Ein theoretischer Integrationsversuch
(29 Dezember 1996)
DRITTES KAPITEL:
"SINNLICHE WAHRNEHMUNG" ALS
MEDIUM SYSTEMISCHER AUSDIFFERENZIERUNG UND INTEGRATION
3.5 Der Blickkontakt als Ursprung sozialer
Interaktion
Aus der blossen Tatsache, dass jeder Anwesende die Mitanwesenheit,
persönliche Erscheinung und die äusserlich sichtbaren Verhaltensweisen
der andern wahrnehmen kann, pflegen bei weitem noch keine
Interaktionsverhältnisse, sondern nur Geflechte uni- oder bilateraler
"Fremdeinstellungen" (im Sinne von Schütz 1974: 207) zu
entstehen. EGO und ALTER verhalten wechselseitig in der einseitigen Rolle
blosser Beobachter, die sehen, wie der jeweils Andere irgendwelche (rein
private an Dritten orientierte oder höchstens zufällig auf den
Beobachter ausgerichtete) Handlungen vollzieht
Dies ist die Situation von Wohnnachbarn, die unerkannt wechselseitig
ihre Gespräche belauschen, oder die primärste Verbindungsweise zwischen
zwei jungen Partygästen verschiedenen Geschlechts, die sich wechselseitig
interessiert mustern, ohne dies vorerst voneinander zu wissen.
Ebenfalls recht unproblematisch ist die Annahme, dass ein Akteur weiss
(bzw. vermutet), dass er von Anderen wahrgenommen wird, und sich darauf
einstellt, indem es sein Handeln als gezieltes "Fremdwirken"
(wiederum im Sinne von Schütz, 1974:208) intendiert.
Auch dadurch entsteht noch keinerlei Interaktion, sondern bloss
"sozial orientiertes Handeln": z.B. im Falle von Bankettgästen,
die sich gediegen kleiden und perfekter Tischsitten befleissigen, um auf
die jeweils andern keinen ungünstigen Eindruck zum machen, oder bei
Vortragsreferenten, die ihre Rede daraufhin orientieren, beim Publikum
optimales Verständnis und Einverständnis zu erwecken.
Im Falle einer Kongruenz von Fremdwirken und Fremdeinstellung (z.B.
wenn das adressierte Publikum tatsächlich zuhört oder der im Zentrum
allgemeiner Aufmerksamkeit stehende prominente Diskussionsteilnehmer
tatsächlich spricht) liegt zwar eine bilateral symmetrisierte, aber immer
noch keine interaktive Sozialbeziehung vor: weil dies nichts daran
ändert, dass Handlungen nur mit Wahrnehmungen, nicht aber mit anderen
Handlungen, gekoppelt sind (und deshalb ihre wechselseitige
Unabhängigkeit behalten).
"Interaktion" im strengen Sinn herrscht erst dann, wenn zwei
oder mehr Subjekte ihr Wahrnehmungen und Handlungen in einen geschlossenen
Kreislauf interdependenter Relationen eingebettet haben: so dass
- ALTER nicht nur EGO´s Handlung wahrnimmt, sondern auf Grund dieser
Wahrnehmung seinerseits auf EGO reagiert (und umgekehrt),
- EGO und ALTER voneinander wissen (nicht nur vermuten), dass jeder
Partner die Bedingung (1) erfüllt.
Interaktion liegt also vor, wenn die Handlungen verschiedener Individuen
via Wahrnehmung miteinander gekoppelt werden. Soziale Interaktionen
unterliegen also nicht nur einer doppelten, sondern einer dreifachen
Kontingenz, weil Sinn und Wirkung meines Handelns abhängen
- von der Art, wie ich mich selber verhalte,
- von der Art, wie ALTER mein Verhalten wahrnimmt und deutet,
- von der Art und Weise, wie Alter auf der Basis seiner Wahrnehmung
und Deutung auf mein Verhalten reagiert.
Zur Herstellung einer für Interaktionsprozesse hinreichenden
Bedingungskonstellation ist es deshalb notwendig, dass
- wechselseitige Fremdeinstellungen
- wechselseitige intentionale Fremdwirkungen
- wechselseitige Reaktionsbereitschaften
verlässlich (d.h. intersubjektiv erwartbar) miteinander verbunden werden,
obwohl sie ihrer "Natur" nach unabhängig voneinander auftreten
können.
So muss jeder Teilnehmer an einem Zweiergespräch die dreifache
Bedingung erfüllen, dass er (a) seine Voten an den andern adressiert, (b)
den Äusserungen des andern aufmerksam zuhört und (c) seine nachfolgenden
Aussagen an den rezipierten Äusserungen der andern orientiert.
Gerade die verbale Kommunikation konstituiert sich unter der
erschwerten Bedingung, dass Sprechakte und Hörakte vollständig
unabhängig voneinander durch verschiedene Körperorgane erzeugt werden,
und dass Hörakte während ihres Vollzugs praktisch nicht wahrnehmbar
sind: so dass ein Sprecher sich kaum empirisch vergewissern kann, ob beim
Adressaten die Hörbereitschaft (geschweige denn die
Reaktionsbereitschaft) besteht.
Deshalb sind bei verbaler Kommunikation besondere Vorkehrungen sozialer
Erwartungsbildung, Normierung und Kontrolle notwendig, um die Verknüpfung
zwischen rezeptiver, aktiver und reaktiver Fremdeinstellung zu sichern,
und noch mehr: um den Partnern das Vertrauen oder die Gewissheit zu
vermitteln, dass diese Verknüpfung besteht. Zum Beispiel gehört dazu die
Regel, Gesprächssituationen durch Einklammerung zwischen Anfangs- und
Abschlussrituale in zeitlicher Hinsicht deutlich zu markieren, sie als
aufmerksamkeitsabsorbierende Primäraktivitäten zu normieren, die mit
ablenkenden Sekundärtätigkeiten unvereinbar sind, oder relativ häufige
"Verständnis-Kontrollakte" in den Gesprächsfluss einzubauen
(vgl. Goffman 1981: 12ff).
Derartige Vorkehrungen sind voraussetzungsreich und störungsanfällig,
und sie machen kollokale Sozialsysteme von Strukturmechanismen abhängig,
die vom sozio-kulturellen Milieu bereitgestellt werden müssen, da sie
nicht unter den jeweils Anwesenden ad hoc erzeugt werden können.
Die ausserordentliche Bedeutung des Blickkontakts besteht nun eben
darin, dass man mit seiner Hilfe auf viel anspruchslosere, ja teilweise
sogar völlig unvermeidliche Weise zu interaktiven Sozialbeziehungen
gelangt: weil ein und derselbe Akt gleichzeitig alle drei notwendigen
Dispositionen in sich trägt und sinnlich wahrnehmbar zum Ausdruck bringt:
- Als Wahrnehmungsakt dient der Blick (im Dienste der rezeptiven
"Fremdeinstellung") ähnlich wie das Hören oder Riechen
dazu, über eine andere Person sinnliche Erfahrungen zu gewinnen.
- Als Handlungsakt ist der Blick ein äusserlich sichtbares
selbstgewähltes Verhalten, durch das der Akteur kundtut, an wen er
sein momentanes Interesse richtet, und der Angeblickte Gewissheit
erhält, dass und von wem er wahrgenommen wird.
- Als Kommunikationsakt kann ein zwischen EGO und ALTER getauschter
Blick jedem Partner die Gewissheit vermitteln, dass der jeweils andere
wahrnimmt, dass er wahrgenommen wird: so dass das wechselseitige
Auffangen des Blicks ein hinreichendes Mittel ist, um die reziproke
Beziehung zu stabilisieren.
"Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig
einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und
Wechselwirkung von Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken
liegt.
Die Enge dieser Beziehung wird durch die merkwürdige Tatsache
getragen, dass der auf den Andern gerichtete, ihn wahrnehmende Blick
selbst ausdrucksvoll ist, und zwar gerade durch die Art, wie man den
Andern ansieht. Im dem selben Akt, der den andern in sich aufnimmt,
offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein
Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekte preis (Simmel
1908b: 484).
So konstituiert sich der "Blick" an jener Nahtstelle, wo
einerseits die physiologischen Teilsphären des Motorischen und des
Sensorischen miteinander verkoppelt sind, und wo andererseits die sonst so
weitgehend verselbständigten Sinnsphären der Wahrnehmung, des Handelns
und der Kommunikation ihren gemeinsamen Ursprung haben.
Blickkontakte sorgen dafür, dass sich jene Unvermeidlichkeit und
Unkontrollierbarkeit, die den Wahrnehmungsprozessen eigen ist, zumindest
teilweise auch in die Sphäre des Handelns, Kommunizierens und
Interagierens überträgt: so dass Kollokalsysteme eigentliche
"Katalysatoren der sozialen Systembildung" sind, in denen nicht
nur intersubjektive, sondern interaktive Beziehungen gewissermassen
zwangsläufig (und von strukturellen oder kulturellen Prämissen
weitgehend unabhängig) immer wieder neu entstehen.
Weil seine Wahrnehmungen selber wahrnehmbar sind, ist es dem Blickenden
nicht vergönnt, gegenüber dem Angeblickten als distanzierter Beobachter
in einer reinen Subjekt-Objekt-Beziehung zu verharren; und weil seine
Blicke als selbstgewählte Handlungen ausgelegt werden, engagiert er sich
dem Angeblickten gegenüber als ein autonomes Subjekt, das mit der
Richtung und dem Ausdruck seiner Augen, Absichten, Präferenzen,
Motivationen u.a. zum Ausdruck bringt, und seine Reaktionen auf die
Verhaltensweisen seiner Interaktionspartner verrät.
In ihren übrigen funktionalen Eigenschaften sind visuelle
Interaktionen vor allem zu verbalen Kommunikationsbeziehungen in hohem
Masse komplementär:
- Im Gegensatz zum zeitraubenden sequentiellen Ablauf von Rede und
Gegenrede verlaufen sie "augenblicklich": in dem strikten
Sinne, dass Wahrnehmungsakt, Primärhandlung und Reaktionshandlung
sich uno actu vollziehen, ohne dass im subjektiven Erleben der
geringste Zeitverbrauch spürbar wäre.
Entsprechend sind Augenkontakte wichtig:
- bei sehr kurz dauernden kollokalen Kontakten, in denen es
notwendig ist, in kürzester Zeit eine dennoch sehr
erwartungssichere Interaktion zu konstituieren: z.B. im
Strassenverkehr, wo sich Autofahrer und Fussgänger ausschliesslich
visuell über Vortritt und Vorfahrt verständigen;
- zur simultanen Begleitsteuerung andersartiger, zeitraubender
Interaktion: z.B. während eines Gesprächs, wo der Sprecher über
die Blicke seiner Zuhörer unverzüglich erfahrt, dass, ja sogar wie
er verstanden wurde (Kendon 1967); oder innerhalb verschiedenster
kooperativer Arbeitsprozesse, wo ein kurzer Blick genügt, um
anderen die Bereitschaft oder Aufforderung zu einem neuen
Handlungsschritt zu signalisieren.
- Blickkontakte wirken im sozialen Sinne äusserst selektiv, weil der
Zwang zur okularen Fokussierung bewirkt, dass der Unterschied zwischen
einer angeblickten und einer nicht angeblickten Person überaus
deutlich in Erscheinung tritt: während die mangelnde Fokussierbarkeit
akustischer Äusserungen zur Folge hat, dass die Differenzierung
zwischen "angesprochenen" und "nicht
angesprochenen" Anwesenden unklar bleibt, wenn die nötigen
Spezifikationen nicht verbal mitexpliziert werden. Deshalb pflegen
sich Sprecher und Angesprochene meist gegenseitig anzublicken, um sich
ihrer interaktiven Bezogenheit in einem grösseren Kreise
Mitanwesender zu vergewissern.
Überhaupt wirken Blickkontakte überaus differenzierend auf kollokale
Felder ein: indem sie sie aus dem ungeordneten multilateralen Geflecht
"nicht-zentrierter Kommunikation" scharf profilierte
Bilateralbeziehungen aussegregieren. Zur Vermeidung solcher
Fragmentierwirkungen ist es deshalb notwendig, visuelle Fokussierungen
eher zu vermeiden und ein "ungeordnetes Wirrwarr von Blicken"
(vgl. Goffman 1971: 146) aufrechtzuerhalten.
- Wie alle andern nicht-verbalen Gesten sind Blicke in sachlicher
Hinsicht eher unselektiv: weil sie trotz subtiler mimischer
Ausdruckstechniken zu wenig differenzierbar sind, um dem Angeblickten
präzise, inhaltsreiche Informationen zu vermitteln. Deshalb muss
meist ein Rahmen gemeinsamer semantischer Vorverständigungen
vorgegeben sein, damit die Partner sicher sein können, was ein Blick
in einer gegebenen Situation bedeutet, und welche Schlüsse aus der
speziellen Art, wie man angeblickt wird, gezogen werden können. Um
aus der anspruchslosen Vollziehbarkeit, Schnelligkeit und hohen
sozialen Selektivität von Blickkontakten optimalen Nutzen zu ziehen,
muss man sich deshalb immer in einer konsensual interpretierten
Situation befinden, wie sie für flirtende Paare oder spielende
Fussballmannschaften, unter Strassenverkehrsteilnehmern oder im
Verhältnis zwischen Gästen und Bedienungspersonal
selbstverständlich ist: ebenso wie zwischen homosexuellen Männern,
die mangels übriger Erkennungszeichen besonders häufig auf subtile
Blickkontakte verwiesen sind, um einander zu identifizieren (Goffman
1969: 96).
Wenn dieser semantische Kontext fehlt oder Unsicherheit über ihn besteht,
können Blicke leicht den Charakter sphinxhafter Rätselhaftigkeit oder
versonnener Unergründlichkeit bekommen: wenn es nicht durch begleitende
oder nachgelieferte verbale Kommunikationen gelingt, ihre Bedeutung klar
und überzeugend zu präzisieren.
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