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Weltordnung ohne Hegemonien? Die voranschreitende Fragmentierung der Staatenwelt führt zu Ordnungsproblemen und Leistungsdefiziten, die einen korrelativen Ausbau internationaler Organisationen notwendig machen. Jede Konzeption einer "neuen Weltordnung" muss von der Voraussetzung ausgehen, dass die Durchsetzung staatlicher Territorialherrschaft zukünftig wahrscheinlich nur noch im kleinräumigem Rahmen gelingt. 1. Der Trend zur Kleinstaatlichkeit Ein weltpolitischer Beobachter musste noch im 19. Jahrhundert
angesichts der nationalen Einigungsbestrebungen und der expandierenden
Kolonialreiche zu der - neulich noch vom Ethnologen Carneiro ernsthaft
vertretenen - Schlussfolgerung gelangen, dass seit der Zeit
neusteinzeitlicher Dorfsiedlungen ein konstanter Trend zur Bildung immer
grossräumigerer territorialer Staatsordnungen im Gange sei, der
evidenterweise erst in einem allumfassenden Weltstaat sein Ende finden
würde. Ein Ueberblick über die historischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert und über die aktuellen internationalen Wandlungsprozesse (insbesondere seit 1989) führt aber zu einem völlig anderen Bild. Sowohl mit der Auflösung der grossen europäisch beherrschten Kolonialreiche wie auch der ambitiösen Multinationalitätenstaaten (Osmanisches Reich, Donaumonarchie, UDSSR, Jugoslawien ) waren Gründungswellen kleinerer und kleinster Staaten verbunden, die praktisch nirgends die Tendenz zeigen , sich erneut zu grösseren politischen Einheiten zu verbinden. Manches spricht dafür, dass dieser Zerfallsprozess in Zukunft rasch
weiter voranschreiten wird, weil in zahlreichen Staaten virulente Sezessionsbestrebungen
im Gange sind, die zum Teil auch den zukünftigen Zusammenhalt bisher
stabiler Nationen (Kanada, Belgien u.a.) bedrohen. Selbst für die Schweiz
stellt sich neuerdings die Frage, ob die wachsenden Forderungen der
welschen Kantone nach einer "eigenen Aussenpolitik" noch im
Rahmen des binnenstaatlichen Föderalismus - in dem Aussenbeziehungen
bisher strikt der Bundesebene zugewiesen wurden - aufgefangen werden
können Unter dem Eindruck der extremen Grössen- und Entwicklungsunterschiede in der Staatenwelt gelangt der renommierte Internationalist K. J. Holsti zum Schluss, dass es noch nie in der Geschichte ein Zeitalter gab, in dem Staaten mit derart drastischen Grössenunterschieden derart unbehelligt nebeneinander koexistierten. Insbesondere stellt er fest, dass die Ueberlebens- und Autonomiechancen von Kleinstaaten im Gegensatz zu früher kaum mehr davon abhängen, dass sie eine isolierte, unattraktive geographische Nische besetzen, ein Patronageverhältnis zu einer grösseren Schutzmacht eingehen oder dass sie - wie z.B. die Stadtstaaten des Mittelalters und der Renaissance - von der Uneinigkeit grösserer Drittmächte profitieren Vielfältige theoretische Ueberlegungen konvergieren in der Schlussfolgerung, dass der Trend zur Kleinstaatlichkeit eine irreversible und langfristig stabile Entwicklung darstellen könnte: so dass es beispielsweise keinen Anlasss dazu gibt, eine neue imperiale Expansionspolitik Russlands zu prognostizieren oder auch nur mit einer Neuauflage jener hegemonialen Strukturen zu rechnen, die für die PAX AMERICANA in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnend waren. 1) Von soziologischer Seite wird argumentiert, dass aus dem
unentwegten Voranschreiten globaler Interdependenzen und Homogenisierungen
(insbesondere im wirtschaftlich-technischen und Medienbereich)
reaktiv-konservierende Dispositionen entstehen, die in einer verstärkten
Rückwendung auf ethnische Abstammung, autochthone Lokalkulturen und
kleinräumige politische Gemeinwesen (Gemeinden, Regionen u.a.) ihren
Ausdruck finden . Zu dem mit steigendem Wohlstand anwachsenden Forderungen nach "Lebensqualität" scheint auch zu gehören, dass man auf die Gestaltung der lebensrelevanten Nahwelt wesentlich Einfluss nehmen kann, dass die Verwaltungsbeamten, mit denen man Umgang hat, dieselbe Sprache sprechen oder dass die wachsenden Steuerabgaben im gut überblickbaren Rahmen von Politikern derselben Denkart verwaltet werden. Generell ist zu bedenken, dass im Staat mit seinem umfassenden
Zuständigkeitsanspruch und seiner Emphase auf physischer Gewalt noch
Restelemente von feudaler Leibeigenschaft vorhanden sind, die mit der
Logik einer "kontraktuellen Gesellschaft", in der reversible,
zeitlich limitierte und auf spezifische Rechte und Pflichten eingegrenzte
Sozialbindungen dominieren, in ein zunehmendes Spannungsverhältnis
treten. 2) Aus polit-ökonomischer Sichtweise (z.B. bei Chase-Dunn)
kommt der territorialen Machtentfaltung des Staates heute nicht mehr jene
Bedeutung wie im Agrarzeitalter zu, wo der Boden noch die Quelle allen
Reichtums war. 3) Im Lichte der militärischen Strategieforschung wird (z.B. von Stefan Kux) argumentiert, dass das traditionelle sicherheitspolitische Interesse grosser Staaten, sich durch einen "cordon sanitaire" peripherer Klientenstaaten vor Fremdinvasionen zu schützen, ist heute weitgehend hinfällig geworden sei, weil derartige Pufferstaaten dem Kernland keinen Schutz vor nuklearen Fernlenkwaffen mehr bieten. (So war die widerstandslose Selbstauflösung der Sowjetunion gemäss Bialer auch dadurch bedingt, dass für die sich verselbständigenden Republiken kaum Verluste an nationaler Sicherheit damit verbunden waren). Dementsprechend sind die Kleinstaaten davon befreit, als fungible "Manövriermasse" zwischen Machtblöcken zu dienen und sehen sich nicht mehr vor das Dilemma gestellt, ihr Ueberleben durch weitgehende Subordination unter eine Schutzmacht bezahlen zu müssen. Hinzu kommt, dass selbst die Fremdkontrolle sehr kleiner Staaten mit
erheblichen Aufwendungen und Risiken verbunden ist, weil die autochthone
Bevölkerung über ein im Vergleich zu früher reicheres Spektrum
verschiedener Widerstandsformen (Streiks, Kooperationsverweigerung,
Guerilla-Kriegstaktiken usw.) verfügt. Zu den vielfältigen Paradoxien
des Nuklearzeitalters gehört, dass es einerseits immer besser möglich
geworden ist, fremde Staaten zu bedrohen und zu vernichten, andererseits
aber immer schwieriger, sie effektiv und dauerhaft zu kontrollieren. Für die Kleinstaaten ist der Zerfall von Hegemonialordnungen insofern problematisch, als sie nun nicht mehr die Möglichkeit haben, als "free riders" kostenlos von den kollektiven Sicherheits-und Ordnungsleistungen grösserer Führungsmächte zu profitieren, sondern gezwungen sind, sich in eigener Aktivität um ihnen zusagenden Umweltbedingungen zu kümmern.) 2. Der Aufstieg internationaler Organisationen Seit der Gründung des höchst erfolgreichen Weltpostvereins in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat ein konsistenter Trend zur Formalisierung und Multilateralisierung zwischenstaatlicher Beziehungen stattgefunden, der in einer zunehmenden Vielfalt und Wirksamkeit von internationalen Vertragswerken, "Regimen" und Organisationen ("IGO's") ihren Ausdruck findet. In seiner breit angelegten Bestandesaufnahme gelangt Dieter Ruloff bereits 1988 zum Schluss, dass seit dem Zweiten Weltkrieg in allen zehn der von ihm untersuchten Sachbereiche (Politik, Wirtschaft, Kultur, Menschenrechte, Verkehr u.a.) eine Verbesserung in der Intensität, Qualität und Effektivität internationaler Zusammenarbeit stattgefunden habe. Seit dem Zusammerbruch des Ostblocks hat sich der Entfaltungsspielraum
internationaler Organisationen keineswegs nur deshalb erweitert, weil
vielerlei Hindernisse weggefallen sind, die in der
politisch-militärischen Konfrontation oder in den ideologischen und
gesellschaftlichen Unterschieden der beiden Hemissphären ihre Ursache
hatten. Die erstaunlich dynamische Entwicklung des Europarechts ist nur ein besonders eindrückliches Beispiel für die allgemeinere Erscheinung, dass transnationale Normensysteme auch ohne die Zentralisierung physischer Gewalt extensive und zuverlässige Geltungskraft erlangen können. Noch weitergehend zeigt sich dies bei den sogenannten
"Forum-Organisationen", die e gegenüber ihren Mitgliedern
überhaupt keine formale Autorität geltend machen können, sondern sich
darauf beschränken, auf das "agenda-setting" und die
Meinungsbildung innerhalb der Weltöffentlichkeit Einfluss zu nehmen. 3. Zur Symbiose zwischen Kleinstaaten und IGO's Vieles spricht dafür, dass es sich bei den Trends zur
Kleinstaatlichkeit und zum Ausbau internationaler Organisationen um
einander wechselseitig bedingende und verstärkende Komplementärprozesse
handelt. Vor allem aber scheint es nun möglich, die bisher im unkontrollierbaren internationalen Kräftefeld entstandenen Machtverhältnisse zwischen Staaten zum erstenmal einer absichtsvollen Gestaltung mittels kollektiver Entscheidungen zugänglich werden. Erst unter diesen strukturellen Voraussetzungen wird die Frage sinnvoll, was überhaupt eine "gerechte" Machtverteilung sein könnte, und welchem Gewicht dabei verschiedene Kriterien (Bevölkerungsgrösse, Entwicklungsstand, historische Prärogativen etc.) zugesprochen werden solle. So besteht die paradoxe Doppelwirkung internationaler Organisationen
darin, den grossen Staaten durch Entlastung von regionalen und globalen
Verantwortlichkeiten einen verstärkten Rückzug auf introvertierte
Binnenpolitik zu ermöglichen und den Kleinstaaten umgekehrt günstigere
Zugänge zu (selbst gewählten) internationalen Aktivitäten zu
verschaffen. 4. Die neue Dualstruktur des internationalen Systems Die traditionelle internationale Ordnung war eine "Einebenenstruktur" in dem Sinne, dass die zwischenstaatlichen Vertragsbeziehungen und die regionalen und die von den Grosstaaten gebildeten regionalen Ordnungen und "internationalen Regime" weitgehend von den jeweils bestehenden geopolitischen Machtverhältnissen abhängig blieben Demgegenüber gibt es es seit einigen Jahrzehnten - und verstärkt durch die Umbrüche seit 1989 - vielerlei Anzeichen für das Ueberwechseln zu einer zweistufigen Ordnung , die sich im Spannungsfeld zwischen tendenziell immer kleineren und introvertierteren Einzelstaaten und tendenziell immer leistungsfähigeren internationalen Organisationen konstituiert. Die Funktion der Staaten besteht offensichtlich darin, zur weiteren Ausdifferenzierung und Leistungssteigerung politischer und gesellschaftlicher Funktionsleistungen (z.B. im Rahmen der Entwicklungs-, Wirtschafts-, Rechts- und Sozialpolitik) beizutragen, den Besonderheiten lokaler Gegebenheiten und ethnischer Kulturen Rechnung zu tragen und den Bürgern Mitwirkungsmöglichkeiten über ihre öffentliche Nahumwelt zu verschaffen. Komplementär dazu fällt den internationalen Organisationen die Aufgabe zu, die Staaten im Interesse ihrer Integrität und geregelten Koexistenz in umfassendere Normstrukturen zu integrieren, transnationale Transfers und Kommunikationsprozesse zu katalysieren und jene immer vielfältigeren und dringlicheren Probleme anzugehen, die - wie z.B. die Erhaltung ökonomischer oder ökologischer Gleichgewichtszustände - nur im globalen Aktionsrahmen bewältigt werden können. Daraus folgt, dass man sich die zukünftige internationale Entwicklung gerade nicht als Trend zu grösseren supranantionalen Staatengebilden vorstellen darf. Genau umgekehrt spricht heute alles dafür, dass die "hard ware" politischer Herrschaftsapparaturen zunehmend im dezentralen Kontrollbereich der Einzelstaaten verbleibt, während die internationalen Organisationen trotz ihrer Beschränkung auf "soft law" und andere eher symbolische Interventionsmedien nicht daran gehindert sind, eine immer weitreichende - und heute noch vielfach unterschätzte - Steuerungswirkung zu entfalten.
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