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Ist die Gemeinschaft "europafähig"?
Kritische Anmerkungen zu einem
idealistisch überhöhten Konzept Europäischer Integration.
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Hans Geser
August 1993
.
Wie alle "Gemeinschaften" bindet auch die EG
ihre Mitglieder in eine relativ starre und alternativenarme Ordnung ein,
die zum Pluralismus und zur Dynamik der modernen Gesellschaft in einem
Spannungsverhältnis steht. Im künftigen Gesamteuropa werden offenere
Strukturen mit niedrigerer Zutrittsschwelle erforderlich sein, an denen
auch die Schweiz sich müheloser mitbeteiligen könnte.
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Bibliographische Zitation:
Geser Hans:
Ist die Gemeinschaft "europafähig"? Kritische Anmerkungen zu einem
idealistisch überhöhten Konzept Europäischer Integration . In:
Sociology in Switzerland: World Society and International Relations. Online
Publications.
Zuerich, August 1993.
http://geser.net/eu.htm
1. Beengend-defensive
"Gemeinschaftlichkeit" in einer offenen Weltgesellschaft.
Mit dem Begriff "Gemeinschaft" sind im deutschen
Sprachgebrauch derart viele ideologische Bedeutungsinhalte und emotionale
Wunschprojektionen verbunden, dass es nicht leicht fällt, in
nüchtern-wissenschaftlicher Manier darüber zu sprechen.
Häufig wird darunter ein erstrebenswerter Zustand
kollektiver Zusammengehörigkeit, Solidarität und Konfliktlosigkeit
verstanden, von dem man in nostalgischer Trauer annimmt, , dass er am
ehesten in vorindustrieller Zeit bestanden habe und im Zuge der
Technisierung, Bürokratisierung und Individualisierung unserer modernen
Welt immer weniger realisierbar sei. Der Soziologe Alfred Toennies, der
den Modernisierungsprozess griffig als Wechsel von
"Gemeinschaft" zu "Gesellschaft" bezeichnete, hat
dieser Vorstellung zu breiterer wissenschaftlicher Anerkennung verholfen.
"Gemeinschaft" in diesem analytischen
Wortverständnis bezeichnet eine soziale Ordnung, die sich aus dem
dauerhaften Zusammenleben derselben Partner entwickelt hat und auf einer
Sedimentschicht gemeinsamer traditioneller Glaubensweisen
Wertvorstellungen und Verhaltensregeln beruht. Die Mitglieder sind kraft
fixer Zugehörigkeitskriterien (z.B. lokaler Nachbarschaft) irreversibel
ins Kollektiv eingebunden und unterliegen einem starken
Konformitätsdruck, da sie auf vielfältigste Weise voneinander abhängig
sind und einander in verschiedensten Situationen andauernd wieder begegnen
Mit Hilfe eines stark ausgeprägten "Wir-Bewusstseins"
verstärken sie ihren innren Zusammenhalt und grenzen sich scharf gegen
Aussenstehende ab.
"Gesellschaft" bezeichnet demgegenüber jenen
viel fluideren sozialen Zustand, der sich durch interessengeleitete
Einzelinteraktionen und vertragliche Abmachungen ergibt. Die Partner
können zu jedem Zeitpunkt frei wählen, mit wem sie sich zu welchem Zweck
assoziieren. Dementsprechend werden nur zeitlich begrenzte (bzw. durch
Kündigung reversible) Verpflichtungen eingegangen, die sich auf
spezifische Sachbereiche begrenzen und deshalb auch nicht voraussetzen,
dass die Partner gemeinsame kulturelle Traditionen und Wertvorstellungen
miteinander teilen. Auf Grund dieses drastisch reduzierten Konsensniveaus
besitzen "Gesellschaften" kein scharf begrenztes
"innen" und "aussen", weil je nach Zwecksetzung
beliebige geeignete Partner ins Spiel kommen können und alle Teilnehmer
dauerhaft die Möglichkeit behalten, ihre partikulären Werte und
Zielsetzungen aufrechtzuerhalten.
Dadurch entsteht Raum für den von der heutigen
"Postmoderne" gefeierten Pluralismus, der den Individuen ebenso
wie beliebigen freiwilligen Vereinigungen, Religionen, Ethnien und
Nationalitäten das Recht zur Verfolgung partikulärer
"Sonderwege" und "Alleingänge" zugesteht.
Ein mit den terminologischen und theoretischen Traditionen
seines Faches vertrauter Soziologe kann deshalb nur mit Erstaunen zur
Kenntnis nehmen, dass heute das Projekt einer "Europäischen
Gemeinschaft" als zukunftsweisende, vielerlei Hoffnungen auf sich
ziehende Errungenschaft angepriesen wird.
Nur zwei Möglichkeiten scheinen denkbar: entweder hat
sich die EG eine irreführende Selbstbezeichnung zugelegt, da sie in
Wirklichkeit eher der Promotion "gesellschaftlicher" anstatt der
Konservierung oder Restaurierung "gemeinschaftlicher"
Sozialverhältnisse dient, oder sie trägt ihren Namen zu Recht und muss
sich damit das Verdikt Margret Thatchers gefallen lassen, in Verkennung
aktueller Entwicklungstrends die "Zukunft von gestern"
anzupeilen,
Sicher kann niemand in Abrede stellen, dass die Eu durch
ihre umfassenden Liberalisierungsbestrebungen dazu beiträgt, sowohl die
Individuen wie auch - vielleicht noch ausgeprägter - die Unternehmen und
andere juristische Personen westeuropäischer Länder aus vielfältigen
"Gemeinschaftsbindungen" auf nationaler oder subnationaler Ebene
herauszulösen, ihnen eine alternativenreichere soziale Umwelt verfügbar
zu machen und sie in einen universalistischeren Rahmen der
Supranationalität zu integrieren.
Andererseits ist es aber gleichermassen augenfällig, dass
die EG den Staaten in diametraler Gegenläufigkeit dazu ein
überaus rigides und alternativenloses Integrationskonzept verordnet, das
den für eine "Gemeinschaft" charakteristischen Merkmalen in
fast idealtypischer Weise entspricht.
1. Mitgliederselektion auf der Basis
zugeschriebener Kriterien
In einem Zeitalter, wo dank hochentwickelter Transport-
und Kommunikationstechnologien raumübergreifende transnationale
Interaktionen in früher nie gekanntem Ausmass möglich geworden sind,
wird in der EG das zugeschriebene Merkmal der regionalen Nachbarschaft und
der Zugehörigkeit zum gemeinsamen europischen Kulturraum zum absolut
vorrangigen Integrationsprinzip erhoben. Allen Mitgliedländern wird
abverlangt, ene Aehnlichkeiten und Interdependenzen, die bereits
vorgängig als Folge territorialer Nachbarschaft entstanden sind, zur
Ausgangsbasis einer intentional vertieften und erweiterten supranationalen
Gemeinschaftlichkeit zu machen. Selbst den traditionell eher überseeisch
orientierten Ländern ( z.B. Grossbritannien) wird abverlangt,
innereuropäischen Bindungen den Vorzug zu geben und beispielsweise die
freie Immigration von Griechen oder Portugiesen zu tolerieren, obwohl es
naheliegen würde, dieses Privileg primär den viel näheren
Kulturverwandten aus Kanada oder Neuseeland zuzugestehen.
2. Irreversibilität des Integrationsprozesses
und Unkündbarkeit der Mitgliedschaften
Die EG verbreitet eine Stimmung des "fin d'histoire",
insofern sie sich als Gebilde mit endgültig fixierten Grundwerten und mit
einem kontinuierlich-irreversibel ausdifferenzierten Rahmenwerk an Normen
und institutionellen Einrichtungen versteht, innerhalb dem die Staaten
Europas ihre definitive gemeinsame Heimat finden sollen. Auf rechtlicher
Ebene drückt sich darin aus, dass weder in den primären Römer
Verträgen noch in späteren Erlassen Bedingungen und Verfahren des -
partiellen oder gänzlichen - Austritts aus der Gemeinschaft festgelegt
worden sind, und dass allen neu eintretenden Staaten zugemutet wird, den
zum jeweiligen Zeitpunkt akkumulierten "acquis communautaire"
integral zu übernehmen.
3. Unbegrenzte sachliche Vielfalt der
Integrationsthemen und funktionale Diffusität transnationaler
Interaktionen
Konstitutiv für die EG ist die verbindliche
Willensdeklaration aller Teilnehmerstaaten, ihre Integrationsbeziehungen
von rein ökonomischen Transaktionen und infrastrukurellen Koordination
(in Verkehr, Telekommunikation u.a.) im Zeitablauf auf eine potentiell
begrenzte Vielfalt anderer Sachaspekte (z.B. Bildung, Wissenschaft,
Politik, Militärische Sicherheit u.a.) zu erweitern (Präambel zum
EWG-Vertrag).
Der Europäische Gerichtshof handelt völlig im Geiste
dieser Grundnorm, wenn er im Sinne seiner "teleologischen"
Rechtsauslegung immer so entscheidet, dass ein weiteres Voranschreiten
dieses umfassenden Zusammenwachsens daraus resultiert.
Gegenläufig zu allen Gesellschaftstheorien, die eine
zunehmende Ausdifferenzierung und strukturelle Autonomisierung der
verschiedenen institutionellen Ordnungen dignostizieren, blieb die EG bis
heute auf den "funktionalistischen Irrtum" (Dahrendorf 1991)
einer engen Interdependenz aller Integrationssphären fixiert und kann
sich deshalb nicht darauf einstellen, dass je nach dem zu bewätigenden
Problembereich (Wirtschaft, Kultur, Umwelt, Kriminalität, militärische
Sicherheit usw) völlig unterschiedliche Reichweiten transnationaler
Kooperation erforderlich sind.
4. Hohe Anforderungen an Konsens
Indem sie alle Mitgliedländer auf eine Identifikation mit
den umfassenden Integrationstzielen der Gemeinschaft , auf ein Bekenntnis
zu demokratischer Rechtsstaatlichkeit und striktem wirtschaftlichem
Liberalismus sowie zur Subordination unter eine supranationale
Rechtsordnung verpflichet, hat die EU ein äusserst anspruchsvolles
Konsensniveau fixiert, in dem sich die ideologische Homogenität des
künstlich verkleinerten kontinentalen Westeuropas zur Zeit des
"eisernen Vorhangs" widerspiegelt.
Mit anwachsendem "acquis communautaire" grenzt
sie sich durch immer höhergelegte Eintrittsschwellen nach aussen ab und
nach innen werden immer umfangreichere Vorkehrungen sozialer Kontrolle
notwendig, um die durchgängige Konformität der Mitglieder
sicherzustellen.
Die vielbeschworene "Homogenität es Europäischen
Wirtschaftsraums" ist dabei insofern ein Selbstzweck geworden, als
beim Vollzug einzelner Vereinheitlichungsschritte kein Nachweis darüber
geführt wird, , ob sie ökonomisch wirklich nutzbringend oder gar
unumgänglich sind.
Zum lehrbuchhaft-doktrinären Credo der EG - das
beispielsweise im streng neoklassisch inspirierten "Cecchini-Bericht
(1988) deutlich wird - gehören unter anderem die Ueberzeugungen, dass
(zumindest ausserhalb der Landwirtschaft) mit Kartellbildung in jedem Fall
negative und mit Preiswettbewerb positive gesamtökonomische Wirkungen
verbunden seien, dass Freiheitsrechte uneingeschränkt auch den
juristischen Personen zugesprochen werden sollten und dass die negativen
Begleiterscheinungen dieser zusätzlichen Freiheiten (grösseres
Verkehrsaufkommen, intensivierte Leistungskonkurrenz oder erhöhte
Mobilitätszwänge bei der Suche nach Arbeitsplätzen) den davon
Betroffenen ohne weiteres zugemutet werden könnten.
Mit den Maastrichter Verträgen , in der alle jetzigen und
künftigen Mitgliedstaaten auf eine Zustimmung zur künftigen politischen
Union verpflichet werden, hat die EG den für ihr normales Funktionieren
notwendigen inneren Konsensbedarf nochmals um eine Stufe angehoben.und
sich dadurch auf eigenen Antrieb in eine Situation extrem hoher innerer
Krisenanfälligkeit manövriert.
Im Vergleich dazu muss die EFTA als ungleich
fortgeschrittenere Form zwischenstaatlicher Assoziierung angesehen werden,
weil sie
- die Wirtschaft realistischerwesie als einen stark
autonomisierten Teilbereich der Gesellschaft mit eigenständigen
Integrationsanforderungen behandelt und ihre Mitglieder in reversible
und spezifische Vertragsverpflichtungen einbindet, die keinen
bleibenden Verzicht auf Souveränitätsechte implizieren;
- ihre Akkordierungen an den utilitären Zielsetzungen
und Interessen ihrer Mitglieder ausrichtet und nicht an einem
idealistischen Telos umfassender supranationaler Integration.
2. Risiken und Folgeprobleme
"gemeinschaftlicher" Integration:
1. Verlust aussen- und innenpolitischer
Handlungsoptionen
Als typische "Gemeinschaft" verlangt die EU
von ihren Mitgliedländern , sich konform in ein seit ihrer Entstehung
ständig angewachsene Tradition gemeinsamer Werte, Ziele, Normen und
Regeln ("acquis communautaire") einzufügen,und auch deren
zukünftige Weiterentwicklungen - obwohl sie unvorhersehbar sind -
solidarisch mitzutragen.
Im Lichte der politischen Einigungsziele des
Maastrichter Vertragswerks muss jeder Mitgliedstaat zumindest auf längere
Sicht bereit sein, im Prinzip alle Aspekte seiner nationalen
Souveränität sowie alle seine innenpolitischen Verhältnisse zur
Disposition zu stellen, weil ihm im Beitrittsvertrag nicht gestattet wird,
irgendwelche Sachbereiche dem Zugriff supranationaler Regulierung ein für
allemal zu entziehen. Auch die angestammten Kompetenzen seiner
subnationalen Einheiten (Länder, Kanton, Gemeinden u.s.) vermag er nicht
weiterhin zu garantieren, weil damit zu rechnen ist, dass zukünftige
EU-Erlasse (z.B. über Bildungspolitik, Verkehrswesen,
Submissionsverordnungen etc.) auch deren Iurisdiktionsbereiche affizieren
(Lareida 1991).
Grundsätzlich kann die EU ihren Mitgliedstaaten nicht
einmal die Bestandesgarantien, die ein föderalistisch konstituierter
Bundessaat seinen Gliedern zugesteht, gewähren, weil das Prinzip der
Subsidiarität keine Anerkennung findet (Thürer 1991b:127).
Denn im Gegensatz zu den meisten Bundesstaaten sind die
der obersten (in diesem Fall: supranationalen) Entscheidungsebene
zugewiesenen Kompetenzen nicht in termini spezifischer Sachbereiche
definiert, sondern in termini sehr generell gehaltener Zielsetzungen
("freier Dienstleistungsverkehr", "Freizügigkeit der
Arbeitnehmer" etc.) definiert, in deren Namen fast beliebige konkrete
Interventionen in die nationale Souveränität legitimierbar sind. (vgl.
z.B. Schindler 1992:205).
Auch unabhängig vom Gelingen einer politichen Einigung
hat allein schon die Realisierung der vier Binnenmarktfreiheiten zur
Folge, dass im Namen wirtschaftlicher Rationalität vielfältigste
Wirkungen ausgelöst werden, die auf alle unsere Lebensbereiche (etwa auf
dfie Belastung der Verkehrswege, die ethnische Duchmischung unserer
Gemeinden und Schulklassen oder auf die Struktur des Mittelstandes) einen
längerfristig nicht abschätzbaren Einfluss haben.
Nur im Rahmen restriktiver "Schutzklauseln" hat
ein Staat die Möglichkeit, temporär einzelne Mitgliedschaftspflichten zu
suspendieren. Als typisch "gemeinschaftlich" erweist sich aber
auch hier der Umstand, dass Schutzklauseln nicht selektiv gegen
Einzelstaaten, sondern bloss pauschal gegen die Einheitsfront aller
übrigen Mitglieder angewendet werden können, und dass dieser das Recht
eingeräumt wird ,auf igrndeiner ganz anderen Sachebene mit "rebalancing
measures" zu reagieren.
Darüberhinaus werden die innerstaatlichen Rechtsordnungen
mit ihrer fein ausbalancierten Mehrebenstruktur (Verfassung, Gesetz,
Verordnung) werden aus den Angeln gehoben, weil jeder spezifische Erlass
der Brüsseler Kommissionen höhere Geltung als die mit höchster
demokratischer Legitimation ausgestattteten Verfassungsgrundsätze
geniesst.
2. Verfestigung eines einheitlichen Wertesystems
Das polyzentrische Europa unabhängiger Einzelstaaten
war die angemessene Organisationsform eines Kontinents , der sich
gegenüber anderen Kulturräumen durch eine extreme Vielfalt und
Variabilität von Wertvorstellungen profiliert.
Kaum lösbare Dauerkonflikte entstehen beispielsweise
daraus, den drei Fundamentalwerten der Aufklärung ("Freiheit",
"Gleichheit" und Brüderlichkeit") zu gleichrangiger
Beachtung zu verhelfen, oder die Forderungen nach zweckhafter Effizienz
mit Ansprüchen auf demokratische Partizipation und individuelle
Selbstentfaltung zu verbinden.
Dank der dezentralen politischen Verhältnisse bot sich
nämlich die Möglichkeit, in verschiedenen kleinräumigen Territorien je
unterschiedliche Prioritätsverhältnisse zwischen diesen Werten zu
realisieren und ihr Rangverhältnis zueinander insgesamt in der Schwebe zu
halten, weil keine Entscheidungen darüber getroffen werden mussten, was
"für Europa als Ganzes" nun wirklich gilt.
So haben die europäischen Nationen etwa bei der
Regulierung ihrer industriellen Arbeitskonflikte und beim Ausbau ihrer
Wohlfahrtseinrichtungen sehr verschiedenartige, auf ihre autochthone
Kultur abgestimmte Wege beschritten; und vielerlei Kartellstrukturen sind
zum Zwecke entatanden, den ökonomischen Leistungsdruck zugunsten
ausserökonomischer Werte in Grenzen zu halten, den Akzent vom Preis- auf
die Qualitätskonkurrenz zu verschieben , einen lebendigen Mittelstand
aufrechtzuerhalten oder ein - der Investitionstätigkeit förderliches -
Klima der Zukunftssicherheit zu erzeugen.
Demgegenüber setzt sich das das institutionell
verfasste Europa der EU selber unter den Zwang, ein einheitliches, in der
Form expliziter Rechtsnormen, Zielprioritäten und Aktionsprogramme
auskristallisiertes System von Werten und Normen zu definieren und im
gesamten supranationalen Geltungsraum konsenspflichtig zu verankern.
Eine genauere Analyse zeigt, dass die EG vorwiegend die
Vorstellungswelt und das Wertesystem Westeuropas der 50er und frühen 60er
Jahre verfestigt hat, als man noch sicher sein konnte, für
Entwicklungswege, die eine allseitige Intensivierung des
Leistungswettbewerbs, ein Anwachsen der Unternehmenskonzentration und eine
horrende Steigerung des Güterfernverkehrs mit sich bringen, einen breiten
politischen Konsens zu finden. Trotz allen Fortentwicklungen im
Europarecht (z.B. im Bereich des Umwelt- und Verbraucherschutzes) sind
diese Basisziele im wesentlichen unverändert geblieben, und es stellt
sich die Frage, ob sie nicht in ein zunehmendes Spannungsverhältnis zu
der um sich greifenden Wertkultur postmaterialistisch-ökologischer
Prägung treten (vgl. z.B. Inglehart 1989).
Langfristig liegt das hauptsächliche "Legitimationsdfefizit"
der EU wahrscheinlich nicht so sehr in ihrem vielbeschworenen Mangel an
Demokratie, sondern - viel fundamentaler - in ihrer Unfähigkeit, im
Rahmen ihres einheitlichen institutionellen Regelwerks der Vielfalt und
Dynamik (post-) moderner Wertvorstellungen Rechnung zu tragen.
3. "Europazugehörigkeit" wird zur
scharfen Ja-Nein - Alternative
Zu den unbestreitbaren Vorteilen eines
"vorinstitutionellen", rein nationalstaatlich konstituierten
Europa gehörte auch, dass man sich seine geographischen Grenzen Europas
unscharf und fliessend denken konnte, weil es beispielsweise nicht
notwendig war, den territorialen Geltungsbsereich formeller Gesetzesnormen
oder das Iurisdiktionsgebiet supranationaler Organisationsinstanzen
präzis zu definieren.
Dies entspricht den faktischen Gegebenheiten eines
Kontinents, der insbesondere nach Osten und Südosten hin keine sich
heraushebenden "natürlichen Grenzen" besitzt, und dessen
kulturelle Ausstrahlung sich auf viele periphere Staaten erstreckt, die
sich - wie z.B. die Türkei und Russland - in wesentlichen Aspekten als
"nichteuropäisch" verstehen.
Mangels formeller "Beitrittszwänge" blieb es
der wechselnden Selbstdefinition solcher peripherer Staaten und
Gesellschaften überlassen, ob, wie weitgehend und in welcher Hinsicht sie
sich dem europäischen Raum zugehörig fühlten,.
In einem supranational organisierten Europa wird das
"Bekenntnis zu Europa" aber immer mehr gleichbedeutend mit einem
"Bekenntnis zur EU": und gewinnt dadurch die scharfen Konturen
einer Ja/Nein - Entscheidung, die von den entsprechenden Ländern die
schmerzhafte Fundamentalentscheidung verlangt, entweder zusammen mit dem
EU-Mitgliedschaftsstatus auch die Gesamtheit der damit verbundenen Werte
und Regelbestände mitzuübernehmen oder aber in einer fundamentaleren und
sichtbareren Weise, als dies früher hätte der Fall sein müssen, "ausserhalb
Europas" zu verbleiben (vgl. z.B. Freiburghaus/Zbinden 1991).
So sieht sich auch die Schweiz mit der Frage des
EU-Beitritts vor eine politische Metaentscheidung von unüberblickbarer
Tragweite gestellt, die einerseits einer maximalen (demokratischen
Legitimation bedarf, andererseits aber kaum einer rationalen Diskussion
zugänglich ist.
Solange ein Land - im Stil klassischer Staatsverträge -
seine transnationalen Beziehungen auf sachspezifisches und reversible
Engagement zu selbstgewählten Partnern beschränkt, bestehen günstige
Voraussetzungen für eine rational betriebene Aussenpolitik, die sich an
differenzierten Situationsanalysen und Kosten-Nutzen-Abwägungen
orientiert. Es gibt dann die Möglichkeit, über jeden einzelnen
Vertragsabschluss separat Expertisen einzuholen sowie weitläufige
Vernehmlassungen, Parlamentsdebatten und öffentliche
Meinungsbildungsprozesse stattfinden zu lassen - was wiederum gute
Bedingungen dafür schafft, dass der Staat nachher voll zu seinen
Verpflichtungen steht.
Mit einem Beitritt in die "Gemeinschaft" sind
hingegen derart vielfältige neue Rechte und Pflichten, Chancen und
Risiken sowie Vor- und Nachteile verbunden, dass es unmöglich ist, sie
integral zu überblicken oder gar in einem einheitlichen Kalkül
miteinander aufzurechnen.
So sind es dann eher unberechenbar schwankende
Stimmungskonjunkturen der "Europhorie" vs.
"Europhobie", die den politischen Gang der Europa-Diskussion
bestimmen - durchsetzt mit sachlich verengten Einzelkontroversen (z.B.
über mittelfristige Auswirkungen auf die Ausländerquote oder den
Grundstückmarkt), die mit der Komplexität der anstehenden
Gesamtproblematik in einem grotesken Missverhältnis stehen.
An die Staatsrechler ergeht die Frage, wie es mit der
formellen Gültigkeit einer Abstimmungsvorlage bestellt ist, die das
bewährte Prinzip der "Einheit der Materie" in derart
drastischer Weise verletzt.
4. Erzeugung neuer Risiken für Spannungen und
Konflikte
Zu den Wurzeln des Europäischen Gemeinschaftsgedankens
gehört der plausibel anmutende Alltagsglauben, dass die Einbindung der
europäischen Staaten in möglichst dichtgewobene Beziehungsnetze
zumindest eine notwendige, wenn nicht gar eine hinreichende, Bedingung
dafür sei, um in Zukunft sowohl innereuropäische Konflikte wie auch
Konflikte zwischen Europa und der übrigen Welt weitgehend zu verhindern.
In soziologischer Sicht erscheint dies als eine
sozialromantische Hoffnung, die vielen empirischen Befunden und
stichhaltigen theoretischen Argumenten widerspricht.
So ist im Gefolge Georg Simmels immer wieder darauf
hingewiesen worden, dass im Rahmen sehr enger, funktional-diffuser und
dauerhafter Sozialbeziehungen ungleich intensivere konfliktive
Auseinandersetzungen mit grösseren Schadenswirkungen auftreten können
als in lockeren Sozialverhältnissen, die sich auf begrenzte
Zeitabschnitte und spezifische Sachbereiche beschränken.denn
- Je vielfältiger die Beziehungen und
Interdependenzen, in denen bestimmte Akteure zueinander stehen,
desto grösser sind die Risiken, dass in mindestens einem der
zahlreichen Sachbereiche ernsthafte Unstimmigkeiten entstehen.
- Je tiefgreifender und umfassender
Interaktionspartner miteinander in Beziehung stehen, desto eher
wird auf deviantes Verhalten mit schwerwiegenden Sanktionen
reagiert, da die davon betroffenen Partner sich in sehr zentralen
Aspekten ihrer Existenz und Umweltsituation geschädigt fühlen.
- Je irreversibler und exklusiver bestimmte
Partner miteinander verbunden sind, desto ausschliesslicher bleibt
ihnen bloss die aktive Auseinandersetzung, um Unstimmigkeiten zu
lösen, da ihnen die Möglichkeit fehlt, auszutreten und sich
alternative Interaktionspartner zu suchen. (vgl. z.B. Simmel
1908:208ff; Coser 1956: 67ff.)
Stellvertretend für unzählige andere
historische Illustrationsbeispielse seien hier bloss die antiken
griechischen Stadtstaaten im 5. und 4. Jahrhunderts vor Chr. )
erwähnt, die im Gefolge ihrer wachsenden ökonomischen
Verflechtungen und kulturell-religiösen Beziehungen keineswegs zu
einer Friedensordnung gelangten, sondern im Gegenteil immer
häufiger (und erbitterter) Krieg miteinander führten. (vgl. Holsti
1988,36ff.)
Zwar stellt man fest, dass innerhalb von Gemeinschaften ein unverhältnismässig grosser Aufwand betrieben wird, um offene
Konflikte zu vermeiden; aber bei genauerem Hinsehen erweisen sich solche
Aktivitäten eben gerade nicht als Ausdruck einer immanenten Harmonie,
sondern eher im Gegenteil: als unablässig notwendige Anstrengungen, um
dem Ausbruch ständig drohender Konflikte vorzubeugen.
Hinzu kommt, dass Gemeinschaften auch mit ihrer
sozialen Umwelt häufig in einem eher konfliktiven Verhältnis
stehen:, weil sie verschärfte Grenzen zwischen "Zugehörigen"
und "Aussenstehenden" erzeugen, und weil es sehr zahlreiche
äussere Bedrohungen gibt, in denen alle Mitglieder sich gemeinsam
betroffen und zu solidarischem Handeln aufgefordert fühlen.
An der schmerzhaften Agonie Jugoslawiens kann man
lernen, dass Jahrzehnte intensiver multinationaler
"Gemeinschaftlichkeit" die Risiken gewaltsamer Konflikte
keineswegs vermindern, sondern im Gegenteil deren Beilegung erschweren:
weil die freie Binnenwanderung zu derartigen Durchmischungen der
verschiedenen Nationalitäten geführt hat, dass Streitigkeiten unter
ihnen nicht mehr durch territoriale Grenzziehungen bereinigt werden
können.
Schlussfolgerungen
Unbestreitbar ist, dass die EU momentan dem Kleinstaat
Schweiz nicht bloss im wirtschaftspolitischen, sondern in viel
umfassenderen Sinne als eine Art "Hegemonialmacht" (Thürer
1991a) gegenübersteht und deshalb unabhängig von unserem "Ja oder
Nein zu Europa" unsere kleinstaatliche Autonomie bedroht.
Jenseits aller spezifischen kurzfristigen Vor- oder
Nachteile scheint sich ein Nichtbeitritt aus dem prinzipiellen Grund
aufzudrängen, weil er in Zukunft mehr Optionen offenlässt als eine
Mitgliedschaft, die einen irreversiblen Verlust an Souveränitätsrechten
(sowie die Inkaufnahme unabsehbarer zukünftiger Soidaritätspflichten und
Anpassungszwänge) impliziert.
In dieser Situation sollte sich die Schweiz wohl auf
einige frühere Maximen ihrer Aussenpolitik besinnen: etwa auf die von
Ex-Botschafter Jolles formulierte Einsicht, dass ein Kleinstaat in
besonderem Masse auf die Pflege breit diversifizierter und reversibel
wandelbarer zwischenstaatlicher Beziehungen angewiesen sei, um seine
Autonomie sicherzustellen.
In der heutigen Praxis würde dies heissen, dass
die Schweiz nicht aus der "Not" ihrer bereits sehr umfassenden
innereuropäischen Verflechtungen eine "Tugend" macht, indem sie
sich auch noch formell in die EU integriert, sondern dass
sie mit allen Mitteln ihre aussereuropäischen Beziehungen fördert, um
gegen das Ueberhandnehmen regional-gemeinschaftlicher Abhängigkeiten eine
kompensative Hebelwirkung zu erzeugen.
Ein "Ja zu Europa" wäre momentan
gleichbedeutend mit einem Ja zu einer von europäischen Anpassungszwängen
verstopften Zukunft, die keine Perspektiven innovativer nationaler
Selbstgestaltung eröffnet und deshalb unserer jüngeren Generation kaum
Anlass für Aufbruchstimmungen bietet.
Gerade weil wir angesichts der unübersichtlich und
erschreckend wechselhaft gewordenen Weltlage weniger als jemals
voraussehen können, was die Zukunft bringt, werden wir umso dringender
daraus angewiesen sein, dann im Vollbesitz politischer Autonomie
unsere eigenen Entscheidungen treffen zu können.
Wer sich heute darüber beklagt, dass es der Schweiz
momentan an nationalen Leitbildern und "Visionen" mangle (Rhinow
1991: 15), muss logischerweise bedenken, dass die von der EG ausgehenden
allseitigen Anpassungszwänge kaum mehr einen gesicherten Spielraum für
autonomes innen- und aussenpolitisches Gestaltungshandeln (wie z.B. für
eine mutige Totalrevision der Bundesverfassung) übrig lassen. Die
Voraussetzungen für eine optimistische neue Aufbruchstimmung wären
ungleich besser, wenn man sich eine von exogenem Reformdruck unbelastete
Zukunft vorstellen könnte, die der Schweiz Raum gibt, um unbehelligt
eigene Strategien zu verfolgen und auch in mancherlei selbstgewählten
Hinsichten ein "Sonderfall" zu bleiben.
In ihrem Abseitsstehen kann die Schweiz Zuversicht
schöpfen aus der Tatsache, dass hegemoniale Zustände sich im Europa der
vergangenen 1500 jahre immer als relativ kurze Episoden erwiesen haben,
und dass die vielgeschmähte "Kleinstaaterei" und zur autonomen
Nationalstaatlichkeit eine im Vergleich zu den mittelalterlichen
Reichsideen modernere, seit der Renaissance und der Reformation
aufblühende Entwicklung darstellt, die mit der beschleunigten
Innovativität der okzidentalen Wirtschaft, Politik und Kultur in engem
Zusammenhang gestanden hat und seit dem Zusammenbruch der Kolonialreiche
eine weltweite Ausbreitung erfuhr.
Nachdem alle historischen Experimente eines
Multinationalitätenstaats (vom Osmanischen Imperium über das
Oesterreich-Ungarische Reich bis zur Sowjetunion) gescheitert sind, vermag
man auch dem Projekt einer politischen Union Europas keine
günstige Prognose zu stellen.
Angesichts der neu auflebenden Nationalismen und
Regionalismen im Osten ist bereits heute absehnbar, dass Europa wieder
jenem politischen Polyzentrismus zustrebt, der diesem wundersam
dynamischen Kontinent vor allem in seinen innovativeren Entwicklungsphasen
immer eigentümlich war, und dass weder der Frieden
noch der Wohlstand im zukünftigen Gesamteuropa wesentlich
davon abhängen, dürfte, mit welchem Eifer am feinziselierten
Gesamtkunstwerk der "Gemeinschaft" weitergebastelt wird. Sehr
viel mehr Bemühungen sollte man heute wohl in den Aufbau paneuropäischer
Institutionen mit viel niedrigeren Zugangsschwellen investieren, die
geeignet sind, im gesamten europäischen Raum zumindest die elementarsten
Bedingungen für fireidliche Koexistenz und ökonomische zusammenarbeit
sicherzustellen.
Die EU selbst wird in diesem weiteren Rahmen wohl kaum als
supranationale Herrschaftsordnung überleben, sondern allenfalls als
Dienstleistungsagentur ihrer Mitgliedländer oder -regionen, die keine
über ihre spezifische Funktion als Zweckverband (vgl. Lepsius 1991)
hinaus keine Einigungsträume mehr verfolgt.
Literaturliste
Coser, Lewis A 1956. The Functions of Social Conflict. London:
Routledge & Kegan.
Dahrendorf, Ralph 1991. "Von der 'Euro-Euphorie' zur
'Euro-Depression'. Gespräch mit R.D.", Tages Anzeiger 2. April: 2.
Freiburghaus, Dieter und Martin Zbinden 1991. "Ein dritter Weg in
der Europapolitik", Neue Zürcher Zeitung 17. April. 23.
Holsti, K.J. 1988 International Politics. A Framework for Analysis,
Prentice Hall, Englewood Cliffs N.J. (5th edition, )
Inglehart, Ronald 1989. Kultureller Umbruch. Wertewandel in der
westlichen Welt. New York/Frankfurt: Campus.
Lareida, Kurt 1991. "Finanzautonomie der Kantone im neuen
Europa", Neue Züricher Zeitung 9. Oktober: 23.
Lepsius, M. Rainer 1991. "Nationalstaat oder Nationalitätenstaat
als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen
Gemeinschaft", S. 19-40 in Staatswerdung Europas?: Optionen für eine
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Verlagsgesellschaft.
Schindler, Dietrich. 1992 "Schweizerischer und Europäischer
Föderalismus." In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und
Verwaltungsrecht 1992, 93, S. 193-223.
Simmel, Georg. 1908. "Der Streit", S. 186-255 in Soziologie,
Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker
& Humblot.
Thürer, Daniel 1991a. "EWR-Vertrag - eine Form legalisierter
Hegemonie?", Neue Zürcher Zeitung 14. Mai: 23.
Thürer, Daniel 1991b. "Der Verfassungsstaat als Glied einer
europäischen Gemeinschaft", S. 50 in Veröffentlichungen der
Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Berlin/New York: Walter de
Gruyter.
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