Ein theoretischer Integrationsversuch
(29 Dezember 1996)
DRITTES KAPITEL:
"SINNLICHE WAHRNEHMUNG" ALS
MEDIUM SYSTEMISCHER AUSDIFFERENZIERUNG UND INTEGRATION
3.1 Einleitung
Über alle unzweifelhaften Unterschiede ihrer inneren
Strukturdifferenzierungen und Prozessabläufe sowie ihrer externen
Abgrenzungen und Umweltbeziehungen hinweg haben die auf der Basis von
Kollokalität begründeten Sozialsysteme die Gemeinsamkeit, dass sich die
wechselseitigen Beziehungen der Interaktionspartner (wie auch ihre
Beziehungen zur gemeinsamen Umwelt) zumindest zu einem guten Anteil über
das Medium sinnlicher Wahrnehmung konstituieren.
Im Kontrast etwa zu internalisierten Werten und Normen, kulturellen
Traditionen, Referenzgruppenbeziehungen, arbeitsteiligen Interdependenzen,
Autoritätsverhältnissen und andern auch über räumliche Distanzen
hinweg wirksamen sozialen Bindekräften lassen sich Wahrnehmungsprozesse
durch die folgende Konstellation funktionaler Eigenschaften
charakterisieren:
- Sie sind allen Individuen allein auf Grund ihrer biologischen
Ausstattung in derselben Weise zugänglich, bzw. variieren auf Grund
physiologischer Gegebenheiten (Sehschwäche, Taubheit u.a.), die sich
der individuellen oder sozialen Manipulierbarkeit im allgemeinen
entziehen.
- Sie konstituieren einen unaufhebbaren Polyzentrismus: weil jedes
Individuum eine eigene Wahrnehmungsperspektive aufrechterhält und
seine Perzeptionen mit Hilfe seiner je eigenen Vorerfahrungen und
Deutungsmustern organisiert.
- Sie privilegieren das Aktuell-Gegebene gegenüber dem Vergangenen
oder Zukünftigen, das Positiv-Faktische gegenüber dem bloss
Möglichen oder Virtuellen, das Prägnant-Gestalthafte gegenüber dem
Diffus-Unkonturierten, und das Überraschend-Neuartige, das die
Aufmerksamkeit fesselt, gegenüber dem Gewohnt-Selbstverständlichen.
- Sie erzwingen ein "Primat des Kognitiven": in dem Sinne,
dass die Teilnahme am Interaktionsfeld eine permanente Lern- und
Anpassungsbereitschaft gegenüber den Ausdruckskundgaben und
Verhaltensweisen Anderer erfordert (während rein kontrafaktische,
normativ-manipulative Orientierungen in den Hintergrund treten).
- Sie sorgen dafür, dass sich die ganze Vielfalt taktiler,
akustischer, visueller und olfaktorischer Erlebnisqualitäten, die dem
Menschen für seine empirische Welterfahrung schlechthin zur
Verfügung stehen, auch auf sozialer Ebene wiederfindet: so dass
kollokale Individuen immer über eine Mehrzahl teils substitutiver,
vor allem aber komplementärer Emissions- und Empfangskanäle
verfügen, um miteinander in Wechselwirkung und kommunikative
Beziehungen zu treten.
In idealtypischer Reinheit sind die Prinzipien wahrnehmungsgesteuerter
sozialer Systembildung höchstens in jenen ephemeren
Interaktionsverhältnissen annäherungsweise verwirklicht, die - wie z.B.
zufällige Begegnungen in Verkehrsmitteln, Verkaufsläden u.a. - zufällig
entstanden sind und die räumliche Trennung ihrer Teilnehmer nicht
überleben. In allen andern Fällen wird ihre dominante Bedeutung dadurch
eingeschränkt, dass bereits eine alokal stabilisierte Beziehungsebene
(z.B. auf der Basis von Verwandtschaft, Bekanntschaft, Freundschaft,
ethnischer oder ständischer Zusammengehörigkeit u.a.) besteht, mit der
sie in komplizierte, teils komplementäre und teils konfliktive
Interdependenzverhältnisse treten.
Ohne Anspruch auf systematische Vollständigkeit wird im folgenden an
einigen exemplarischen Mechanismen aufgezeigt, auf welch mannigfaltige
Weise kollokale Sozialverhältnisse durch sinnliche Wahrnehmungsprozesse
mitkonstituiert und mitgestaltet werden: und wie umfangreich andererseits
genau dadurch auch ihre Gemeinsamkeiten sind, durch die sie sich von allen
trans- und alokalen Systembildungen unterscheiden.
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