftsloyalitäten aufrechterhalten haben.

 Vielleicht diesem über Jahrhunderttausende eingeübten Grundmodell nachgebildet, scheinen die meisten heute bekannten Sozialverhältnisse in einer - je nach ihrer Form unterschiedlichen - Kombination kollokaler und nicht-kollokaler Komponenten ihre optimale Gleichgewichtslage und Funktionsfähigkeit zu finden.

 Zwar mögen in moderneren Gesellschaften häufiger als früher Fälle vorkommen, wo jeweils einer der Sozialitätstypen in idealtypischer Reinheit in Erscheinung tritt:

-    reine Kollokalität z.B. bei transitorischen Begegnungen (im Zug, Restaurant, Flugzeug u. a.), die im urban-mobilen Lebensmilieu allein aus zufälliger zeitweiser Ko-Präsenz entstehen und keine über den Zeitpunkt des Auseinandergehens hinausgehenden Sozialbeziehungen induzieren;

-    reine Alokalität z.B. bei institutioneller Zuweisung von Mitgliedschaften und Statuspositionen (Verwandtschaft, Staatsbürgerschaft, Konfessionalität u. a.), die ohne jegliche Interaktionsprozesse erworben wurden und auch ex post keine interaktiven Vorgänge induzieren;

-    reine Translokalität schliesslich bei technologisch vermittelten Ferninteraktionen, die sich auf das Medium eines dafür geeigneten Übertragungskanals (Telephon, Email u. a.) beschränken.

 Andererseits wird der untypische und residuale Charakter derart extremaler Fälle an der Regelmässigkeit deutlich, mit der sich bei allen differenzierteren, mit Begriffen wie "Sozialbeziehung", "Primärgruppe", "Organisation" oder "Institution" umschriebenen soziologischen Gebilden die drei Bezüge zum Raum entweder diachron abwechseln oder synchron miteinander verbinden.

 1) Diachrone Phasendifferenzierung

 Vor allem für kleinere und/oder strukturell wenig differenzierte Sozialsysteme ist charakteristisch, dass

- reversible Zyklen zwischen Phasen der Kollokalität, Alokalität und Translokalität vollzogen werden,

- irreversible Prozesse der Systemevolution stattfinden, in deren Verlauf sich die den verschiedenen Phasen zugeordneten Zeiträume und Gewichtsverhältnisse systematisch ändern.

 So gilt für jede Freundschaftsbeziehung, dass sie sich keinesfalls in den objektiv so gut fassbaren "Aktualphasen" physischen Beieinanderseins (mit all ihrer Vielfalt an sinnlichen Wahrnehmungen, emotionalen Reaktionen und mündlichen Kommunikationen) erschöpft. Vielmehr gehören gleichwertig auch ihre "Latenzphasen" dazu, während denen die Partner aneinander denken, einander die Treue halten oder Vorbereitungen für zukünftige Zusammenkünfte treffen (Schütz, 1974: 249).

 Das Verhältnis beider Phasen wird durch komplexe, widerstrebende Kräftegruppen in einem labilen und im Zeitablauf leicht veränderbaren Gleichgewicht gehalten: indem die kollokalen Abschnitte z.B. der rituellen Bestätigung, sinnlichen Regeneration und allgemeinen Weiterentfaltung der Beziehung dienen, während die alokalen Intermediärphasen dazu beitragen, Gelegenheiten für wechselseitige Vertrauens- und Treueerweise zu schaffen, zusätzliche emotionale Bindekräfte (z.B. in Form von "Sehnsucht") zu mobilisieren, oder die Beziehung vor den Risiken zu schützen, die mit einem unkontrollierten wechselseitigen Eindringen in die Privatsphäre verbunden sein können (vgl. Simmel 1908: 480ff.).

 Auf höherem Aggregationsniveau stellen vor allem "freiwillige Vereinigungen" (Vereine, Verbände u. a) einen Systemtypus dar, dessen Komplexität sich eher im diachronen Wechsel verschiedener Strukturzustände anstatt - wie etwa bei "Betriebsorganisationen" - im synchronen Zusammenwirken funktional spezialisierter Strukturkomponenten, entfaltet.

Kollokale Phasen sind häufig auf vorausgeplante und scharf eingegrenzte Zeitabschnitte (Generalversammlungen, Kongresse, Vorstandssitzungen, Festivals u. a.) beschränkt, die der expressiven Artikulation gemeinsamer Werte und Ziele, der Erarbeitung verbindlicher Entscheidungen, der Lösung von Konflikten sowie der rituellen Existenzbekräftigung der Organisation für Mitglieder und Aussenstehende dienen. Dazwischen spannen sich lange Phasen praktisch völliger Alokalität, die nur durch translokale Interaktionen (wie z.B. den Versand von Zeitschriften oder die Einzahlung von Mitgliederbeiträgen) gemildert werden. Während solcher Intermediärphasen sehen sich die räumlich verstreuten Mitglieder einerseits auf ihre subjektiven Dispositionen (Identifikationen, Loyalitäten) und andererseits auf objektive Symbolmuster (z.B. formalisierte Regeln, Pflichtenhefte oder andere Korrelate ihres formalen Mitgliedschaftsstatus) verwiesen, um ihrer Organisationszugehörigkeit konkrete verhaltensprägende Geltung zu verleihen.

 Auf noch umfassenderen Niveau schliesslich können "soziale Bewegungen" als extensive, unscharf abgrenzbare Felder spontaner Konsenskristallisation betrachtet werden, die je nach konkretem Anlass kollokale Ausformungen von transitorischer Existenz (z.B. Massendemonstrationen) aus sich entlassen oder formale Organisationen ("social movement industries") ausbilden, die - wie z.B. aus der Arbeiterbewegung hervorgegangene Gewerkschaften oder sozialistische Parteien - zu eigenständigen Trägern verdichteter Kollokalität werden können (vgl. z.B. Oberschall, 1973: passim; McCarthy/Zald 1987).

 Äusserst naheliegend und empirisch gut zugänglich, aber momentan noch völlig unerforscht ist die Frage nach den generellen Gesetzlichkeiten, die die Oszillationsfrequenz und die Zeitaufteilung zwischen kollokalen und alokalen Phasen bestimmen, und wie sich diese Verhältnisse in Korrelation mit der äusseren Umwelt und der inneren Systemstruktur, vor allem aber auch mit dem Entwicklungsstadium eines sozialen Gebildes, verändern.

 Auf Grund der vielfältigen Voraussetzungen und funktionalen Eigenschaften jedes Phasentypus (vgl. unten) können derartige Fragen wohl immer nur unter Mitberücksichtigung zahlreicher Randbedingungen des jeweils spezifischen Falles beantwortet werden. Zum Beispiel muss man mit dem Paradoxon umgehen, dass gesteigerte Kollokalität (z.B. das Konnubium bei einer heterosexuellen Partnerschaft) als Indikator und symbolischer Ausdruck einer intensiven und dauerhaften Sozialbeziehung fungiert; während umgekehrt ein konsolidiertes Sozialverhältnis gerade dadurch charakterisiert ist, dass es gegenüber langen Phasen der Alokalität unempfindlich bleibt, oder dass sich häufige Zusammenkünfte von Vereinsmitgliedern in dem Masse erübrigen, als sie die meisten geltenden Parameter ihrer Organisation bereits erfolgreich ausgehandelt und festgelegt haben (vgl. z.B. Marcus 1966).

 

2) Synchrone Strukturdifferenzierung

 Auf der Ebene von Organisationen und Institutionen besteht eine der bedeutsamsten, in der bisherigen Forschungsliteratur aber fast völlig vernachlässigten Dimensionen struktureller Differenzierung darin, dass kollokale, translokale und alokale Formen der Assoziierung in ihrer jeweils besonderen Eigenlogik nebeneinander koexistieren und in einem funktional komplementären, teilweise aber auch spannungsvoll-konfliktiven Interdependenzverhältnis zueinander stehen.

 So erschliesst sich die volle soziologische Realität einer betrieblichen Formalorganisation (Verwaltung, Industriebetrieb, Klinik, Schule u. a.) nur dadurch, dass man

- die statusmässige Einbindung der Mitglieder auf der Basis ihrer völlig alokalen formalen Mitgliedschaft,

- die rollenmässige Integration derselben Teilnehmer auf der Basis ihrer regelmässigen Anwesenheit und Arbeitsleistung an der gemeinsamen Betriebsstätte,

gleichgewichtig einbezieht.

 Der alokale Mitgliedschaftsstatus gewährleistet, dass über praktisch beliebige Phasen von Absentismus (Krankheit, Streik, Ferien u.a.) hinweg eine völlig invariante Basisbindung aufrechterhalten bleibt, dank der kollokale Anwesenheits- und Kooperationspflichten jederzeit reaktivierbar bleiben.

 Als "heterolokal" mögen soziale Gebilde bezeichnet werden, in denen sich die Mitglieder verschiedener Subsysteme hinsichtlich der räumlichen Beziehungen, in denen sie zueinander stehen, deutlich voneinander unterscheiden: wobei je nach der Anzahl, Stellung und Funktion der kollokalen Systemkomponenten eher "zentralisierte" und eher "dezentralisierte" Typen unterschieden werden können.

 Zentralisierte Heterolokalität findet sich bei jenen überräumlich konstituierten Organisationen oder Institutionen, die eine monozentrische, vorrangig der Führung und Verwaltung des Gesamtsystems dienende Kollokalstruktur besitzen:

 - Parteien oder Gewerkschaften, bei denen permanente Leitungsstäbe, Sekretariate oder Verwaltungszentralen die "Stetigkeit der Leitung" (Weber) garantieren und zum Kreis der formalen Mitglieder (bzw. informeller "Sympathisanten) vorrangig translokale Radialbindungen aufrechterhalten;

- politische Gebietskörperschaften, die in den dichtgewobenen Interaktionsbeziehungen auf Parlaments- und Regierungsebene ihr "Nervenzentrum" besitzen;

- Zeitungen und Rundfunkanstalten, die ihre translokal verbreiteten Botschaften von einer punktuell lokalisierten Sendezentrale aus diffundieren;

- regional oder weltweit ausgedehnte Gesellschaftsräume, die von einzelnen Stadtmetropolen (z.B. Rom, Alexandria, Paris u. a.) kontinuierliche Anstösse zu kultureller Innovation oder modischem Wandel erfahren.

 Grössere und komplexere Sozialsysteme scheinen ausschliesslich mittels einer monozentrischen kollokalen Kernstruktur in der Lage zu sein, ihre Fähigkeit zur entscheidungsmässigen Selbststeuerung (d.h. ihren Charakter als "Verbände" im Sinne Max Webers) zu bewahren. Oder anders gesagt: sie können paradoxerweise nur in dem Masse formale Organisationen sein, als sie in ihrem Zentrum auf urtümlichsten Mechanismen physischer Anwesenheit und interpersoneller Wahrnehmung beruhende (d.h. überaus "informelle") Interaktionsfelder aufrechterhalten.

 Dezentralisierte Heterolokalität besteht im umgekehrten Falle, dass zahlreiche kollokale Subsysteme als konstituierende, operative oder reproduktive Subeinheiten eines alokalen Feldes fungieren, das selbst nicht zu einheitlichem kollektiven Handeln befähigt ist.

 -    Die industrielle Ökonomie ist das Erzeugnis eines Evolutionsprozesses, der die kollokale Verdichtung von Produktionsprozessen in betrieblichen Produktionsstätten und die Expansion raumunabhängiger Marktstrukturen als zwei miteinander streng korrelierende Erscheinungen umfasst.

-    Die optimale Funktionsfähigkeit der modernen Wissenschaft scheint in kritischer Weise davon abzuhängen, dass lokal verdichtete standortgebundene Kooperationsstrukturen (Forschungsinstitute) und überräumliche, teilweise sogar weltumspannende Kommunikationsnetzwerke und professionelle Referenzgruppen in einem gewissen Gleichgewicht zueinander stehen (vgl. Ben-David, 1971; Geser 1975: 1977).

-    Die Institution der Familie lebt nach wie vor im urtümlichen Polarisationsfeld zwischen den Kollokalbindungen in lebensgemeinschaftlichen Haushalten und den völlig alokalen Verknüpfungen auf der Basis formaler Verwandtschaftsrelationen, deren funktionale Komplementarität gewährleistet, dass diese traditionsreichste universellste gesellschaftliche Institution unter beliebigen Situationsbedingungen überlebensfähig bleibt.

-    Soziale Klassen reproduzieren sich auf der Basis ganzer "Galaxien" von Familien, Nachbarschaftssiedlungen, Schulen u. a., die sich in analoger, aber jeweils auf die besonderen lokalen Verhältnisse bezogener Form an der Überlieferung, Sozialisierung und Implementierung schichtspezifischer Kulturmuster und Verhaltensweisen beteiligen (vgl. Dunphy 1972).

 Gerade die Eigenzentriertheit und schwierige Aussenkontrolle der verschiedenen kollokalen Subeinheiten (vgl. Kap. 4) kann es erschweren, eines davon soweit zu privilegieren, dass es zur Kernstruktur werden und dem Gesamtsystem "Verbandscharakter" verleihen kann. Oder anders formuliert: Je grösser die Binnenkohäsion und die Selbstregulation koexistierender kollokaler Subeinheiten, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie (wie z.B. benachbarte Familienhaushalte) nur in punktuell-transitorische Beziehungen zueinander treten und damit verhindern, dass die umfassende Systemebene kollektive Handlungsfähigkeit gewinnt.

 Dennoch gibt es hinreichende Beispiele für den komplexesten, natürlich besonders spannungsreichen Fall, dass sich zentralisierte und dezentralisierte Heterolokalität innerhalb desselben institutionellen Rahmens miteinander verbinden. Kaum ein Staat kann beispielsweise darauf verzichten, beim Vollzug seiner Gesetze, aus der besonderen Leistungsfähigkeit örtlich verdichteter Siedlungseinheiten (Gemeinden, Städte) Nutzen zu ziehen; und die katholische Kirche als vielleicht unräumlichstes aller Sozialgebilde muss sich auf die im Rahmen von Pfarreien, Gottesdiensten, Pilgerversammlungen etc. wirksam werdenden Integrationskräfte verlassen, um die Darstellung ihrer Symbole und die Teilnahmemotivation ihrer Gläubigen sicherzustellen. Ebenso stellt die multinationale Unternehmung schliesslich ein grundsätzlich alokales Gebilde dar, das seine Operativität durch eine Pluralität von Betriebsstätten und seine Integration durch den Monismus einer übergeordneten Verwaltungszentrale sichert.

 Die Integration derartiger Mehrebenensysteme pflegt in jedem Fall auf einem labil-spannungsvollen Gleichgewicht zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräftegruppen zu beruhen: weil den formalen Ansprüchen auf umfassende zentralistische Steuerung die Tatsache entgegensteht, dass die Binnenprozesse der kollokalen Subeinheiten infolge ihrer Fluidität und Informalität

-    einerseits von aussen nicht gut erkennbar und kontrollierbar sind,

-    andererseits aber unbedingt intakt gehalten werden müssen, weil auf die dadurch ermöglichten Funktionsleistungen (der Motivierung, Sozialisation, kooperativen Feinsteuerung usw.) nicht verzichtet werden kann.

 In rein induktiver Sichtweise gewinnt man den Eindruck, dass soziale Gebilde jeglicher Zusammensetzung, Binnenstruktur und gesellschaftlicher Funktion von transitorisch oder permanent ausdifferenzierten Feldern kollokaler Interaktion abhängig sind, um ihren inneren Zusammenhalt und ihre äussere Adaptationsfähigkeit zu bewahren. Und im besonderen scheint es keine formal organisierten Sozialsysteme zu geben, die ihre Fähigkeit zu kollektivem Entscheiden und Handeln nicht auf dieselben urtümlichen Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse physisch anwesender Individuen abstützen würden, wie sie etwa das Verhältnis zwischen Mutter und Kind oder die Beziehungen innerhalb primitiver Jäger- und Sammlergruppen dominieren.

 Ein zweiter induktiver Blick führt zum dem nun keineswegs mehr überraschenden Ergebnis, dass raumgebundene und überräumliche Sozialfelder in einem charakteristischen funktionalen Komplementaritätsverhältnis zueinander stehen, und dass es einige klar identifizierbare, universelle Funktionen gibt, die bevorzugt oder gar ausschliesslich im dichten und diffusen Interdependenzfeld körperlich anwesender menschlicher Personen bewältigt werden können.

Dieser Mangel an funktionalen Äquivalenten wird gerade in der modernen "Weltgesellschaft" besonders deutlich, wo Politiker, Wissenschaftler, Verkaufsleiter oder Unterhaltungsstars erstaunliche Mengen an Zeit, Geld und Mühe in weite Reisen investieren, anstatt modernere translokale Kommunikationstechniken (z. B. elektronische Videokonferenzen) zu benutzen, und wo euphorische Hoffnungen auf die Motivationskraft des "persönlichen Gesprächs" oder das Kreativitätspotential der "offenen Gruppendiskussion" in vielen Institutionen der Anlass sind, eine hypertrophische Kommissions- und Sitzungskultur zu entfalten, die hochkarätigen Kadermitgliedern rigide zeitliche Koordinations- und räumliche Anwesenheitszwänge auferlegt.

 

1.2. Funktionen der Kollokalität in sozialen Systemen

 1) Sozialisation

Alle trans- und alokalen Formen menschlicher Sozialität sind auf ihnen vorausgehende Kollokalfelder angewiesen, in denen sich die frühkindliche Ontogenese des Persönlichkeitsystems sowie die darauf folgende spezifischere Enkulturation der an ihr teilnehmenden Individuen vollzieht.

Ist die Gesellschaft insgesamt an die Funktionalität der Familie mit ihren fundamentalsten, generellsten Sozialisationsleistungen gebunden, so vollzieht sich in der Gemeinde die primäre Sozialisation in politische Rollen (vgl. Geser 1977); an Universitäten die Einsozialisierung in die Wissenskultur weltweiter wissenschaftlicher Professionen und in kleinen Arbeitsteams die Assimilation an die informellen Regeln und Praktiken des grossen Betriebs. Auch sehr spezifische Verhaltens- oder Einstellungsänderungen scheinen sich bevorzugt im Medium dichter interpersoneller Wahrnehmung, Kommunikation und Beeinflussung kollokaler Primärgruppen zu vollziehen: so dass translokal rezipierte Massenmedieninhalte häufig nur vermittelst derartiger informeller Intermediärstrukturen eine nachhaltige Wirkung entfalten (vgl. Lewin 1958; Katz 1957 u. a.).

 

2) Komplexe Verfahren sozialer Konsensbildung und Entscheidungsfindung

Vorstands- und Kommissionssitzungen, Delegiertenversammlungen und internationale Konferenzen, vielschichtige Sozialpartnerverhandlungen oder subtile Beratungsgespräche beziehen ihre Unentbehrlichkeit alle daraus, dass es im Medium der Kollokalität weitaus am besten gelingt, komplexe Prozesse der Konfliktregulierung, Entscheidungsfindung und Konsensbildung speditiv zu bewältigen. Dieser Vorteil hängt gleichermassen mit der intensiven und kurzfristigen Rückkoppelung wie auch mit der qualitativen Vielfalt der systeminternen Kommunikations- und Interaktionsvorgänge zusammen und wiegt besonders schwer, wenn

- die Beteiligten zu Beginn des Prozesses nur wenig Konsens über Verfahrensweisen, Zielsetzungen usw. voraussetzen können;

- jeweils einmalige, in immer wieder anderer Form auftretende Problemvarianten zu bewältigen sind, so dass keine vorstandardisierten Verfahrensregeln zur Verfügung stehen.

Verhandlungs-, Schichtungs- und Gerichtsverfahren jeglicher Art illustrieren die Regularität, dass soziale Konflikte auch dann, wenn sie in der translokalen oder alokalen Sphäre entstanden sind, meist nur im Medium kollokaler Interaktion einer Behandlung und Lösung zugeführt werden können. Und die mit wachsender "task uncertainty" zunehmende Frequenz von informellen Konsultationen und Gruppensitzungen (vgl. Van de Ven/Delbecq/König 1976) zeigt deutlich, dass Organisationen ihre Mitglieder um so stärker in aufwendige kollokale Gruppeninteraktion einbinden müssen, je weniger sie sich auf ex ante vorstrukturierte, formalisierte Koordinationsverfahren abstützen (können).

 

3) Genese sozialer Beziehungen und Systeme

Ähnlich wie die Ontogenese der Persönlichkeitssysteme (vgl. oben) scheint sich auch die primäre Entstehungsphase sozialer Systeme weitestgehend im Interaktionskontext physisch anwesender Individuen zu vollziehen. Die Zufallsbegegnung als Ausgangspunkt für Bekanntschaft, Freundschaft, Partnerschaft oder Ehe, der um den charismatischen Führer gescharte Jüngerkreis als Keimzelle einer Weltreligion; die "Rütliversammlung" als Gründungsakt der schweizerischen Eidgenossenschaft oder der "Wiener Kongress" als Ursprung der europäischen Staatenstruktur des 19. Jahrhunderts - überall manifestiert sich dieselbe endogene Kapazität kollokaler Begegnungen zur Autokatalyse von sozialen Strukturen, die sich nachher von ihrem Entstehungskontext ablösen und im Medium der Translokalität oder Alokalität überdauern können.

 Vor allem in Phasen der Weiterentwicklung oder Umbildung sehen sich soziale Systeme genötigt, dem "verflüssigten" Aggregatzustand kollokaler Interaktion (z.B. durch höhere Frequenz und Dauer von Mitgliederversammlungen oder Gremiensitzungen) mehr Raum zu gewähren: während alokale Zeitperioden eher "Erstarrungsphasen" darstellen, bei denen kollokal generierte Strukturverhältnisse und Konsensbildungen oft allein aus Mangel an Kommunikation unverändert kontinuieren (vgl. Schütz, 1962: 249).

 

4) Kulturelle Innovationen

Neben der Genese personaler und sozialer Systeme scheint auch die Entstehung neuartiger kultureller Muster an das Substrat kollokaler Interaktion gebunden, weil dank intensiver Rückkoppelungen die Kommunikabilität und Akzeptanz neuer Kreationen gut ausgetestet werden kann, und weil sie meist zuerst in einem primären Kreis von Rezipienten und Mitgestaltern jene Form finden müssen, dank der sie translokal diffundierbar und/oder in externalem, interaktionsunabhängigem Aggregat Zustand speicherbar werden.

 So hat sich die am Hof des Königs verdichtete Adelsgesellschaft zur Zeit des Absolutismus als ein höchst aktives Innovationszentrum für neue Formen des ("höflichen") Verhaltens u. a. m. erwiesen (Elias, 1983); und die wohl immer unersetzliche gesellschaftliche Funktion der Grossstadt besteht darin, dass in ihren vielfältigen informellen Zirkeln und öffentlichen Lokalitäten (Kneipen, Galerien, Theater u. a.) kulturelle Innovationen ausgebrütet, selegiert und vorgeformt werden, die nachher in standardisierter Form (z.B. als verfilmtes Musical, gängiger Sprachjargon, standardisierter Tanzrhythmus, Konfektionskleid oder Versandhausartikel) ihre translokale Ausbreitung finden.

 

5) Objektivierende Repräsentation sozialer Kollektive und kultureller Muster

Die gemeinsame Anwesenheit mehrerer Personen erzeugt ein sinnlich objektiv wahrnehmbares, für Teilnehmer und äussere Beobachter gleichermassen evidentes "Miteinander", ein in der physischen Welt positiver Faktizität wurzelndes Gebilde, dessen Existenz und Umfang

-    im Unterschied zu blossen Identifikations- und Bezugsgruppen unabhängig von subjektiven psychischen Dispositionen und

-    im Unterschied zu formalen Institutionen unabhängig von Schriftdokumenten oder andern kulturellen Mustern

gesichert ist (vgl. Kap. 4).

 Dank dieser autonomen Konstitutionsweise eignen sich kollokale Personenaggregate, um als "lebende Symbole" unüberbietbar deutlich die Existenz und Identität eines überräumlichen sozialen Gebildes zu einer örtlich begrenzten, aber dafür um so sichtbareren Darstellung bringen. Vor allem nicht formalisierte Sozialsysteme sind völlig auf dieses physische Medium der Selbstdarstellung angewiesen: Ein unverheiratetes Paar benötigt dringender als das Ehepaar das regelmässige Konnubium, um - im Innen-wie im Aussenverhältnis - dem konsensualen Willen zum gemeinschaftlichen Zusammenleben Ausdruck zu verleihen; und die noch nicht in formale Organisationen geronnene soziale Bewegung verliert jegliche Existenz, wenn nicht gelegentliche Massendemonstrationen, "sit-ins", Sternmäsche u.a. ihren Weiterbestand bezeugen. Aber auch gewerkschaftliche Jahreskongresse, wissenschaftliche work shops, liturgische Messfeiern, militärische Paraden oder Verwandtentreffen anlässlich von Taufe, Heirat oder Beerdigung dienen ungeachtet ihrer übrigen Funktionen immer auch dem Zweck, sowohl den Mitgliedern wie auch aussenstehenden Dritten die Existenz, den Zusammenhalt, die beeindruckende Grösse und die Funktionsfähigkeit eines im Prinzip alokalen Kollektivgebildes überzeugend vor Augen zu führen.

 

6) Verdichtete Kooperation und Kontrolle

Kollokalität bietet die günstigste Voraussetzung, um individuelles Handeln unter Bedingungen maximaler sozialer Kontrolle, permanenter Beeinflussung und differenzierter koordinativer Steuerung stattfinden zu lassen: so dass es möglich wird, trotz hoher komplementärer Differenzierung und zeitlicher Variabilität des Rollenverhaltens ein hohes Niveau an Gesamtintegration und berechenbarem Kollektivhandeln aufrechtzuerhalten. Entsprechend war z.B. die Konzentration der Handwerker im Manufakturbetrieb eine notwendige Voraussetzung, um nachher zur industriellen Zerlegung und Rationalisierung der Arbeitsvorgänge übergehen zu können (Braverman 1974: 59), und die Verdichtung verschiedener öffentlicher Verwaltungsstellen im selben Gebäude kann unentbehrlich sein, wenn vielschichtige, hohe Koordination erfordernde administrative Probleme bewältigt werden müssen (vgl. Geser,1981: 227ff.).

 

7) Feinadaptation an partikuläre Situationen und Personen

Aus der Perspektive des überräumlichen Gesamtsystems bildet jede kollokale Subeinheit eine partiell autonome "periphere Grenzstation", zu der es sich in einem teils symbiotischen, teils spannungsvoll-konfliktiven Verhältnis befindet.

Die symbiotische Beziehung entsteht dadurch, dass allein das kollokale Feld in der Lage ist, den partikulären Bedingungen verschiedener lokaler Umweltnischen oder den idiosynkratischen Merkmalen einzelner Mitglieder Rechnung zu tragen: so dass sie mit wachsender Heterogenität und zeitlicher Variabilität der Teilumwelten und der Mitglieder stark an Bedeutung gewinnen. So bilden die einzelnen Gemeinden für den Staat derartige Peripherstellen, in denen sich eine mit lokalen Gegebenheiten gut vereinbare, dennoch aber institutionell stabilisierte und legitimierte Vollzugspraxis öffentlicher Gesetze einspielen kann (vgl. Lipsky 1976, Geser 1987a: 28f.); und die Reichweite kirchlichen Einflusses wäre viel geringer, wenn die generellen institutionellen Normen nicht innerhalb der örtlichen Pfarreien mit den Bedürfnissen und Gepflogenheiten der Lokalbevölkerung vermittelt würden.

Das konfliktive Verhältnis rührt natürlich daher, dass sich im Kollokalsystem deviante subkulturelle Differenzierungen ausprägen können, die sich nicht nur der Kontrolle durch die Institution entziehen, sondern oft nicht einmal der Steuerung durch die Teilnehmer selbst zugänglich sind. So kann eine von Unterschichten bewohnte brasilianische "favela" zu einer resistenten Solidargemeinschaft werden, die den Vollzug staatlicher Polizeimassnahmen erfolgreich blockiert (vgl. Leeds 1973); und im geschlossenen Kleinbüro können leicht Gewohnheiten Platz greifen, die den Prinzipien effizienter, einheitlicher Betriebsführung widersprechen (vgl. Fritz 1982).

 Alle Sozialsysteme erhalten eine Komponente innerer Labilität, Widersprüchlichkeit und Wandelbarkeit auf Grund der Tatsache, dass ihre Mitglieder gleichzeitig dem alokalen Gesamtfeld und irgendeiner seiner kollokalen Subeinheiten angehören und die Inkongruenzen beider Perspektiven ständig zu einem gewissen Ausgleich bringen müssen.

 Zusammenfassend liesse sich formulieren, dass überräumliche Sozialsysteme kollokale Subeinheiten für all jene Funktionen in Dienst nehmen müssen, die eine hohe Intensität sozialer Kommunikations- und Interaktionsprozesse erforderlich machen. Ein unkontrolliertes, strukturerodierendes Hineinfluten dieser Prozessualität wird dann dadurch vermindert, dass diese kollokalen Subeinheiten insuliert werden, oder dass sich das System nur gegenüber einem einzigen, seiner Verwaltung und Führung dienenden, Kollokalsystem (z.B. Parlament, Regierungskabinett u.a.) sensibilisiert.

 Genau umgekehrt sind Kollokalsysteme oft darauf verwiesen, sich im überlokalen Raum "Struktur auszuleihen", um nicht alle Vorbedingungen ihres Funktionierens endogen erzeugen zu müssen, und um nicht in einem Eskalationsprozess unkontrollierter Rückkoppelungen irgendwohin abgetrieben zu werden. Dies geschieht typischerweise dadurch, dass die in der alokalen Sphäre fixierten Statusdifferenzierungen, Verfahrensregeln, Verteilungsprinzipien oder Themenstellungen auch in der Kollokalgruppe Beachtung finden, so dass eine funktionsfähige Primärstruktur erzeugt wird, von der dann autonome weitere Strukturbildungen ihren Ausgang nehmen können (vgl. z.B. Gillespie/Birmbaum 1980)

 Müssen Alokalsysteme den Influx von prozessualer Dynamik aus der kollokalen Sphäre begrenzen, so stellt sich bei Kollokalgruppen das umgekehrte Problem, die Induktion struktureller Erstarrung aus dem alokalen Umfeld in Grenzen zu halten: z.B. indem gesellschaftliche Prestigerangordnungen durch differierende Kriterien "persönlicher Wertschätzung" teilweise ausser Kraft gesetzt werden (vgl. Wurzbacher/Pflaum 1954: 73; Faunce/Smucker 1969), oder indem man sich den Luxus leistet, den simplifizierten Regeln der Formalorganisationen einen Vorrat vielfältiger, ständig revidierbarer Rollenverteilungen oder Verfahrensnormen entgegenzusetzen (vgl. Strauss 1964: passim).


 

 


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