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Prof. Hans Geser 

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Weltordnung ohne Hegemonien?
Neue globale Beziehungsstrukturen im Spannungsfeld zwischen Kleinstaatlichkeit und internationalen Organisationen
H. Geser, Universität Zürich

Die voranschreitende Fragmentierung der Staatenwelt führt zu Ordnungsproblemen und Leistungsdefiziten, die einen korrelativen Ausbau internationaler Organisationen notwendig machen. Jede Konzeption einer "neuen Weltordnung" muss von der Voraussetzung ausgehen, dass die Durchsetzung staatlicher Territorialherrschaft zukünftig wahrscheinlich nur noch im kleinräumigem Rahmen gelingt.

1. Der Trend zur Kleinstaatlichkeit

Ein weltpolitischer Beobachter musste noch im 19. Jahrhundert angesichts der nationalen Einigungsbestrebungen und der expandierenden Kolonialreiche zu der - neulich noch vom Ethnologen Carneiro ernsthaft vertretenen - Schlussfolgerung gelangen, dass seit der Zeit neusteinzeitlicher Dorfsiedlungen ein konstanter Trend zur Bildung immer grossräumigerer territorialer Staatsordnungen im Gange sei, der evidenterweise erst in einem allumfassenden Weltstaat sein Ende finden würde.
Eine derartige Prognose könnte sich heute immerhin darauf stützen, dass noch nie in der Geschichte solch potente technische und organisatorische Mittel zur grossräumigen politisch-administrativen Integration zur Verfügung gestanden haben, und dass auf Grund der anstehenden überregionalen Problemlagen (im Bereich Frieden, Umwelt, AIDS, Drogenhandel etc.) noch nie so viel Anlass bestanden hat, derart umfassende staatliche Gebilde auch zu realisieren.

Ein Ueberblick über die historischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert und über die aktuellen internationalen Wandlungsprozesse (insbesondere seit 1989) führt aber zu einem völlig anderen Bild.

Sowohl mit der Auflösung der grossen europäisch beherrschten Kolonialreiche wie auch der ambitiösen Multinationalitätenstaaten (Osmanisches Reich, Donaumonarchie, UDSSR, Jugoslawien ) waren Gründungswellen kleinerer und kleinster Staaten verbunden, die praktisch nirgends die Tendenz zeigen , sich erneut zu grösseren politischen Einheiten zu verbinden.

Manches spricht dafür, dass dieser Zerfallsprozess in Zukunft rasch weiter voranschreiten wird, weil in zahlreichen Staaten virulente Sezessionsbestrebungen im Gange sind, die zum Teil auch den zukünftigen Zusammenhalt bisher stabiler Nationen (Kanada, Belgien u.a.) bedrohen. Selbst für die Schweiz stellt sich neuerdings die Frage, ob die wachsenden Forderungen der welschen Kantone nach einer "eigenen Aussenpolitik" noch im Rahmen des binnenstaatlichen Föderalismus - in dem Aussenbeziehungen bisher strikt der Bundesebene zugewiesen wurden - aufgefangen werden können
Demgegenüber sind nationale Vereinigungsprojekte eher selten; und oft handelt es sich dabei um Reissbrettkonstruktionen, die - wie z.B. die Maastrichter-Verträge) in der Bevölkerung wenig Enthusiasmus wecken.
Ueberdies fällt auf, dass die jüngeren Kriege mit wenigen Ausnahmen (Viet Nam!) nicht mehr in dauerhaften Annexionen ihr Ende finden, sondern häufiger in der Bildung neuer Staaten oder allenfalls in der Wiederherstellung des vorgängigen Status quo.

Unter dem Eindruck der extremen Grössen- und Entwicklungsunterschiede in der Staatenwelt gelangt der renommierte Internationalist K. J. Holsti zum Schluss, dass es noch nie in der Geschichte ein Zeitalter gab, in dem Staaten mit derart drastischen Grössenunterschieden derart unbehelligt nebeneinander koexistierten. Insbesondere stellt er fest, dass die Ueberlebens- und Autonomiechancen von Kleinstaaten im Gegensatz zu früher kaum mehr davon abhängen, dass sie eine isolierte, unattraktive geographische Nische besetzen, ein Patronageverhältnis zu einer grösseren Schutzmacht eingehen oder dass sie - wie z.B. die Stadtstaaten des Mittelalters und der Renaissance - von der Uneinigkeit grösserer Drittmächte profitieren

Vielfältige theoretische Ueberlegungen konvergieren in der Schlussfolgerung, dass der Trend zur Kleinstaatlichkeit eine irreversible und langfristig stabile Entwicklung darstellen könnte: so dass es beispielsweise keinen Anlasss dazu gibt, eine neue imperiale Expansionspolitik Russlands zu prognostizieren oder auch nur mit einer Neuauflage jener hegemonialen Strukturen zu rechnen, die für die PAX AMERICANA in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnend waren.

1) Von soziologischer Seite wird argumentiert, dass aus dem unentwegten Voranschreiten globaler Interdependenzen und Homogenisierungen (insbesondere im wirtschaftlich-technischen und Medienbereich) reaktiv-konservierende Dispositionen entstehen, die in einer verstärkten Rückwendung auf ethnische Abstammung, autochthone Lokalkulturen und kleinräumige politische Gemeinwesen (Gemeinden, Regionen u.a.) ihren Ausdruck finden .
Diese Tendenzen kumulieren mit erhöhten Ansprüchen der Bürger(innen), auf die Gestaltung ihrer unmittelbaren Lebensräume direkt Einfluss zu nehmen. Diese in den basisdemokratischen und ökologischen Bewegungen der 70er Jahre wurzelnden Tendenzen haben sich inzwischen auch in konservative Kreise hinein ausgeweitet und geben jenen neuesten Parteibewegungen Nahrung, bei denen sich - wie z.B. bei der oberitalienischen "Lega" oder Jörg Haiders FPö - ultraliberale Ideologieelemente mit regionalistischen Autonomiestrebungen verbinden.

Zu dem mit steigendem Wohlstand anwachsenden Forderungen nach "Lebensqualität" scheint auch zu gehören, dass man auf die Gestaltung der lebensrelevanten Nahwelt wesentlich Einfluss nehmen kann, dass die Verwaltungsbeamten, mit denen man Umgang hat, dieselbe Sprache sprechen oder dass die wachsenden Steuerabgaben im gut überblickbaren Rahmen von Politikern derselben Denkart verwaltet werden.

Generell ist zu bedenken, dass im Staat mit seinem umfassenden Zuständigkeitsanspruch und seiner Emphase auf physischer Gewalt noch Restelemente von feudaler Leibeigenschaft vorhanden sind, die mit der Logik einer "kontraktuellen Gesellschaft", in der reversible, zeitlich limitierte und auf spezifische Rechte und Pflichten eingegrenzte Sozialbindungen dominieren, in ein zunehmendes Spannungsverhältnis treten.
So bleibt möglicherweise kein anderer Weg, als diese diffusen Zwangseinbindungen wenigstens in ihrer territorialen Ausdehnung derart zu begrenzen, dass Herrschende und Beherrschte dieselben kulturellen Werte und Normen teilen und die Partizipation der Bürger(innen) gewährleistet bleibt.

2) Aus polit-ökonomischer Sichtweise (z.B. bei Chase-Dunn) kommt der territorialen Machtentfaltung des Staates heute nicht mehr jene Bedeutung wie im Agrarzeitalter zu, wo der Boden noch die Quelle allen Reichtums war.
Insbesondere können die politischen Eliten bei solchen Bestrebungen heute nicht mehr auf die Unterstützung durch die ökonomischen Eliten rechnen, weil diese angesichts der weltweiten Fungibilität des Kapitals hinreichende Möglichkeiten sehen, ihre wirtschaftlichen Ziele auch ohne politische Unterstützung (z.B. durch Transfer in lohn- oder steuergünstigere Länder) zu erreichen.
Dementsprechend richten sich die strrategischen Ziele staatlicher Politik nicht mehr primär auf die Expansion des Territoriums, sondern auf die Förderung der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung. - was im Regelfall eine starke räumliche Konzentration der Kräfte (für den Aufbau regionaler Infrastruktur und lokaler betrieblicher Organisationen) bedingt.
Die Folge besteht darin, dass Kleinstaaten einerseits keinen Anlass sehen, sich aus ökonomischen Gründen mit grösseren Ländern zu vereinigen, während die grossen Länder dermassen mit inneren Entwicklungsproblemen beschäftigt sind, dass sie zu einem "Primat der Innenpolitik" gedrängt werden und an militärischen Eroberungen jedes (ökonomische) Interesse verlieren.
Wie man am historisch singulären Fall der deutschen Vereinigung lernen kann, sind Zuwächse an Territorium heute eher von zusätzlichen Kosten und Belastungen als von erweiterten Bereicherungschancen begleitet: sei es, weil verseuchte Böden kostspielig regeneriert oder verarmte Bevölkerungsteile in die modernen Gesundheits -und Wohlfahrtssysteme integriert werden müssen.

3) Im Lichte der militärischen Strategieforschung wird (z.B. von Stefan Kux) argumentiert, dass das traditionelle sicherheitspolitische Interesse grosser Staaten, sich durch einen "cordon sanitaire" peripherer Klientenstaaten vor Fremdinvasionen zu schützen, ist heute weitgehend hinfällig geworden sei, weil derartige Pufferstaaten dem Kernland keinen Schutz vor nuklearen Fernlenkwaffen mehr bieten.

(So war die widerstandslose Selbstauflösung der Sowjetunion gemäss Bialer auch dadurch bedingt, dass für die sich verselbständigenden Republiken kaum Verluste an nationaler Sicherheit damit verbunden waren).

Dementsprechend sind die Kleinstaaten davon befreit, als fungible "Manövriermasse" zwischen Machtblöcken zu dienen und sehen sich nicht mehr vor das Dilemma gestellt, ihr Ueberleben durch weitgehende Subordination unter eine Schutzmacht bezahlen zu müssen.

Hinzu kommt, dass selbst die Fremdkontrolle sehr kleiner Staaten mit erheblichen Aufwendungen und Risiken verbunden ist, weil die autochthone Bevölkerung über ein im Vergleich zu früher reicheres Spektrum verschiedener Widerstandsformen (Streiks, Kooperationsverweigerung, Guerilla-Kriegstaktiken usw.) verfügt. Zu den vielfältigen Paradoxien des Nuklearzeitalters gehört, dass es einerseits immer besser möglich geworden ist, fremde Staaten zu bedrohen und zu vernichten, andererseits aber immer schwieriger, sie effektiv und dauerhaft zu kontrollieren.
Selbst die grössten und mächtigsten Staaten, die bisher als Erzeuger und Granten internationaler Ordnungsstrukturen tätig waren, neigen unter diesen Bedingungen dazu, ihre Führungsansprüche aufzugeben und zu einem dem bisherigen Verhalten kleiner Staaten ähnelnden Rollenverhalten überzuwechseln.
Ihre Aussenpolitik fällt vom Niveau langfristig-konzeptueller Strategie auf die Ebene punktuell-reaktiver Einzelaktionen zurück und verliert dadurch die Kraft, den internationalen Raum ordnungsbildend zu durchdringen.
So könnendie jüngeren weltpolitischen Interventionen der Vereinigten Staaten (in Viet Nam, Grenada, Panama, Irak, Somalia, Haiti etc.) kaum als integrierende Bestandteile einer konsistenten weltpolitischen Ordnungsstrategie verstanden werden, die auf einer verlässlichen, langfristig stabilen - politischen oder ökonomischen - Interessenlage aufbauen würde. Viel eher erscheinen sie als Unternehmungen "ohne zureichenden Grund", die mit variablen und mit der nationalen Staatsraison nur locker verknüpften Rechtfertigungen versehen sind und bei Präsidentenwechseln oder bei Wandlungen ideologischer Modetrends leicht wieder aufgegeben werden können.

Für die Kleinstaaten ist der Zerfall von Hegemonialordnungen insofern problematisch, als sie nun nicht mehr die Möglichkeit haben, als "free riders" kostenlos von den kollektiven Sicherheits-und Ordnungsleistungen grösserer Führungsmächte zu profitieren, sondern gezwungen sind, sich in eigener Aktivität um ihnen zusagenden Umweltbedingungen zu kümmern.)

2. Der Aufstieg internationaler Organisationen

Seit der Gründung des höchst erfolgreichen Weltpostvereins in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat ein konsistenter Trend zur Formalisierung und Multilateralisierung zwischenstaatlicher Beziehungen stattgefunden, der in einer zunehmenden Vielfalt und Wirksamkeit von internationalen Vertragswerken, "Regimen" und Organisationen ("IGO's") ihren Ausdruck findet.

In seiner breit angelegten Bestandesaufnahme gelangt Dieter Ruloff bereits 1988 zum Schluss, dass seit dem Zweiten Weltkrieg in allen zehn der von ihm untersuchten Sachbereiche (Politik, Wirtschaft, Kultur, Menschenrechte, Verkehr u.a.) eine Verbesserung in der Intensität, Qualität und Effektivität internationaler Zusammenarbeit stattgefunden habe.

Seit dem Zusammerbruch des Ostblocks hat sich der Entfaltungsspielraum internationaler Organisationen keineswegs nur deshalb erweitert, weil vielerlei Hindernisse weggefallen sind, die in der politisch-militärischen Konfrontation oder in den ideologischen und gesellschaftlichen Unterschieden der beiden Hemissphären ihre Ursache hatten.
Vielmehr hat sich auch der Bedarf nach übernationalen Akkordierungen, Kooperationen und Problemlösestrategien immens erhöht, weil in der nachhegemonialen Welt mit sich selbst beschäftigter, von Problemen sozio-ökonomischer Entwicklung einerseits und ethnisch-kultureller Identitätsfindung andererseits beschäftigter Einzelstaaten klar geworden ist, dass man leistungsfähige überstaatliche Regulierungen und Aktionskapazitäten braucht, um wettzumachen, was den Nationen an Verantwortungsbewusstsein und an Problemlösefähigkeiten fehlt.
So sehen sich neben der UNO, der NATO und der Weltbank auch praktisch alle anderen internationalen Organisationen vor wachsende Leistungsnachfragen gestellt, die sie mangels Ressourcen und Erfahrung bisher häufig nicht zureichend erfüllen.
In immer breiteren Bereichen ihrer inneren Gesetzgebung zeigen sich die Staaten bereit, sich von den Wertorientierungen, Zielperspektiven und konkreten Normsetzungen leiten lassen, die von Weltkonferenzen, internationalen Gerichtshöfen, verschiedensten "epistemischen Expertengemeinschaften" und anderen supranationalen Beratungs- und Entscheidungsinstanzen erarbeitet werden.
In Wechsel vom GATT zur WTO und von der KSZE zur OSZE manifestiert sich das Streben, bisher eher punktuelle Kooperationen auf eine dauerhafte 8und gegenüber der Staatenwelt stärker verselbständigte) Basis zu stellen.

Die erstaunlich dynamische Entwicklung des Europarechts ist nur ein besonders eindrückliches Beispiel für die allgemeinere Erscheinung, dass transnationale Normensysteme auch ohne die Zentralisierung physischer Gewalt extensive und zuverlässige Geltungskraft erlangen können.

Noch weitergehend zeigt sich dies bei den sogenannten "Forum-Organisationen", die e gegenüber ihren Mitgliedern überhaupt keine formale Autorität geltend machen können, sondern sich darauf beschränken, auf das "agenda-setting" und die Meinungsbildung innerhalb der Weltöffentlichkeit Einfluss zu nehmen.
So hat unter ihrem Einfluss insbesondere eine Globalisierung der Menschenrechtsdebatte stattgefunden, die heute praktisch alle Staaten der Erde dazu zwingt, bei ihren positiv-rechtlichen nationalen Legislationen auf die moralisch-naturrechtlich geleitete "Proto-Gesetzgebung" internationaler Gremien Rücksicht zu nehmen

3. Zur Symbiose zwischen Kleinstaaten und IGO's

Vieles spricht dafür, dass es sich bei den Trends zur Kleinstaatlichkeit und zum Ausbau internationaler Organisationen um einander wechselseitig bedingende und verstärkende Komplementärprozesse handelt.
Wenn man beispielsweise bedenkt, dass bereits beim heutigen Bestand von ca. 200 Nationen für eine vollständige bilaterale Vernetzung 40 000 Vertretungen notwendig wären wird offensichtlich, dass den internationalen Organisationen in rasch wachsendem Ausmass die Funktion zukommt, auf viel kostengünstigere Weise den Zugang zu einer grösseren Vielzahl und Vielfalt (wenn auch vielleicht: transitorischeren und zufälligeren) transnationalen Kontakten zu eröffnen.
Jede internationale Organisation schafft zudem immer auch zusätzliche Gelegenheiten für Machtausübung und Einflussnahme, die gerade für kleinere Staaten besonders attraktiv sind, da sie im Regelfall überproportional hohe Stimmengewichte und Teilnahmechancen zugewiesen erhalten.
Vielfach stellt man überdies fest, dass sich anfänglich straff hegemonial dominierte IGO's im laufe der Zeit genötigt sehen, ihren kleineren Mitgliedländern mehr Mitwirkungsrechte zuzugestehen, weil diese durch ihre Dissens- oder Austrittsdrohungen oft ein beachtliches Störpotential geltend machen oder durch Allianzbildung eine hinderliche "Sperrminorität" bilden können.
Ueberdies können kleine Staaten ihren faktischen Einfluss auf innerorganisatorische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse leicht weit über ihre formalen Mitwirkungsmöglichkeiten hinaus steigern, wenn sie sich durch besonders qualifizierte Repräsentanten vertreten lassen und in den diversen Gremien besonders aktiv und kreativ partizipieren.

Vor allem aber scheint es nun möglich, die bisher im unkontrollierbaren internationalen Kräftefeld entstandenen Machtverhältnisse zwischen Staaten zum erstenmal einer absichtsvollen Gestaltung mittels kollektiver Entscheidungen zugänglich werden. Erst unter diesen strukturellen Voraussetzungen wird die Frage sinnvoll, was überhaupt eine "gerechte" Machtverteilung sein könnte, und welchem Gewicht dabei verschiedene Kriterien (Bevölkerungsgrösse, Entwicklungsstand, historische Prärogativen etc.) zugesprochen werden solle.

So besteht die paradoxe Doppelwirkung internationaler Organisationen darin, den grossen Staaten durch Entlastung von regionalen und globalen Verantwortlichkeiten einen verstärkten Rückzug auf introvertierte Binnenpolitik zu ermöglichen und den Kleinstaaten umgekehrt günstigere Zugänge zu (selbst gewählten) internationalen Aktivitäten zu verschaffen.
In dem Masse, wie die letzteren davon Gebrauch machen, werden sie darauf hinwirken, internationale Organisationen aus einseitigen Bindungen an Grossmächte herauszulösen und dadurch in die Lage zu versetzen, in Aequidistanz zu allen Mitgliedstaaten eine von der nationalstaatlichen Ebene grundsätzlich abgelöste Globalorientierung zu kultivieren.

4. Die neue Dualstruktur des internationalen Systems

Die traditionelle internationale Ordnung war eine "Einebenenstruktur" in dem Sinne, dass die zwischenstaatlichen Vertragsbeziehungen und die regionalen und die von den Grosstaaten gebildeten regionalen Ordnungen und "internationalen Regime" weitgehend von den jeweils bestehenden geopolitischen Machtverhältnissen abhängig blieben

Demgegenüber gibt es es seit einigen Jahrzehnten - und verstärkt durch die Umbrüche seit 1989 - vielerlei Anzeichen für das Ueberwechseln zu einer zweistufigen Ordnung , die sich im Spannungsfeld zwischen tendenziell immer kleineren und introvertierteren Einzelstaaten und tendenziell immer leistungsfähigeren internationalen Organisationen konstituiert.

Die Funktion der Staaten besteht offensichtlich darin, zur weiteren Ausdifferenzierung und Leistungssteigerung politischer und gesellschaftlicher Funktionsleistungen (z.B. im Rahmen der Entwicklungs-, Wirtschafts-, Rechts- und Sozialpolitik) beizutragen, den Besonderheiten lokaler Gegebenheiten und ethnischer Kulturen Rechnung zu tragen und den Bürgern Mitwirkungsmöglichkeiten über ihre öffentliche Nahumwelt zu verschaffen.

Komplementär dazu fällt den internationalen Organisationen die Aufgabe zu, die Staaten im Interesse ihrer Integrität und geregelten Koexistenz in umfassendere Normstrukturen zu integrieren, transnationale Transfers und Kommunikationsprozesse zu katalysieren und jene immer vielfältigeren und dringlicheren Probleme anzugehen, die - wie z.B. die Erhaltung ökonomischer oder ökologischer Gleichgewichtszustände - nur im globalen Aktionsrahmen bewältigt werden können.

Daraus folgt, dass man sich die zukünftige internationale Entwicklung gerade nicht als Trend zu grösseren supranantionalen Staatengebilden vorstellen darf. Genau umgekehrt spricht heute alles dafür, dass die "hard ware" politischer Herrschaftsapparaturen zunehmend im dezentralen Kontrollbereich der Einzelstaaten verbleibt, während die internationalen Organisationen trotz ihrer Beschränkung auf "soft law" und andere eher symbolische Interventionsmedien nicht daran gehindert sind, eine immer weitreichende - und heute noch vielfach unterschätzte - Steuerungswirkung zu entfalten.

 


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