UNIVERSITY OF ZURICH - INSTITUTE OF SOCIOLOGY
Prof. Hans Geser 

 

Elementare soziale Wahrnehmungen
und Interaktionen

Ein theoretischer Integrationsversuch

(29 Dezember 1996)

 


 

FÜNFTES KAPITEL:

PRINZIPIEN DER STRUKTURBILDUNG UND SOZIALEN GESAMTORDNUNG KOLLOKALER SYSTEME


5.1. Einleitung

Die klassische Grundfrage "Wie ist soziale Ordnung möglich?", kann keinesfalls unabhängig davon beantwortet werden, unter welchen räumlichen Bedingungen sich interpersonelle Verhältnisse und kollektive Systembildungen konstituieren. Zwar wird überall dasselbe Arsenal von strukturbildenden Mechanismen (Erwartungen, Normen, Rollen, Autorität, Führung, Sanktionierung u.a.) verwendet, um sowohl einzelnen interpersonellen Beziehungen als auch der Gesamtordnung eines Sozialsystems Gestalttypik, zeitliche Dauer, präzise Ausgrenzungen, spezifische Zweckinhalte u.a.m. zu verleihen.

Aber diese selben Mechanismen entfalten eine völlig unterschiedliche Funktionalität: je nachdem, ob ihnen als Hauptaufgabe zugewiesen ist, zwischen räumlich getrennten Individuen alokale Referenzverhältnisse oder translokale Interaktionsbeziehungen zu ermöglichen, oder zwischen kollokalen, vielleicht sogar unentrinnbar aufeinander verwiesenen Personen einen "Modus Vivendi" zu stiften.

Im alokalen Fall müssen die Strukturmechanismen primär mit der Aufgabe befrachtet werden, soziale Verhältnisse überhaupt erst zu konstituieren und zu perpetuieren, die es ohne sie in keiner Weise gibt und die beim Aufhören ihrer Wirksamkeit wieder spurlos verschwinden.

So müssen bekanntlich physische Externalisierungen (z.B. schriftliche Kodifikationen, Embleme, Repräsentativbauten u.a.) aktiviert werden, damit sich eine raumenthobene soziale Institution (z.B. Kirche) oder ethnische Gruppe (z.B. Judentum) bei ihren verstreuten Mitgliedern und Lokalgruppen überhaupt sinnlich wahrnehmbar repräsentiert (vgl. 4.3); und psychische Internalisierungen (z.B. die Sozialisation von Normen, kollektiven Typifikationen, Ideologien u.a.) sind notwendig, damit ferne Emigranten ihre Identifikation mit ihrem Heimatland oder Diaspora-Protestanten ihre Referenzbeziehung zu ihrer Konfession nicht völlig verlieren (vgl. 4.4).

Im translokalen Fall erfüllen die Strukturmechanismen in erster Linie die dispositive Funktion: durch Vorgabe präziser Enkodierungs- und Dekodierungsregeln und durch Einsatz generalisierter Motivationsmedien (wie z.B. Liebe, Geld, Wahrheit, Macht) sicherzustellen, dass auch bei völligem Fehlen interpersoneller Wahrnehmungen erfolgreiche Kommunikation und Interaktion stattfinden kann (vgl. 4.3). So müssen im Briefverkehr stehende Partner sowohl die exogenen Regelungen des konventionellen Sprachgebrauchs wie auch die endogenen, in ihren früheren Zusammenkünften fixierten Strukturparameter (über Form und Inhalt ihrer Sozialbeziehung) verstärkt in Anspruch nehmen, wenn sie Wert darauf legen, dass ihre Botschaften in voraussehbar-adäquater Weise verstanden (und beantwortet) werden.

Ausschliesslich im dritten, kollokalen Fall schliesslich besteht die Besonderheit, dass mancherlei interpersonelle Beziehungen auf Grund der physikalischen, physiologischen, sensomotorischen, psychischen und auch symbolisch-kommunikativen Wechselwirkungen der beteiligten Individuen bereits generiert sind, bevor selektive Strukturmechanismen wirksam geworden sind: bzw. sich leicht gegen derartige Mechanismen in oft elementar-unkontrollierbarer Weise durchsetzen können.

Unter solchen Voraussetzungen kommt der sozialen Strukturbildung hauptsächlich die regulative Funktion zu: die "Rohmasse" derartiger Wechselwirkungen gewissen disziplinierenden Schranken zu unterwerfen und/oder derart auszudünnen, dass es den Teilnehmern besser gelingt, ihre Ansprüche auf individuelle Autonomie einerseits und/oder auf normative Konformität andererseits ohne Verlassen des Kollokalfeldes verwirklichen zu können.

Im ersten Teil dieses abschliessenden Kapitels soll versucht werden, diese allen Kollokalsystemen gemeinsame Eigenheit, Felder verdichteter und relativ unvermeidlicher und unkontrollierbarer interpersoneller Wechselwirkungen zu sein, präziser zu charakterisieren, und damit eine Basisproblematik zu identifizieren, auf deren Lösung sich jede systeminterne Ordnungsbildung notwendigerweise bezieht.

Dadurch sind dann die Voraussetzungen geschaffen, um in einem zweiten Schritt jene drei Basisstrategien kollokaler Ordnungsbildung zu diskutieren, die im Hinblick auf die Lösung des primordialen Ordnungsproblems in einem teils substitutiven, teils komplementären Verhältnis zueinander stehen.
 

  1. Soziofugale Vermeidungsstrategien (z.B. "Verkehrsordnungen"), wo es darum geht, durch Maximierung räumlicher und/oder zeitlicher Distanzen möglichst zahlreiche kausalgesetzliche Nichtereignisse (z.B. Nichtkollisionen, Nichtbelästigungen u.a.) zu "produzieren" und durch eine derartige Verdünnung des objektiven Interdependenzfeldes auch die vielfältig-unübersichtlichen Folgewirkungen subjektiver und intersubjektiver Art (Irritation, Aggression, Konflikt usw.) in engen Grenzen zu halten (vgl. 5.3).
  2. Strategien der Desensibilisierung (z.B. "Toleranzordnungen"), die darauf ausgerichtet sind, die Wahrnehmungs- und Reaktionsschwelle für objektive Ereignisse (vor allem unerwarteter und störender Art) derart anzuheben, dass viele davon unbemerkt oder mindestens unthematisiert bleiben (vgl. 5.4).

  3. Strategien der Disziplinierung (z.B. "Höflichkeitsordnungen"), in denen genau umgekehrt versucht wird, den Strom der Wechselwirkungen nicht von der rezeptiven, sondern von der emissiven Seite her zu verdünnen: indem die Teilnehmer durch Aufbietung angestrengter Selbstkontrolle, durch Rückzug in temporäre Passivität oder durch Flucht in routinehaft habitualisierte Verhaltensrituale bestrebt sind, möglichst wenig unkontrollierte Reizwirkungen oder Ausdruckskundgaben auszusenden )bzw. ein durch derartige Ereignisse gestörtes Gleichgewicht zu restituieren) (vgl. 5.5).

 


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